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BERICHT/241: Herkunft und Zukunft des Bundes für Soziale Verteidigung (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 21 - I/2009
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Gewaltfrei und demokratisch
Herkunft und Zukunft des Bundes für Soziale Verteidigung

Von Theodor Ebert


Vom 15. bis 16. April 2005 hat der Bund für Soziale Verteidigung zusammen mit dem Institut für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung in Hannover einen Workshop veranstaltet zum Thema "Zur Aktualität von Sozialer Verteidigung". Barbara Müller und Christine Schweitzer haben diese Tagung sorgfältig und umfassend dokumentiert (im Verlag Sozio-Publishing; 147 Seiten; 9,90 Euro). Wenn das damals Überlegte weitergeführt und zum Programm gemacht worden wäre, dann könnte ich mir diesen so genannten Festvortrag jetzt weitgehend sparen und zumindest auf dem 2005 Erarbeiteten aufbauen.

Als ich die Einladung zur jetzigen Tagung "Gewaltfrei gegen Besatzung" las, hatte ich den Eindruck, dass wir versuchen, aktuell zu sein, aber die Hausaufgaben von 2005 noch nicht gemacht haben. Wir haben keine konkret-utopische Vorstellung dessen, was wir anstreben und was wir in absehbarer Zeit hier in Deutschland und in Europa durchzusetzen hoffen.

In dieser Verlegenheit sind wir allerdings nicht alleine. Wenn man sich nach den pazifistischen Alternativkonzepten zur Nato umsieht, findet man wenig Konstruktives. In dem Aufruf, der zu Aktionen gegen das 60-jährige Jubiläum der Nato auffordert, ist man sich nur in den Negationen, nicht aber in den Positionen einig. Das ist auch kein Wunder, wenn man auf das Sammelsurium der Unterzeichner achtet. Bei einigen Organisationen gruselt es mir.

Ich will das jetzt nicht vertiefen, aber ein Stoßseufzer sei mir gestattet: Welche Mühe haben wir uns vor 20 Jahren doch gegeben, Trägerorganisationen für unseren Bund zu finden, und wie intensiv haben wir um eine Satzung gerungen, die es erlaubte, Einzelmitglieder und Gruppen fair und doch repräsentativ zu Wort kommen zu lassen und die Stimmen der Basisorganisationen zu gewichten! Wir wollten im Ringen um ein gewaltfreies Konzept der Sicherheitspolitik für möglichst viele der gewaltfreien Gruppen in der Friedensbewegung sprechen können. Wir hatten schließlich in der Schlussphase der Protestbewegung gegen die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen gemerkt, dass man sich in dieser Bewegung - angesichts des massiven Einflusses der DKP - auf etwas Konstruktives nicht mehr einigen konnte und der kleinste gemeinsame Nenner keine Antwort auf drängende Fragen ermöglichte.

Doch noch einmal zurück zur Einladung zu dieser Tagung. Da wird gefragt und noch in der Frage bereits die Antwort suggeriert: "Wie ist die Situation heute, wenn wir in Deutschland keinen Einmarsch fremder Truppen mehr befürchten..." Ich halte dies für eine sehr oberflächliche Beschreibung der Ausgangssituation bei der Gründung des Bundes für Soziale Verteidigung. Wir haben diesen Bund nicht gegründet, weil wir annahmen, dass im Falle einseitiger Abrüstung und ohne weitere Vorkehrungen mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen zu rechnen wäre. Wir waren in unserer politischen Phantasie nicht im Banne der Propaganda von Befürwortern der militärischen Abschreckung, sondern überlegten sehr viel grundsätzlicher, mit welchen Bedrohungen ein demokratisches Gemeinwesen zu rechnen hat, das sich ausschließlich auf die Fähigkeit der Bevölkerung und seiner Regierung zum gewaltfreien Widerstand verlässt.

