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BERICHT/247: Sozialstaat "reloaded" - Mit den Tafeln zurück zur Armenfürsorge (FoodFirst)


FoodFirst Nr. 3/2011
FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte

Sozialstaat "reloaded"
Mit den Tafeln zurück zur Armenfürsorge?

Gerd Pohl


Mit "Tafeln" hat sich ein Sammelbegriff für verschiedene Formen meist freiwilligen Engagements in Lebensmittelausgabestellen für Bedürftige etabliert. Die Zahl der regelmäßigen Tafelnutzer ist nach aktuellen Schätzungen im Jahr 2011 weiter auf etwa 1,3 Millionen jährlich gestiegen. Hinzu kommen weitere Träger, die Nahrungsmittel verteilen oder Essen an Bedürftige ausgeben, so dass die Zahl der Haushalte, die regelmäßige Nahrungsmittelhilfen erhalten, inzwischen auf ca. zwei Millionen angestiegen ist.


Die Gründe sind vielfältig: Armut trotz Arbeit, zu geringe Renten, unzureichende Grundsicherung bei Langzeitarbeitslosigkeit und im Alter, Überschuldung etc. Besonders skandalös ist die Kinderarmut. Die zu geringe Grundsicherung reicht für eine gesunde Ernährung nicht aus. Jeden Tag beginnt der Kampf um das tägliche Essen auf das Neue.

Angesichts der neuen Armut, die trotz sinkender Arbeitslosenzahlen alarmierend hoch bleibt, ist der Erfolg der Tafeln und anderer Essensausgabestellen nicht verwunderlich. Hier müssen die Betroffenen nur einen sehr geringen Beitrag für ein Lebensmittelpaket bezahlen - teilweise stehen die Produkte sogar gratis zur Verfügung. Für viele stellt dieses Angebot eine große Entlastung vom enormen Druck der viel zu niedrigen Regelsätze dar. Weniger Geld für Essen und Trinken bedeutet ganz einfach mehr Geld für Medikamente, Bildungsangebote oder kulturelle Teilhabe. Diesen Nutzen für Betroffene und das Engagement der Freiwilligen gilt es zunächst anzuerkennen. Das ist die eine Seite der Tafeln. Eine Erfolgsgeschichte sind die Tafeln trotzdem nicht!

Die Bundesrepublik ist in doppelter Weise verpflichtet, das Recht auf Nahrung, einen angemessenen Lebensstandard und soziale Sicherheit zu gewährleisten. Einerseits handelt es sich um eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Menschenwürde und Sozialstaatlichkeit, andererseits binden völkerrechtliche Vereinbarungen. Das Urteil zum Existenzminimum des Bundesverfassungsgerichts und die Empfehlungen des UN-Sozialausschusses sprechen eine deutliche Sprache. Die Tafeln können die staatlichen Pflichten niemals ersetzen. Das Ziel Armut abzuschaffen muss ohne Essensausgabestellen zu erreichen sein. Wer alle Menschen als Träger von Menschenrechten ansieht, kann die langen Schlangen vor den Tafeln in ganz Deutschland nicht als Erfolg verbuchen. Deutschland ist ein wohlhabendes Land. Deshalb ist es besonders beschämend, dass Mangelernährung und Hunger keine Einzelschicksale mehr sind und mit den Tafeln die längst überwunden geglaubte Armenfürsorge wieder omnipräsent geworden ist.


Gerd Pohl ist aktiv im AK Recht auf Nahrung in Deutschland.


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Quelle:
FoodFirst - FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Menschenrechte, Nr. 3/2011, November 2011, S. 10
Herausgeber: FIAN-Deutschland e.V., Briedeler Straße 13, 50969 Köln
Tel. 0221/702 00 72, Fax 0221/702 00 32
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Februar 2012