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BERICHT/239: Wehrpflicht - wieder einmal in der Hand des Verfassungsgerichts (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 21 - I/2009
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Die Wehrpflicht liegt wieder einmal in der Hand des Verfassungsgerichts
Anmerkungen zum Beschluss des VG Köln vom 3. Dezember 2008

Von Werner Glenewinkel


(Red.) Geradezu hartnäckig - aber konsequent und richtig - hält das Verwaltungsgericht Köln daran fest, dass die Wehrpflicht nicht (mehr) mit der Verfassung vereinbar ist. Da es darüber aber nicht selber entscheiden darf, legt es diese Frage - bereits zum wiederholten Mal - dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vor. Nach dessen ständiger Rechtsprechung muss die Wehrpflicht - die kein zwingendes Verfassungsgebot ist, sondern für den Gesetzgeber lediglich eine Option - gerecht und nicht willkürlich durchgeführt werden. Diese Grundvoraussetzung sieht das Kölner Gericht dadurch nicht gegeben, dass durch das Wehrpflichtgesetz "ein so großer Teil von jungen Männern von der Dienstleistungspflicht ausgenommen wird, dass der Grundsatz der Wehrgerechtigkeit verletzt ist." Es stellt fest, dass nach dem Wehrpflichtgesetz jetzt und in Zukunft "nicht einmal jeder zweite Wehrpflichtige, der Wehrdienst leisten könnte, zum Wehrdienst herangezogen" werde, was "mit dem Gebot der staatsbürgerlichen Pflichtengleichheit in Gestalt der Wehrgerechtigkeit nicht vereinbar" sei. Dieses die blanke Willkür ermöglichende und organisierende Gesetz wurde im letzten Jahr vom Bundestag so beschlossen mit den Stimmen der beiden Regierungsfraktionen. Das Verfassungsgericht hat die bisherigen Vorlagebeschlüsse aus Köln jeweils so lange nicht behandelt, bis sie "durch Zeitablauf" erledigt waren; ausgegangen waren sie von Einzelfällen, in denen ein Betroffener gegen seine Einberufung geklagt hatte - war dieser aus dem "wehrpflichtigen Alter herausgewachsen", entfiel die Notwendigkeit der Klärung und Entscheidung.


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Das Verwaltungsgericht (VG) Köln ist der Ansicht, dass die jetzige Ausgestaltung der Wehrpflicht mit dem Grundgesetz (GG) nicht vereinbar sei. Es hat deshalb dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erneut die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Wehrpflicht vorgelegt. Nach Art. 100 GG muss das Bundesverfassungsgericht diese Frage beantworten oder für unzulässig erklären.(1) Es lohnt sich, die Vorgeschichte dieses Beschlusses sowie seine immense juristische Bedeutung genauer zu beleuchten, um dann zu einer politischen Einschätzung zu gelangen.


Die Vorgeschichte des Vorlagebeschlusses

Ein 1982 geborener junger Mann wird im Mai 2002 wehrdienstfähig (T2) gemustert. Sein Antrag auf Zurückstellung im August 2003 wegen des inzwischen begonnenen Studiums wird abgelehnt. Im November 2003 wird er zum Grundwehrdienst im Januar 2004 einberufen. Nachdem sein Widerspruch zurückgewiesen worden ist, erhebt er Klage vor dem Verwaltungsgericht Köln. Er trägt vor, dass sein Studium bereits weitgehend gefördert sei und er auf einen Reservelistenplatz für die Kreistagswahl seiner Partei gewählt worden sei.

Das Verwaltungsgericht hebt im April 2004 den Einberufungsbescheid auf, weil die Einberufung des jungen Mannes willkürlich sei. Es liege zwar keine Wehrdienstausnahme nach § 11 Wehrpflichtgesetz (WPflG) vor, die geltende Einberufungspraxis verstoße aber gegen den Grundsatz der Wehrgerechtigkeit, weil nur noch jeder Dritte und nicht der überwiegende Teil der Wehrpflichtigen einberufen werde.

