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BERICHT/195: Zwei Jahre Hungerkrise - Hat die internationale Gemeinschaft versagt? (FoodFirst)


FoodFirst Nr. 3/2009
FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte

Zwei Jahre Hungerkrise
Hat die internationale Gemeinschaft versagt?

Andrea Brock und Armin Paasch


2009 übersteigt die Anzahl der chronisch Unterernährten erstmals in der Menschheitsgeschichte eine Milliarde Menschen - trotz einer Rekordgetreideernte im Jahr 2008, trotz gesunkener Nahrungsmittelpreise und trotz zahlreicher internationaler Konferenzen und Initiativen während der letzten zwei Jahre. Hat die Staatengemeinschaft im Kampf gegen den Hunger versagt? In einer FIAN-Dokumentation ziehen die AutorInnen eine erste Zwischenbilanz aktueller internationaler Programme gegen die Hungerkrise.


Gleichgültigkeit gegenüber der Hungerkrise kann man der internationalen Gemeinschaft nicht vorwerfen. Allein seit Juni 2008 haben das UN-Welternährungsprogramm (WFP) 5,1 Milliarden, die Weltbank 2,2 Milliarden, die FAO 347 Millionen und der Internationale Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (IFAD) 241 Millionen US-Dollar für Programme und Maßnahmen gegen die Hungerkrise mobilisiert, eigene und fremde Mittel inbegriffen. Eine koordinierende Rolle nimmt in diesem Konzert inzwischen die High Level Task Force on the Global Food Crisis (HLTF) ein, die im April 2008 eigens durch UN-Generalsekretär Ban Ki-moon eingerichtet wurde. Neben den mit Ernährung befassten UN-Organisationen sind dort auch die Weltbank, der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Welthandelsorganisation (WTO) vertreten.

Sie alle einigten sich im Juli 2008 auf einen gemeinsamen Rahmenaktionsplan (Comprehensive Framework of Action - CFA). Das Papier, das den Regierungen nie zur Entscheidung vorgelegt wurde, enthält durchaus positive Ansätze: So soll etwa der Anteil der ländlichen Entwicklung an der Entwicklungshilfe (ODA), der zwischen 1979 und 2006 von 18 auf 2,9 Prozent abgestürzt war, in den nächsten fünf Jahren wieder auf mindestens zehn Prozent aufgestockt werden. Auch soziale Sicherungssysteme sollen wieder gestärkt werden. Das Problem bei alledem: Wenngleich das Menschenrecht auf Nahrung in dem Dokument genannt wird, spielt es bei den Empfehlungen innerhalb dieser Themenbereiche keine Rolle. Die Krisenprogramme, die seither aufgelegt wurden, spiegeln diese strategische Fehlausrichtung in vollem Maße wider.


Technologie- und Freihandelsglaube ungebrochen

Zu Recht ist die Förderung der Landwirtschaft ein zentrales Element der Krisenstrategie aller zwischenstaatlichen Akteure. Fragwürdig ist jedoch die Zielrichtung. Die Initiative on Soaring Food Prices der FAO hat nach eigenen Angaben "einfache aber effektive Ziele: Saatgut, Dünger, Tierfutter sowie andere landwirtschaftliche Betriebsmittel und Angebote an Kleinbauern zu verteilen". Wenngleich die FAO in ihren Analysen einen Angebotsmangel als Ursache der aktuellen Hungerkrise explizit verneint, verfolgt ihr Krisenprogramm paradoxerweise fast ausschließlich das Ziel der Produktionssteigerung. Die Weltbank bewilligte im Rahmen ihres Global Crisis Response Program (GFRP) seit Juni 2008 521 Millionen US-Dollar für landwirtschaftliche Inputs und "großflächige Bewässerungsprojekte" in 14 Ländern. In den nächsten beiden Jahren will sie ihr gesamtes Landwirtschaftsbudget von vier auf sechs Milliarden US-Dollar anheben. Die Finanzierungsgesellschaft International Finance Corporation (IFC) der Weltbank vergab im Haushaltsjahr 2008/2009 zwei Milliarden US-Dollar Kredite an die Agrarwirtschaft und will diese Summe innerhalb der nächsten Die meisten internationalen Krisenprogramme wurden weitgehend ohne die Beteiligung der betroffenen Menschen entwickelt. FoodFirst 3/09 5 drei Jahre um bis zu 30 Prozent steigern. Das Hauptziel ist nach eigenen Angaben eine stärkere Rolle der Privatwirtschaft und eine Produktivitätssteigerung "durch Hochertragssaatgut, Bewässerungsprojekte, Düngemittelfabriken, und die Wiederbewirtschaftung ungenutzter Ländereien".