Unser Vorbild war der Traum Mahatma Gandhis von einem Indien, das seine innen- und außenpolitischen Sicherheitsprobleme nicht mit Militär und einer schwer bewaffneten Polizei, sondern mit einer Shanti Sena bearbeitet. Und ich übersetze hier Shanti Sena mit flächendeckendes Netzwerk gewaltfreier Aktionsgruppen, die auf ein Training zurückgreifen und sich - auch mit staatlicher Hilfe - zu koordinieren vermögen.

Wir haben im BSV nach dem Fall der Mauer und der Auflösung des Warschauer Paktes weiter gearbeitet. Doch richtig ist auch, dass wir uns bei der Gründung im Jahre 1989 darauf eingestellt hatten, dass die Deutschen von uns auch so etwas wie eine Alternative zur Nato erwarten. Wir mussten uns mit den bösen Erfahrungen auseinandersetzen, welche in den Ländern gesammelt worden waren, die im Zweiten Weltkrieg von deutschen, italienischen und japanischen Truppen besetzt worden waren und wir mussten auch in Rechnung stellen, dass in den 80-er Jahren des vorigen Jahrhunderts im Warschauer Pakt noch Kräfte an der Regierung waren, welche den Stalinismus noch nicht aus eigener Kraft bewältigt hatten.

Dass dieses militaristisch-spätstalinistische System dann so rasch in sich selbst zusammenbrechen würde, ohne dass es zu einem gewaltfreien Massenaufstand gekommen wäre, hat auch uns überrascht, die wir der gewaltfreien Macht von unten doch Einiges zugetraut hatten. Es ging wahnsinnig schnell, und ein breites Einüben der Massen in die gewaltfreie Aktion, die sich Gandhi auch während des indischen Unabhängigkeitskampfes gewünscht hatte, hat dann auch in Europa nicht stattgefunden.

Das war auch Gandhis Problem in Indien, dass es gemessen an den 700 Millionen Indern in seinem Land - und das war noch Indien und Pakistan zusammen - nur eine dünne Schicht von Personen gab, die persönlich Erfahrungen mit dem gewaltfreien Kampf gesammelt hatte.

Und ich frage jetzt mal: Wie viele Deutsche, wie viele Polen, wie viele Tschechen haben in den 80-er Jahren persönliche Erfahrungen mit gewaltfreiem Widerstand gesammelt? Ich fürchte, es war noch nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung. Die Mehrheit hat sich nur über die Berichterstattung in den Medien mit dem gewaltfreien Aufstand identifiziert. Und man sollte virtuelles Lernen in den Medien nicht mit dem persönlichen Lernen in einer Graswurzelbewegung verwechseln.

Ich weiß nicht, wieweit ein solches Lernen über die Massenmedien überhaupt zu nachhaltigen Lernprozessen führt. Ich fürchte, dass das, was in den Medien erlernt wurde, sich durch die Medien auch manipulieren lässt. Ich bin so skeptisch, weil es einige Fälle gibt, in welchen diejenigen, welche angeblich gewaltfrei ihre Freiheit erkämpft haben, anschließend rasch bereit waren, sich wieder auf militärische Sicherheitssysteme einzulassen.

Eine Gruppe des BSV ist im Jahre 1992 mit ihrem Vorsitzenden Roland Vogt nach Litauen und Lettland gereist, weil man dort - ohne Waffen - tatsächlich in der Lage gewesen war, die Demokratie gegen militärische Restaurationsversuche erfolgreich zu verteidigen. Eine große Leistung. Ich habe darüber auch einen ausführlichen Reisebericht geschrieben und in der Zeitschrift "Gewaltfreie Aktion" veröffentlicht.(1)

Doch man hat in den baltischen Staaten auf diesen Erfolgen der gewaltfreien Selbstbehauptung politisch nicht aufgebaut und sich vom militärischen Sicherheitsdenken auch nicht verabschiedet, sondern den Anschluss an die NATO gesucht.