Die Wehrverwaltung legt gegen dieses Urteil im August 2004 Revision ein. Sie hält die im Urteil des Verwaltungsgerichts enthaltenen statistischen Erwägungen zur Wehrgerechtigkeit vielfach für unzutreffend. Nicht lediglich 15 Prozent eines Jahrgangs Wehrpflichtiger würden zum Wehrdienst herangezogen, sondern 22 bzw. 24 Prozent. Der für die Wehrgerechtigkeit maßgebliche Prozentsatz liege deutlich höher als vom Gericht behauptet.

Jetzt wird auch der Gesetzgeber wach und verabschiedet im September 2004 das 2. Zivildienstgesetzänderungsgesetz, in dem die bisherigen nur administrativ geregelten Wehrdienstausnahmen in Art. 2 zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes aufgenommen werden und damit endlich dem verfassungsrechtlichen Gebot der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung genügen.

Am 19. Januar 2005 entscheidet das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) zugunsten der Wehrverwaltung und hebt das Urteil des Verwaltungsgerichts vom April 2004 auf. Der angegriffene Einberufungsbescheid sei weder willkürlich, noch verstoße er gegen die Wehrgerechtigkeit. Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest, dass dem Grundsatz der Wehrgerechtigkeit keine strikten quantitativen Vorgaben zu entnehmen seien.(2) Dennoch wäre Wehrgerechtigkeit nur gewährleistet, "wenn die Zahl derjenigen, die tatsächlich Wehrdienst leisten, der Zahl derjenigen, die nach Maßgabe der Bestimmungen des Wehrpflichtgesetzes für den Wehrdienst zur Verfügung stehen, zumindest nahe kommt." (S. 15) Eine grundsätzliche Verletzung der Wehrgerechtigkeit kann das Bundesverwaltungsgericht nicht erkennen, und schließlich gelte weiterhin der Satz, "dass der Wehrpflichtige der Rechtmäßigkeit seiner Einberufung nicht entgegenhalten kann, dass andere zu Unrecht nicht herangezogen werden." (S. 20)

Am 15. April 2005 fasst die 8. Kammer des VG Köln den Beschluss, dem Bundesverfassungsgericht die Frage nach der Vereinbarkeit der allgemeinen Wehrpflicht mit dem GG vorzulegen.(3) Es ist derselbe Tenor wie im aktuellen Beschluss vom 03.12.2008. Das sorgt für viel Aufsehen und Unruhe, besonders in der Wehrverwaltung, ohne dass sich am Verfahren etwas ändert. Die Zentralstelle KDV registriert zunehmende Anfragen von Wehr- und Zivildienstpflichtigen, die anknüpfend an die Kölner Entscheidung die Meinung vertreten, nun müsse die Wehrpflicht wegen der gerichtlich festgestellten Ungerechtigkeit doch beendet werden.

Nach der Bundestagswahl im September 2005 kommt es zur Bildung der großen Koalition. Im Koalitionsvertrag heißt es zur Wehrpflicht: "Die Bundesregierung bekennt sich zur Allgemeinen Wehrpflicht. Diese Dienstpflicht ist nach wie vor die beste Wehrform. Sie bestimmt Entwicklung und Selbstverständnis der Bundeswehr und dient der Verklammerung zwischen Streitkräften und Gesellschaft."(4)

Im Herbst 2007 entscheidet die SPD auf dem Hamburger Parteitag, die Wehrpflicht zwar beizubehalten, zwangsweise Einberufungen aber auszusetzen. In dem Parteitagsbeschluss heißt es: "Wir streben an, zum Dienst in den Streitkräften künftig nur noch diejenigen einzuberufen, die sich zuvor bereit erklärt haben, den Dienst in der Bundeswehr leisten zu wollen."(5)

Der Bundestag verabschiedet schließlich im Juni 2008 das Wehrrechtsänderungsgesetz 2008, durch das die Verfügbarkeitskriterien und Wehrdienstausnahmen der Gesetzesregelung von 2003 weiter Bestand haben. Bei den Musterungen werden inzwischen knapp die Hälfte der Gemusterten als "nicht wehrdienstfähig" eingestuft.


