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BERICHT/177: Neue Runde in der Wehrpflicht-Diskussion (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 5 - Dezember 2007
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Der SPD-Vorschlag zur "freiwilligen Wehrpflicht" eröffnet eine
Neue Runde in der Wehrpflicht-Diskussion

Von Stefan Philipp


Als Beobachter des SPD-Parteitags Ende Oktober in Hamburg konnte man sich schon wundern. jahrelang hatte diese Partei heftig über ihre Position zur Wehrpflicht gestritten. Zwei gleich große Pro- und Contra-Teile waren sich gegenüber gestanden, ein Kompromiss eigentlich nicht denkbar. Denn so wenig, wie es "ein bisschen schwanger" gibt, verhält es sich auch mit dieser staatlichen Pflicht - entweder ist man dafür oder dagegen. Diesen Widerspruch löste die SPD mit einem langen Beschluss, der mit überwältigender Mehrheit bei wenigen Gegenstimmen gefasst wurde und dessen Kernsätze lauten:

Wir setzen deshalb auf eine Fortentwicklung der Wehrpflicht, unter Beibehaltung der Musterung und Wehrgerechtigkeit, die die Möglichkeit einer flexiblen Bedarfsdeckung des erforderlichen Bundeswehrpersonals mit einer Stärkung des freiwilligen Engagements in der Bundeswehr verbindet. Wir streben an, zum Dienst in den Streitkräften künftig nur noch diejenigen einzuberufen, die sich zuvor bereit erklärt haben, den Dienst in der Bundeswehr leisten zu wollen." Elegant und geschickt: Die Wehrpflichtbefürworter können behaupten "SPD hält an der Wehrpflicht fest", und die Kritiker werden sagen "SPD setzt Wehrpflicht faktisch aus". Die freiwillige Wehrpflicht als Kompromiss also.

Wie sagte doch der frühere Vorsitzende der anderen großen Partei gerne: "Entscheidend ist, was hinten rauskommt." Sollte sich die SPD mit ihrer Vorstellung durchsetzen, dann wird tatsächlich die faktische Aussetzung der Wehrpflicht "rauskommen". Niemand würde nämlich dann zur Dienstleistung gezwungen, wenn es gelingt, genügend Freiwillige zu finden. Das dürfte angesichts einer dauerhaft hohen Jugendarbeitslosigkeitsquote, Jahrgängen von ca. 400.000 18-jährigen Männern und eines jährlichen Bedarfs von 40.000 Personen, die den neunmonatigen Grundwehrdienst leisten sollen, kein Problem sein, zumal der Dienst auch Frauen offen steht.

Auch wenn für die SPD das Thema Wehrpflicht damit vom Tisch sein dürfte, stellen sich doch eine ganze Reihe von Fragen, teils grundsätzlicher, teils praktischer Art.

Die erste ist die nach der Begrifflichkeit. Wehrpflicht, was heißt das eigentlich? Das Wehrpflichtgesetz beantwortet diese Frage im Paragraph 3: "Die Wehrpflicht wird durch den Wehrdienst oder im Falle des Paragraph 1 des Kriegsdienstverweigerungsgesetzes durch den Zivildienst erfüllt." Legitimiert wird das durch Artikel 12a des Grundgesetzes, der im Absatz 1 bestimmt, dass "Männer ... vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften ... verpflichtet werden" können.

Inhalt und Kern dieser "Wehrpflicht" ist also die Verpflichtung, Kriegsdienst zu leisten. Das Wort "Pflicht" enthält dabei einen moralischen Unterton und wirkt verschleiernd. Wer dieser Pflicht nämlich nicht nachkommt, dem drohen nach dem Wehrstrafgesetz bis zu fünf Jahre Gefängnis.