In anderen Ländern Ost-Europas hat es seit der Jahrhundertwende - unter verschiedenen Farben, orange usw. - gewaltlose Aufstände gegen die autoritären Regime gegeben, welche zunächst auf das Verschwinden der poststalinistischen Diktaturen gefolgt waren. Viele Tausende haben manchmal wochenlang gegen Wahlfälschungen, Korruption und autoritäre Cliquenherrschaft protestiert und sich dann auch durchgesetzt. Im Zuge dieser Aufstände haben durchaus Lernprozesse stattgefunden, aber es entstand noch kein flächendeckendes Netzwerk gewaltfreier Aktionsgruppen, das Millionen in der Überzeugung eingebunden hätte: Yes we can with non-violent means. Nein, in die Nato wollten alle rein! Und dann durften und wollten ihre Regierungen im Irak auch noch zeigen, was sie für tolle Freiheitskämpfer sind.

Ich halte dies für eine fatale Entwicklung. Ich habe im März 2007 als einziger deutscher Friedensforscher an einer internationalen Konferenz in Oxford teilgenommen, auf der triumphalistisch diese bunten Revolutionen in Ost-Europa vor allem von amerikanischen und englischen Wissenschaftlern gefeiert wurden. Ich habe über diese Konferenz, auf der ich manche alten Freunde traf, von denen einige auch meine Skepsis teilten, mit sehr gemischten Gefühlen berichtet.(2) Ich stehe nach dem aktuellen Drängen der Ukraine und Georgiens in die Nato einer gewissen US-gesponserten Hurra-Gewaltlosigkeit noch skeptischer gegenüber als bereits auf der Oxforder Konferenz "Ziviler Widerstand in einer Welt der Machtpolitik" (Civil Resistance and Power Politics).

Ich meine nicht, dass man mit gewaltfreien Aufständen sehr viel falsch machen kann. Klappt es nicht, sind nicht die anderen die Geschädigten, sondern man muss dann eben selbst Lehrgeld bezahlen und kann aus den eigenen Fehlern lernen. Durch solche Aufstände lassen sich demokratische Fortschritte erzielen, aber man muss eben auch damit rechnen, dass die Lernprozesse im Zuge solcher gewaltloser Aktionen, die nur begrenzte Ziele verfolgen, nicht ausreichen, um in der Folgezeit in der Sicherheitspolitik grundsätzlich auf gewaltfreie Mittel zu setzen. Das ist eine Erfahrung, die man schon in den 50-er Jahren des vorigen Jahrhunderts machen konnte. Kwame Nkrumah hat die Unabhängigkeit Ghanas vom englischen Kolonialregime - ähnlich wie Gandhi - mit seiner gewaltlosen Strategie der "positive action" in ganz kurzer Zeit durchgesetzt(3) und dann haben die Pazifisten sich Hoffnungen gemacht. Nkrumah hat sich aber nicht zu einem afrikanischen Gandhi entwickelt, sondern dann doch wieder zu diktatorischen Mitteln gegriffen und schließlich eine nichtsnutzige Anweisung zum Guerillakrieg geschrieben.

Ich möchte die historische Bedeutung dieser gewaltlosen Aufstände und dieser so genannten gewaltlosen Revolutionen nicht klein reden. Ich finde es großartig, dass gewaltlose serbische Aufständische dem autoritären und auch blutigen Regime von Slobodan Milosevic ein Ende bereitet haben - und nicht die Nato-Bomberei. Ich wünschte nur, die Serben hätten es ein paar Jahre früher bereits geschafft, dann hätte sich wahrscheinlich auch für das Kosovo eine bessere Lösung finden lassen als die jetzige.

Aber ich bin jetzt schon in der Gegenwart angelangt, wo es doch erforderlich ist, auch noch einiges zu der Gründungszeit des Bundes für Soziale Verteidigung zu sagen. Wir alle haben mit Erleichterung auf das Ende des Warschauer Paktes und den Abzug der großen Zahl sowjetischer Truppen und auch eines Großteils der westlichen Alliierten aus Deutschland reagiert, aber wir spürten im Bund für Soziale Verteidigung auch sehr rasch, dass mit dem Entfallen dieser äußeren Bedrohung - und diese hatte einen gewissen Realitätsgehalt - die Arbeit an einer gewaltfreien Sicherheitspolitik nicht erledigt war.