Die juristische Bedeutung des Vorlagebeschlusses

Seit dem ersten Vorlagebeschluss vom April 2005 sind bald vier Jahre vergangen. Juristische Entscheidungen sind immer auch von den Änderungen in der Sache und in der Rechtslage abhängig. So auch in diesem Fall.

Der Kläger des ersten Verfahrens war Jahrgang 1982. Bereits im Laufe des Jahres 2007 hatte er die Altershöchstgrenze für die Einberufung überschritten (§ 5 WPflG). Deshalb haben die Beteiligten des damaligen Verwaltungsgerichtsverfahrens die Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt. Damit hatte sich der Vorlagebeschluss vom April 2005 in diesem konkreten Fall erledigt; denn nun gab es kein Verfahren mehr, in dem es auf die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Wehrpflicht angekommen wäre. Konsequenterweise hat die 8. Kammer des Verwaltungsgerichts Köln in diesem Verfahren (8 K 8564/04) den Vorlagebeschluss an das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 13. Mai 2008 aufgehoben.(6)

Böse Zungen behaupten, das Bundesverfassungsgericht habe diese Situation vorhergesehen und seine Terminplanung an diesem Ereignis orientiert, um sich einer Entscheidung in dieser diffizilen Frage zu entziehen. Wie dem auch sei - das Verwaltungsgericht hat sich jedenfalls nicht von seiner sorgfältig gebildeten und ausführlich begründeten Meinung abbringen lassen. Im September 2008 erhebt ein 1989 geborener junger Mann Klage gegen seinen Einberufungsbescheid. Die 8. Kammer des Verwaltungsgerichts Köln möchte wiederum der Klage stattgeben und den Einberufungsbescheid aufheben, weil sie die Rechtsgrundlage, also das Wehrpflichtgesetz in der aktuellen Fassung, mit dem Grundsatz der Wehrgerechtigkeit nach Art. 3 Abs. 1 GG nicht für vereinbar hält. Sie gibt dem Eilantrag des jungen Mannes statt und setzt die Vollziehung des Einrufungsbescheides aus. Sie möchte auch der Klage stattgeben, fasst deshalb den hier zur Diskussion stehenden Beschluss und legt - konsequenterweise - die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Wehrpflicht erneut dem Bundesverfassungsgericht vor.

Damit liegt die Wehrpflicht wieder in den Händen des Bundesverfassungsgerichts. Dort hat sie, wie das Verwaltungsgericht in seiner Begründung sorgfältig darlegt, schon mehrfach gelegen. Deshalb ist für die Zulässigkeit dieses Vorlageschlusses entscheidend, dass "tatsächliche oder rechtliche Änderungen eingetreten sind, die die Grundlage der früheren Entscheidungen berühren und deren Überprüfung nahelegen." Das Verwaltungsgericht nimmt vor allem auf drei Entscheidungen Bezug.

Was sagen die früheren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Wehrpflicht? Ist sie bei diesem höchsten deutschen Gericht in guten Händen?

Am 5. November 1974 entschied der 2. Senat über einen Vorlagebeschluss des Verwaltungsgerichts Saarlouis vom April 1970 zu den Wehrdienstausnahmen in § 11 WPflG (BVerfGE 38, 154). Der Leitsatz lautet: "Die Notwendigkeit, Wehrgerechtigkeit im Inneren ebenso aufrechtzuerhalten wie Verteidigungsbereitschaft des grundrechtsgarantierenden Staatswesens nach außen, fordert eine enge und überschaubare, normative Ausgestaltung der Ausnahmen von der Wehrpflicht." Diesem Erfordernis werde die streitige Norm aufgrund einer verfassungskonformen Auslegung gerecht (S. 168). Es liege somit kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor. Ein gewisses Maß an Ungleichheit sei jeder differenzierenden Regelung eigen: Entscheidend sei, ob dabei verfassungsrechtliche Grenzen der Wertung von Sachverhalten durch den Gesetzgeber beachtet worden seien. Das sei im vorliegenden Fall zu bejahen (S. 167). Die Entscheidung ist einstimmig ergangen. Die Richter Seuffert und Hirsch geben eine abweichende Meinung zur Begründung desselben Ergebnisses ab (S. 171 ff.).