Aus pazifistischer Sicht wäre es deshalb richtiger, anstatt von Wehrpflicht vom Kriegsdienstzwang zu sprechen. Von einem pazifistischen Standpunkt aus betrachtet wäre Wehrpflicht etwas ganz anderes. Die Pflicht nämlich, sich gegen Unrecht zu wehren. Krieg ist ein solches Unrecht - sogar ein Verbrechen, wie es die Grundsatzerklärung der DFG-VK ausdrückt. Die Vorbereitung dieses Verbrechens ist ebenfalls Unrecht, weshalb Kriegsdienstverweigerung eine Form ist, dieses Unrecht und Verbrechen nicht zu unterstützen. Die staatliche Wehrpflicht ist also ein Kriegsdienstzwang, gegen den es die pazifistisch verstandene Wehrpflicht in Form der Kriegsdienstverweigerung zu setzen gilt.

Daraus ergibt sich übrigens auch, dass der Zivildienst nur eine andere Form des Kriegsdienstzwangs ist - siehe oben, Paragraph 3 WPflG -, gegen den es auch die pazifistische Wehr-Pflicht gibt. Der Zivildienst ist schließlich kein eigenständiger Dienst, sondern hat gesetzessystematisch ausschließlich die Funktion eines Ersatzes.

Dieser Ersatz dürfte sich erledigt haben, wenn die freiwillige SPD-Wehrpflicht Realität werden sollte. Den Zwang zur Zivildienstleistung - für deren Verweigerung auch bis zu fünf Jahre Gefängnis drohen - gibt es ausschließlich für staatlich anerkannte Kriegsdienstverweigerer. Welchen Grund sollten künftig junge Männer noch dafür haben, einen KDV-Antrag stellen, wenn für sie ein obligatorischer Dienst bei der Bundeswehr gar nicht mehr vorgesehen ist. Keinen.

Das scheint nicht allen klar zu sein. So antwortete Rainer Arnold, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und maßgeblicher Initiator der freiwilligen SPD-Wehrpflicht, Mitte Oktober auf eine Anfrage des baden-württembergischen DFG-VK-Landessprechers Klaus Pfisterer: "Nach unserem Modell soll es den zivilen Ersatzdienst weiterhin geben. Dies folgt zwingend daraus, dass wir die Wehrpflicht dem Grunde nach beibehalten wollen. Dann muss es ebenso das Recht auf Kriegsdienstverweigerung und die Möglichkeit des Ersatzdienstes geben."

Mittlerweile scheint aber auch er die Auswirkungen seiner Parteipläne realistischer einzuschätzen. Als Referent bei der Mitgliederversammlung der Zentralstelle KDV Mitte November in Berlin gab er auf Nachfrage zu, dass der Zivildienst dann "natürlich" völlig andere Dimensionen haben werde als heute. Die von ihm genannte Größenordnung von 20.000 - gegenüber heute 60.000 - wäre allerdings eher ein Beleg dafür, dass er gar nicht an die Umsetzung der freiwilligen SPD-Wehrpflicht glaubt. Legt man das aktuelle KDV-Verhalten zugrunde - ungefähr die Hälfte der tauglich Gemusterten verweigert - und sieht den Bundeswehr-Bedarf von jährlich 40.000 Neunmonatsdienern, dann würden 20.000 "Zivis" bedeuten, dass sich fast niemand freiwillig zur Bundeswehr melden würde.

Aber egal, wie man rechnet - klar ist: Den bislang bekannten Zivildienst mit seiner Bedeutung für den Sozialbereich würde es so nicht mehr geben. Auch deshalb wohl entfaltete Arnold bei der Zentralstellen-Versammlung die Vision eines breit gefächerten Dienste-Angebots: "Wir wollen ein gesellschaftliches Projekt 'Freiwilligkeit' organisieren."

Und genau da wird es gefährlich, weil diese Vorstellung weit über die bisherige Verpflichtung im Rahmen der Wehrpflicht/des Kriegsdienstzwangs hinausgeht und sich einer staatlich verordneten allgemeinen Dienstpflicht nähert. Schon heute gibt es die Tendenz, "möglichst viele freiwillige Dienste als Ersatzdienst anzuerkennen", wie Arnold es formulierte.

Tatsächlich wird jungen Männern zurzeit unter bestimmten Voraussetzungen die Leistung eines freiwilligen sozialen oder ökologischen Jahres so angerechnet, dass sie keinen Zivildienst mehr leisten müssen. FSJ/FÖJ werden damit faktisch zu Ersatzdiensten unter dem Dach der staatlichen Wehrpflicht. Arnold als SPD-Vordenker in diesen Fragen sieht einen positiven "gesellschaftlichen Wandel", nach dem soziale Dienste nicht mehr als aus dem Militärbereich "abgeleitete Dienste" verstanden würden.