Das Problem: Statt die Bauern nach ihren lokalen Bedürfnissen zu befragen, werden Technologiepakete a priori als Patentlösungen angeboten. Wie die Nahrungsmittelhilfe in den 1980er Jahren afrikanischen Konsumenten Brot und Reis aus den Industrieländern erst schmackhaft machte, erschließen aktuelle Programme afrikanische Kleinbauern als künftigen Absatzmarkt für die Saatgut- und Düngerindustrie. Auch das Weltbankziel, in scheinbar "brachliegende Ländereien" zu investieren, lässt vor dem Hintergrund der massiven Landnahmen aufhorchen. Zumal die Absicherung traditioneller Landrechte von Kleinbauern, Indigenen und Pastoralisten, sowie umverteilende Landreformen in den Krisenprogrammen keine Rolle spielen. Dass ausgerechnet die Weltbank einen Dialog mit Regierungen über die aktuellen großflächigen Landkäufe gestartet hat, ist alarmierend. Hatte diese doch seit Mitte der 1990er Jahre weltweit die "Flexibilisierung" von Landmärkten vorangetrieben und dem Ausverkauf von Boden an ausländische Investoren tatkräftig den Boden mitbereitet.

Ebenso problematisch ist das ungebrochene neoliberale Credo der HLTF in Sachen Agrarhandel. Um eine Rückkehr von Entwicklungsländern "zur Selbstversorgung allein aus eigener Produktion und Lagerung" zu verhindern, fordert die HLTF in ihrem Rahmenaktionsplan einen möglichst raschen Abschluss der Doha-Runde in der WTO. Importzölle, Exportsteuern und Subventionen sollen so schnell und gründlich wie möglich gekürzt werden. Die Weltbank entfaltet 2009 in diesem Sinne in 40 Ländern eine intensive Analyse- und Beratungstätigkeit zur Hungerkrise, unter anderem zu den "Implikationen der Krise für Ernährungssicherheit und Handel auf Länder- und regionaler Ebene". Marktöffnungen auf Druck solcher "Beratung" und bilateraler Freihandelsabkommen bergen die große Gefahr, dass Entwicklungsländer in Zeiten niedriger Weltmarktpreise abermals von Importfluten heimgesucht und die angestrebte Stärkung heimischer Landwirtschaft untergraben wird.


Nahrungshilfe: Reformkurs fortsetzen

Eine Aufwertung hat seit 2007 auch die Nahrungsmittelhilfe erfahren. Es ist bemerkenswert, dass das UN-Welternährungsprogramm (WFP) seit Juni 2008 mit 5,1 Milliarden US-Dollar fast zehnmal so viele Mittel gegen die Hungerkrise mobilisieren konnte wie die FAO und IFAD zusammen (588 Millionen), welche unter dem Dach der UNO eher für die strukturelle Hungerbekämpfung und Landwirtschaftsförderung zuständig sind. Gewiss: Eine Aufstockung der Nahrungsmittelhilfe war inmitten der akuten Hungerkrise geboten. Bedauerlich ist allerdings, dass es vergleichbare Aufstockungen nicht für die Bekämpfung der strukturellen Ursachen des Hungers gegeben hat. Als Dumpinginstrument missbraucht, kann Nahrungsmittelhilfe Hungerkrisen zudem mittelfristig verschärfen. Einiges hat das WFP in den letzten Jahren verbessert. Zu würdigen ist, dass der WFP 2008 1,1 Milliarden US-Dollar und damit den Großteil der Nahrungsmittel in Entwicklungsländern selbst eingekauft hat. Die Potenziale für die Landwirtschaft im Süden und auch schiere Kostengründe sprechen dafür, den Anteil der lokalen Beschaffung noch weiter zu erhöhen, wo dies möglich ist.