Die nächste Entscheidung (BVerfGE 48, 127) - das sogenannte Postkartenurteil - stammt vom 13. April 1978. Die 1977 von der sozial-liberalen Koalition beschlossene Änderung von Wehrpflicht- und Zivildienstgesetz erlaubte die schriftliche Erklärung an das Kreiswehrersatzamt, sich aus Gewissensgründen der Beteiligung an jeder Waffenanwendung zwischen den Staaten zu widersetzen und deshalb den Kriegsdienst mit der Waffe verweigern zu wollen. Diese Berechtigung wurde mit dem Antritt eines Zivildienstes oder einer als gleichwertig anerkannten Tätigkeit wirksam.

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und einige CDU-geführte Landesregierungen erhoben erfolgreich Organklage vor dem Bundesverfassungsgericht. Das Gesetz wurde für grundgesetzwidrig und nichtig erklärt. Die in diesem Zusammenhang relevanten Überlegungen aus der sehr langen und rechtlich komplizierten Entscheidung lauten:

- Auch eine Freiwilligenarmee ist zur Sicherung der militärischen Landesverteidigung "verfassungsrechtlich unbedenklich". (Leitsatz 1)

- Die allgemeine Wehrpflicht ist Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgedankens, ihre Durchführung steht unter der "Herrschaft des Art. 3 Abs. 1 GG." (Leitsatz 2)

- "Zur Wahrung der staatsbürgerlichen Gleichheit und Wehrgerechtigkeit ist es deshalb auch von entscheidender Bedeutung, dass die Einberufungen nicht willkürlich vorgenommen werden." (S. 162)

Die Entscheidung ist mit 7:1 Stimmen ergangen. Der Richter Hirsch hat in einem ausführlichen abweichenden Votum begründet, weshalb er die angegriffene gesetzliche Neuregelung für verfassungskonform hält (S. 185 ff.). Der Staat werde ohne eine Gewissensprüfung nicht wehrlos. Die allgemeine Wehrpflicht sei kein Verfassungsgebot, sondern "nur" ein einfach-rechtliches Gebot und dürfe nicht mit dem Verteidigungsauftrag der Verfassung identifiziert werden. Das ergebe sich schon daraus, dass auch die Senats-Mehrheit eine Berufsarmee als Alternative für zulässig halte (S. 187).

Die Veröffentlichung der abweichenden Meinungen von Verfassungsrichtern macht klar, dass die Entscheidungen des Gerichts nicht "richtig" im Sinne von wahr sein können, sondern dass sie durch das demokratische Mehrheitsverfahren als richtig akzeptiert werden (müssen). Das ist ein bedeutsamer Unterschied. Er zeigt, dass auch Gegenmeinungen vernünftig, vertretbar und verfassungsmäßig sein können.

Die dritte Entscheidung stammt vom 24. April 1985 und sie ist das Ergebnis veränderter parteipolitischer Konstellationen. 1982 wurde Helmut Kohl durch ein von der FDP unterstütztes konstruktives Misstrauensvotum Bundeskanzler. Im Februar 1984 trat das von der neuen Koalition beschlossene Kriegsdienstverweigerungsneuordnungsgesetz (KDVNG) in Kraft. Ungediente Wehrpflichtige sollten durch das Bundesamt für den Zivildienst anerkannt werden. Für alle anderen Anträge waren weiterhin Prüfungsausschüsse und -kammern zuständig. Der Zivildienst dauerte um ein Drittel länger als der Grundwehrdienst. Im Gesetzentwurf der SPD sollte der Zivildienst vier Monate länger als der Grundwehrdienst dauern.