Das hört sich so schön zivil an, ist bei näherer Betrachtung aber das glatte Gegenteil. Das Grundgesetz verbietet in Artikel 12 aus gutem Grund - wegen der zahlreichen Dienstverpflichtungen Nazi-Deutschlands - Zwangsarbeit und eine allgemeine Dienstpflicht und setzt dagegen "das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen". Nur im Gefängnis ist Zwangsarbeit zulässig - und für Kriegszwecke, eben als Wehrpflicht nach Artikel 12a Grundgesetz.

In der Logik der Verfassung heißt das: Nur wenn die staatliche Existenz auf dem Spiel steht, im Falle eine Angriffs von außen, gegen den sich der Staat verteidigen und dafür auch Vorsorge treffen darf, ausschließlich für diesen Fall werden ansonsten geltende Freiheitsrechte eingeschränkt.

Der zitierte "gesellschaftliche Wandel" bedeutet also eine Abkehr von diesem strikten Regel-Ausnahme-Verhältnis. Gilt bisher ein im Grundgesetz und dabei vor allem in den Grundrechten formuliertes Verständnis, dass der Staat für die Menschen da ist, so dreht sich das um; die Menschen sind dann für den Staat da.

Man mag von dem früheren Verfassungsgerichtspräsidenten und später Bundespräsident gewordenen Roman Herzog halten, was man will. Aber dieser konservative Staatsrechtler brachte es bei seiner Ansprache auf der Kommandeurtagung der Bundeswehr am 15. November 1995 bezüglich der staatlichen Wehrpflicht exakt auf den Punkt: "Die vielfältigen Vorteile für Staat und Streitkräfte reichen aber m.E. nicht als Begründung aus, ebenso wenig wie wolkige Rufe nach mehr Pflichtgefühl der jungen Leute. Die Wehrpflicht ist ein so tiefer Eingriff in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers, dass ihn der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet. Sie ist also kein allgemeingültiges ewiges Prinzip, sondern sie ist auch abhängig von der konkreten Sicherheitslage. Ihre Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung und ebenso die Dauer des Grundwehrdienstes müssen sicherheitspolitisch begründet werden können."

Wie sehr SPD-Mann Arnold mit dem "gesellschaftlichen Wandel" und den dahinter stehenden Gedanken einer Ausweitungstaatlicher Inpflichtnahme richtig liegt, zeigt auch ein Blick in die andere Richtung der Großen Koalition. Die CSU hat Ende September in ihr - "In Freiheit und Verantwortung gemeinsam Zukunft gestalten" überschriebenes - Grundsatzprogramm formuliert: "Die Allgemeine Wehrpflicht bleibt von zentraler Bedeutung für unsere nationale Sicherheitsvorsorge. Angesichts der vielfältigen Gefahren für unsere Sicherheit und aus Gründen der Gerechtigkeit gegenüber der jungen Generation strebt die CSU eine Ausdehnung der Allgemeinen Wehrpflicht zu einer sicherheitspolitisch begründeten Dienstpflicht für Männer, die den Dienst auch im Zivil- und Katastrophenschutz ermöglicht, sowie eine bessere Anrechnung von Freiwilligendiensten an."

Der Nachwuchs der Schwesterpartei ist schon lange auf dem Dienstpflicht-Trip. Bereits im September 2004 hat der JU-Deutschlandrat ein "Plädoyer für eine moderne Dienstpflicht" verabschiedet, in dem sie vorschlägt, "die bisherige allgemeine Wehrpflicht zu einer Dienstpflicht weiterzuentwickeln."

Trübe Aussichten also, was freiheitliche Perspektiven angeht. Der Verzicht auf den allgemeinen und direkten Kriegsdienstzwang wird erkauft mit einem noch übermächtigeren Staat, dem wir alle dienstbar sein sollen. Und der natürlich weiterhin Krieg führen will und das auch tut.