Die Wende in Osteuropa als Chance und Krise des BSV

Es war jedenfalls eine Illusion anzunehmen, man müsse nur BoA, BoA rufen und die Bundesrepublik ohne Armee proklamieren, und schon würde die Nato sich in Wohlgefallen auflösen. Eine konkrete Bedrohung und damit der ursprüngliche Grund für die Bildung der Nato waren entfallen. Doch in diesem Moment zeigte sich, dass der angebliche Grund für die Nato nicht ihr eigentlicher war.

Hinfort wurde die Existenz eines bewaffneten Arms der Regierung damit begründet, dass ein Staat nun mal auf alle Fälle eine Armee brauche und dass es tunlich sei, sich mit anderen Staaten zu einem militärischen Bündnis zusammenzuschließen und dass ein solches Sicherheitssystem für Stabilität sorge.

Und dass mit dem Verschwinden des Warschauer Paktes nicht auch der Krieg aus Europa und der Welt verschwunden war, zeigte sich sehr rasch. Als wir uns in Köln am Rhein zu einer Konferenz "Europa ohne Armeen" (EuroA) trafen, besuchte uns noch der Parlamentspräsident von Slowenien im Dienstmercedes, und wir werteten dies als ein Signal dafür, dass sich nun in Europa nacheinander gewaltfreie Staaten ohne Armee bilden würden.(4) Weit gefehlt: Fürchterliche Bürgerkriege mit so genannten ethnischen Säuberungen, Vergewaltigungen und Massenerschießungen von Gefangenen begleiteten die Auflösung des von Tito im Partisanenkampf geformten und mit Gewalt zusammengehaltenen Jugoslawiens. Wir Pazifisten haben diesen Prozess überrascht, fast ohnmächtig, aber nicht ganz tatenlos begleitet. Darüber könnte Christine Schweitzer besser sprechen als ich.(5) Kurt Südmersen ist auch in das Kosovo gefahren und hat sich dort nach Bündnispartnern umgesehen. Sein mündlicher Bericht war nicht sehr ermutigend, aber es wäre dennoch angebracht gewesen, mehr für die gewaltlosen Kräfte im Kosovo zu tun. Ich sehe da rückblickend ein schweres Versäumnis, aus dem wir auch als Verband noch lernen sollten.

Ich muss aber noch einmal zurückkommen auf die Situation unseres Verbandes nach der Auflösung des Warschauer Paktes. Wir waren dadurch in eine Programm-Krise geraten. Ich will dies verdeutlichen an einer ganz persönlichen Erfahrung im Dienste des Bundes für Soziale Verteidigung. Am Morgen nach der Öffnung der Berliner Mauer bin ich nach Bonn geflogen, weil ich mich mit der Fraktion der Grünen im Bundestag zu einem Gespräch über deren sicherheitspolitisches Programm, nämlich die Soziale Verteidigung, verabredet hatte. Das war von meiner Seite als Kulminationspunkt einer Serie von Gesprächen mit Politikern der Grünen gedacht. Meine Mitvorsitzende Petra Kelly war sehr hilfreich gewesen bei der Vereinbarung solcher Gespräche.

Als ich am Morgen des 10. Oktober 1989 in Bonn ankam, war die Fraktion der Grünen nach Berlin unterwegs, und ich musste unverrichteter Dinge nach Berlin zurückfliegen. Es ist danach nie mehr ein Gespräch mit der Fraktion zustande gekommen. Wir waren uns im Vorstand des BSV auch nicht einig, wie diese Vorgänge in der DDR zu bewerten seien. Roland Vogt und ich als Berliner sahen keine Chance für eine selbständige, demokratische DDR. Unsere These war: Wenn die Grenze offen ist, lässt sich eine Massenmigration in den Westen nur verhindern, wenn wir als Deutsche zusammenstehen und uns solidarisch helfen. Günter Grass hat von einem "Schnäppchen namens DDR" gesprochen. Auch mein Kollege Fritz Vilmar, ein gestandener Pazifist, hat viel Kritisches zum Vereinigungsprozess zusammengetragen. Es ist tatsächlich vieles nicht optimal gelaufen, aber rückblickend meine ich immer noch: Durch diesen Vereinigungsprozess mussten wir durch - und im Vergleich zu anderen osteuropäischen Staaten ist der Prozess in Deutschland gar nicht so schlecht gelaufen.