Grundsätzlich positiv ist auch der Trend weg von Lebensmittellieferungen hin zu direkten Geldtransfers. Der Haken ist es jedoch, dass das WFP im Rahmen von "Geld für Arbeit" Programmen solche Geldzahlungen nur als Gegenleistung für Arbeit auszahlt. Dies gilt noch mehr für die Weltbank, die 2009 soziale Sicherheitsprogramme in 26 Ländern mit 3,06 Milliarden US-Dollar an Krediten und Zuschüssen unterstützt. "Nahrung für Arbeit" und konditionierte Geldtransfers gehören dort zu den Schwerpunkten. Von notleidenden Menschen Arbeitsdienste oder sonstige Gegenleistungen für Nahrungsmittelhilfe oder Geldzahlungen zu verlangen, ist eine grobe Missachtung des Menschenrechts auf Nahrung, das per se bedingungslos jedem Menschen zusteht. Verhängnisvoll ist auch die enge Begrenzung von Geldtransfers und sozialer Sicherheit auf die extrem Armen. Die Erfahrungen in Indien und anderen Ländern haben gezeigt, dass gerade die marginalisierten Bevölkerungsgruppen den administrativen Anforderungen solcher Auswahlverfahren am wenigsten gewachsen sind. Korruption und Klientelismus werden Tür und Tor geöffnet, während Träger von Menschenrechten zu Bittstellern degradiert werden.


Demokratische und menschenrechtliche Kontrolle notwendig

Das Grundproblem der meisten internationalen Krisenprogramme im Kontext der Hungerkrise besteht darin, dass sie weitgehend ohne Beteiligung der von Hunger betroffenen oder bedrohten Menschen entwickelt wurden. Nicht einmal die Parlamente oder Regierungen der Entwicklungsländer wurden einbezogen. Das Menschenrecht auf Nahrung wird in dem Rahmenaktionsprogramm der HLTF zwar erwähnt, die Rechtsansprüche von Unterernährten und die damit einhergehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen von Staaten und zwischenstaatlichen Organisationen kommen in den konkreten Analysen allerdings nicht zum Tragen. Eine Reform der Global Governance muss die demokratische Mitbestimmung und menschenrechtliche Kontrolle deutlich stärken, damit internationale Programme tatsächlich zur effektiven Hungerbekämpfung beitragen.

Armin Paasch ist Handelsreferent von FIAN-Deutschland.
Andrea Brock hat sich im Rahmen eines Praktikums bei FIAN-Deutschland mit internationalen Programmen gegen die Hungerkrise beschäftigt.


Hungerkrise weltweit - Hat die internationale Staatengemeinschaft versagt?

2009 übersteigt die Anzahl der chronisch Unterernährten erstmals in der Menschheitsgeschichte eine Milliarde Menschen. Hat die Staatengemeinschaft im Kampf gegen den Hunger versagt? Die neue Dokumentation von Andrea Brock und Armin Paasch zieht eine Zwischenbilanz der aktuellen internationalen Programme und Maßnahmen gegen die Hungerkrise aus der Perspektive des Menschenrechts auf Nahrung. Die Studie ist zu beziehen in der FIAN-Geschäftsstelle oder steht als kostenloser pdf-Download unter www.fian.de zur Verfügung. Erscheinungsdatum: Dezember 2009, Druckfassung: 4,50 Euro.


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Quelle:
FoodFirst - FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Menschenrechte, Nr. 3/2009, Juni 2009, S. 4-5
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Dezember 2009