Diesmal war es die SPD-Bundestagsfraktion mit einigen SPD-regierten Ländern, die das Bundesverfassungsgericht anrief. Das Gericht erklärte das KDVNG im Wesentlichen als mit dem GG vereinbar und berief sich ausdrücklich auf die Entscheidung von 1978 (BVerfGE 69, 1). Auf die skandalöse Rechtfertigung des Verstoßes gegen die eindeutige Vorschrift des Art. 12a Abs. 2 Satz 2 GG, wonach die Dauer des Ersatzdienstes die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen darf, soll hier nicht noch einmal eingegangen werden (vgl. dazu das abweichende Votum der beiden Richter, Seite 66 ff).

In der Wehrpflichtfrage stellt das Bundesverfassungsgericht fest: "Aus dem Verfassungsgebot der staatsbürgerlichen Pflichtengleichheit in Gestalt der Wehrgerechtigkeit ergibt sich somit die Verpflichtung des Gesetzgebers, Vorsorge zu treffen, dass nur derjenige von der Erfüllung der Wehrpflicht als einer gemeinschaftsbezogenen Pflicht hohen Ranges freigestellt wird, der nach Art. 4 Abs. 3 Satz 1 eine Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst mit der Waffe getroffen hat." (S. 24)

Auch zu dieser Entscheidung gibt es zwei abweichende Voten. Zum einen formulieren die Richter Mahrenholz und Böckenförde eine abweichende Meinung zu drei Aspekten der Entscheidung, die sie ansonsten aber mittragen. Es geht dabei um sehr grundsätzliche verfassungstheoretisch-dogmatische Fragen, auf die hier nicht eingegangen werden muss. Zum anderen kritisiert der Richter Mahrenholz die Zuständigkeit des Bundesverteidigungsministers für die KDV-Ausschüsse und -Kammern und sein Recht zur Ernennung der Vorsitzenden (Seite 87 ff).


Politische Einschätzung

Ist damit die Wehrgerechtigkeit beim Bundesverfassungsgericht in guten Händen?

Die kurze Analyse der Entscheidungen zeigt, dass das Gericht glücklicherweise kein einheitlicher Meinungsblock ist, und dass sich die Verfassungsrechtsprechung auch weiterentwickelt und verändert. Es hat sich herausgestellt, dass die meisten VerfassungsrichterInnen sich nicht von parteipolitischen Interessen instrumentalisieren lassen und überwiegend unabhängig entscheiden. Insofern kann man von "guten Händen" sprechen, als sie ihr juristisch-methodisches Handwerk verstehen und "Kunstfehler" - wie die Missachtung des Wortlauts in Art. 12a GG - recht selten sind. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass das Bundesverfassungsgericht nur auf Antrag tätig wird.

In diesem Fall hat das Verwaltungsgericht Köln die Frage in seine Hände gelegt, weil der Gesetzgeber die Warnzeichen nicht erkannt hat. Er hat sich mit formalen Korrekturen zufrieden gegeben, wo ernsthafte Diskussionen über Verfassungsgebote und Verfassungsgrenzen hätten geführt werden müssen. Er hat die Bedeutung einer dauerhaften Verletzung staatsbürgerlicher Pflichtengleichheit ignoriert und versucht, die offensichtlichsten Ungereimtheiten durch das Mittel der Ausmusterung zu vertuschen. Es wäre schön, wenn mit solchen Überlegungen ein eindeutig "Schuldiger" ausgemacht werden könnte. Aber Vorsicht: Der Gesetzgeber setzt sich aus den Vertretern der politischen Parteien im Parlament zusammen. Vier von fünf Fraktionen im Parlament sind für die Abschaffung der Wehrpflicht in der jetzt geltenden Form. Wieso also verabschiedet der Gesetzgeber im Herbst vorigen Jahres Gesetzesänderungen, die das Verwaltungsgericht Köln als mit dem Gebot der staatsbürgerlichen Pflichtengleichheit in Gestalt der Wehrgerechtigkeit für nicht vereinbar hält?