Insofern ist das Modell der freiwilligen SPD-Wehrpflicht auch eine durchaus moderne Variante. Warum will die SPD nicht ganz auf die Wehrpflicht verzichten, wenn doch die Bundeswehr jetzt schon zu 88 Prozent aus Zeit- und Berufssoldaten sowie "Freiwillig länger Wehrdienstleistenden" besteht, aus Freiwilligen also? Weil, so wieder Rainer Arnold, die Freiwilligenwerbung wie in den USA oder Großbritannien "mindestens genauso teuer" ist wie das Wehrersatzwesen mit Kreiswehrersatzämtern und Musterungen. Man muss die potenziellen Soldaten nicht mühsam auf der Straße, vor Schulen und in Einkaufszentren ködern - über die Musterung kommen sie ja ins eigene Haus. Deshalb werden die Kreiswehrersatzämter stärker zu "beratenden Organisationen".

Welche Aufgaben stellen sich angesichts dieser Rahmenbedingungen für Organisationen wie die DFG-VK? Die Mitgliederversammlung der Zentralstelle KDV hat die Richtung schon gewiesen. Alle paar Jahre legt sie eine Rangfolge der Aufgaben in einem moderierten Verfahren fest. Die "Top Five"-Liste, die die Vertreter der 26 Mitgliedsorganisationen zusammen mit Gästen aus dem KDV-Bereich erstellten, lautet: 1. Beratungsangebot erhalten 2. KDV-Beratung anbieten 3. Dienstpflicht verhindern 4. Lobbyarbeit stärken 5. Wehrpflicht abschaffen.

Neben der klassischen Einzelfallhilfe für Ratsuchende im unübersichtlichen Wehrpflichtsystem ist die Verhinderung der Dienstpflicht damit - zu Recht - das Top-Thema.

Es wird also für die KDV-Organisationen darum gehen, weiter für die Abschaffung der Wehrpflicht einzutreten. Das bedeutet, die Aufhebung des Wehrpflichtgesetzes und die Streichung von Artikel 12a Grundgesetz zu fordern. Die freiwillige SPD-Wehrpflicht ist nur ein kleiner und problematischer erster Schritt. Da die Partei froh ist, einen alle Flügel zufriedenstellenden Kompromiss gefunden zu haben, wird sie an das Thema so schnell nicht wieder heranwollen, es allenfalls im nächsten Wahlkampf als "Zucker" für junge Leute verwenden wollen. Die drei kleineren möglichen Koalitionspartner sind da programmatisch weiter und fordern die Abschaffung der Wehrpflicht. Diese Position gilt es zu stärken und festzuklopfen, damit sie sich das nicht gegebenenfalls in Koalitionsverhandlungen abkaufen lassen.

Zweitens gilt es, bei allen Diskussionen über den Ausbau von freiwilligen Diensten "höllisch" aufzupassen. Diese sind das potenzielle Einfallstor für eine allgemeine Dienstpflicht. Die Frage ist deshalb, wie freiwilliges Engagement gefördert werden kann, ohne dass es gleichzeitig in Vorstellungen von staatlichem Zugriff und Verpflichtungsabsichten integriert wird? Zu fragen sein wird immer zuerst nach den ökonomischen Interessen der Dienste-Anbieter. Beispielsweise nehmen schon jetzt FSJ/FÖJ-Anbieter deshalb lieber solche Freiwilligen, deren Tätigkeit als "Ersatz-Ersatzdienst" eingestuft wird, weil sie dann höhere staatliche Zuschüsse erhalten als für "Nur-Freiwillige". Und bei allen Angeboten wird zu prüfen sein, ob sie tarifliche Arbeitsplätze verdrängen. Eine solche Entwicklung haben wir in großem Maßstab über Jahrzehnte im Zivildienst erlebt, Stichwort Arbeitsmarktneutralität.

Stefan Philipp ist Chefredakteur der ZivilCourage und stellvertr. Vorsitzender der Zentralstelle KDV.


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Quelle:
ZivilCourage Nr. 5 - Dezember 2007, S. 8-10
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK e.V.),
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Januar 2008