Der Zivile Friedensdienst als konstruktives Programm des BSV

Ich habe diesen Vereinigungsprozess in Berlin als Mitglied der Kirchenleitung von Berlin und Brandenburg erlebt. Sobald die Mauer offen war, haben wir die beiden Kirchenleitungen und dann auch die Synoden zusammengelegt, und das hat erstaunlich gut funktioniert. Und eines der Produkte dieser gemeinsamen Kirchenleitung war dann auch das Konzept des Zivilen Friedensdienstes, und in meiner Erinnerung war ein Höhepunkt meiner dortigen kirchenleitenden Tätigkeit, als unser Bischof Martin Kruse den Vorstand des BSV ganz offiziell, doch in freundlicher Verbundenheit zu einem Gespräch über den Zivilen Friedensdienst einlud und dieses Gespräch mit einem inhaltsreichen Kommunique endete.

Um die politische Durchsetzung des Zivilen Friedensdienstes, den ich mir allerdings viel massenhafter vorgestellt habe, als er sich bis jetzt entwickelt hat, haben sich ja dann auch der BSV und die Evangelische Kirche Verdienste erworben. Helga und Konrad Tempel haben dann mit pragmatischem Geschick und Ausdauer dafür gesorgt, dass es gelungen ist, den Zivilen Friedensdienst zumindest als vornehmlich im Ausland tätigen Friedensfachdienst zu institutionalisieren. Man könnte den Zivilen Friedensdienst auch ein Kind des BSV nennen, aber ich hoffe, dass es - um im Bild zu bleiben - nicht beim genialen Einzelkind bleibt, sondern dass es in Zukunft beim Zivilen Friedensdienst noch zu wimmeln beginnt und auch der freundliche, gutwillige, demokratische Durchschnittstyp, ohne nun bereits eine Friedensfachkraft zu sein, etwas zu tun bekommt.

Im jetzigen Konzept des Zivilen Friedensdienstes ist ja nur ein kleiner Teil des ursprünglichen Vorhabens realisiert worden, aber dieser kleine Teil auf einem sehr hohen Niveau. Beim ursprünglichen kirchlichen Konzept und auch bei dem des BSV, wie es Roland Vogt vertrat, war es darum gegangen, so etwas wie ein Shanti-Sena-Netzwerk in Deutschland aufzubauen, um dann in diesem Reservoir - bei Bedarf - auch eine genügend große Zahl von Personen zu finden, die sich aufgrund von Sprachkenntnissen und Erfahrung für Auslandsmissionen eignet.

Die beiden anderen Funktionen des Zivilen Friedensdienstes, an die heute kaum noch gedacht wird, galten jedoch einheimischen oder zumindest innereuropäischen Aufgaben. Der Zivile Friedensdienst sollte die Mobilisierungsbasis für die Soziale Verteidigung bilden, falls es zu einer ernsthaften Bedrohung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung von außen oder innen kommen sollte. Da aber der Zivile Friedensdienst nicht bewaffnet ist, kommt es bei ihm - anders als bei Polizei und Militär - auch nicht auf eine klare Trennung der Aufgaben an. Der Zivile Friedensdienst konnte nach dem ursprünglichen Konzept auch in Bereichen präventiv tätig werden, wo Gefahr bestand, dass es im Innern zu gewaltsamen Übergriffen kommen könnte.