So besehen ist die Wehrpflicht auch beim gegenwärtigen Gesetzgeber nicht gut aufgehoben. Vielleicht ist er ganz froh, dass das Verfassungsgericht jetzt eine Entscheidung treffen muss, für die er als Gesetzgeber wieder einmal keine Verantwortung übernehmen muss, sondern auf der parteipolitischen Ebene den Gegner mit leeren Worten bewerfen kann.(7)

Wo bleiben die "guten Hände"? Es bleibt die Besinnung auf das demokratische Grundprinzip: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus und in diesem Jahr führt sie zu zahlreichen Wahlen. Also nehmen wir die Frage der Wehrpflicht auch in die eigene Hand und konfrontieren die KandidatInnen zur Bundestagswahl mit dieser Frage: Wie hältst du es mit der Wehrpflicht und der Wehrgerechtigkeit? Wofür wirst du dich in Fragen von Krieg und Frieden einsetzen und wofür nicht?

Verfassungsfragen sind auch Machtfragen. Und die Entscheidung über die Wehrpflicht ist nicht nur parteipolitisch von Bedeutung, sondern auch eine gesellschaftliche Frage. Mit ihr wird ein Stück weit darüber entschieden, ob es einen "Vorrang für zivil" geben wird oder die militärisch-industriellen Interessen die gesellschaftspolitische Entwicklung bestimmen werden. Das Bundesverfassungsgericht ist sich der Brisanz der zu treffenden Entscheidung voll bewusst: "Die gegenwärtige öffentliche Diskussion für und wider die allgemeine Wehrpflicht zeigt sehr deutlich, dass eine komplexe politische Entscheidung in Rede steht ..., die auf wesentliche Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens einwirkt."(8) Die Vorlage für diesen Entscheidungsdruck verdanken wir der kompetenten Beharrlichkeit des VG Köln.


Dr. Werner Glenewinkel ist Vorsitzender der Zentralstelle KDV.


Anmerkungen

(1) Vgl. dazu z.B. den Beschluss des BVerfG vom 20.02.2002 (- 2 BvL 5/99 -), mit dem der Vorlageheschluss des LG Potsdam vom 19.03.1999 (23 (H) Ns 72/98) als unzulässig abgelehnt wurde, weil die Verfassungswidrigkeit der Wehrpflicht "nicht hinreichend dargelegt" worden sei. (Der Beschluss des BVerfG ist veröffentlicht in 4/3 - Fachzeitschrift zu KDV, Wehrdienst und Zivildienst 2002, 55 ff., der Vorlagebeschluss des LG-Potsdam in 4/3 - 1999, 61 ff.)

(2) vgl. dazu Peter Tobiassen: Die Wehrpflicht muss sich an der Wehrgerechtigkeit messen lassen - Anmerkungen zu den Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts und des Verwaltungsgerichts Köln; in Forum Pazifismus 06 II/2005 S. 33 ff.)

(3) veröffentlicht in Forum Pazifismus 06 II/2005 S. 28 ff.

(4) "Gemeinsam für Deutschland. Mit Mut und Menschlichkeit." Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, 11.11.2005

(5) Antrag A 7 des Parteivorstands

(6) Auskunft der Geschäftsstelle des VG Köln vom 18.03.2009

(7) Ein aktuelles Beispiel, das dieses parteipolitische Taktieren zwischen den Gewalten verdeutlicht, spielt sich gerade in diesen Tagen ab: Das BVerfG (Urteil vom 20.12.2007, Az. - 2 BvR 2433/04 -, - 2 BvR 2434/04 -) hat die Einrichtung der Jobcenter nach der Hartz-IV-Reform als eine nach der Verfassung unzulässige Mischverwaltung für unzulässig erklärt und dem Gesetzgeber eine Frist zur Änderung bis 2010 gesetzt. Die CDU/CSU/SPD-Koalition hat sich im März 2009 nicht auf eine Reform einigen können. Die Folge wird ein für alle Beteiligten - insbesondere die VerwaltungsmitarbeitInnen - unerträglicher Schwebezustand sein, dessen fristgerechte politisch-legislative Bewältigung mehr als fraglich scheint.

8) Siehe Fußnote 1


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 21, I/2009, S. 8 - 11
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juni 2009