Zu denken ist hier an den Rechts- und den Linksextremismus, dem man meines Erachtens mit zivilen Mitteln besser beikommt als mit polizeilicher Repression. Ich erinnere dazu an die Fachtagung des BSV in Potsdam im Jahre 1991, auf der wir uns mit der gewaltfreien Abwehr von Gewalt gegen Flüchtlinge befassten. Der Rechtsextremismus unter Jugendlichen hat seit 1991 leider nicht abgenommen, und die so genannten "national befreiten Gebiete", in denen sich Farbige ohne Begleitung kaum blicken lassen können, sind immer noch eine Herausforderung. Und kein Zweifel, das gewaltfreie Standhalten und Eingreifen lässt sich auch mit sehr jungen Menschen bereits üben. Dazu muss man keine Friedensfachkraft sein wie bei den ziemlich einsamen Auslandseinsätzen der gegenwärtigen Mitarbeiter/Innen des Zivilen Friedensdienstes.

Ich hatte ja 2007 die Möglichkeit, in Serbien und im Kosovo solche hoch qualifizierten, charakterlich stabilen Friedensfachkräfte kennen zu lernen und ich habe dazu in "Gewaltfreie Aktion" auch einen ausführlichen Reisebericht veröffentlicht.(6) Aber es stimmt nicht, dass man bei einem breit angelegten Zivilen Friedensdienst nur Friedensfachkräfte brauchen könnte. Um Kinder aus Kriegsgebieten - möglicherweise aus verschiedenen Ethnien - in Ferienlager einzuladen, braucht man keine gereiften Friedensfachkräfte. Das können auch junge Leute nach kurzer Anleitung leisten. Da hat Gandhi schon recht gehabt: Es gibt einerseits ganz schwierige Aufgaben für Satyagrahis, aber manche gewaltfreien Aktionen sind auch kinderleicht.

Ein Ziviler Friedensdienst für junge Menschen im Alter der jetzt Wehrpflichtigen wäre schon möglich. Dass der Gedanke des Friedensfachdienstes so sehr betont wurde, empfand ich auch als ein Abdrängen der gewaltfreien Konfliktbearbeitung ins Spezialistentum und damit in die politische Bedeutungslosigkeit.

Was heute im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes gemacht wird, ist qualitativ gut, aber es ist - gelinde gesagt - quantitativ viel zu wenig. Der Friedensdienst überlebt im Kleinen unter dem Schirm des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Der BSV sollte sich aber daran erinnern, dass auch sein ursprünglicher Entwurf für einen Zivilen Friedensdienst viel weiter reichte. Angestrebt war eine Grundausbildung in gewaltfreier Konfliktaustragung für eine wirklich große Zahl von Bundesbürgern - jeden Alters und Geschlechts. Im Entwurf der Berliner Kirche gab es - und das nehme ich auf meine Kappe - im Unterschied zum BSV eine - von manchen als problematisch angesehene - Verbindung zwischen allgemeiner Wehrpflicht und der Option Ausbildung zum Zivilen Friedensdienst. Ich sah und sehe diese Option als einen Fortschritt gegenüber dem seit Jahrzehnten anhaltenden und immer unglaubwürdiger werdenden Zustand der Einberufung sehr junger Männer zum Militärdienst bzw. einem Zivilen Ersatzdienst, der die Einberufenen gar nicht zu qualifizieren, sondern nur zu beschäftigen sucht und damit häufig wenig qualifizierten Arbeitslosen sinnvolle Jobs weg nimmt.

Ich weiß, dass viele Kritiker des Militärdienstes der Auffassung sind, dass die allgemeine Wehrpflicht überhaupt abgeschafft werden sollte. Ich fürchte, dass dies allein keine Lösung des Problems ist - zumindest wenn die wahrscheinliche Alternative dann eine Armee von Berufssoldaten wäre. Ich freue mich auf den Tag, an dem die immer noch Wehrpflichtigen die Chance bekommen, nicht nur den Kriegsdienst zu verweigern, sondern - eventuell zusammen mit Frauen - für eine Ausbildung in gewaltfreier Konfliktaustragung zu optieren. Ich stelle mir vor, dass jedes Jahr dann zehntausend und mehr junge Männer eine Ausbildung in gewaltfreiem Handeln erwarten, und dazu eine angemessene Anzahl von Trainerinnen und Trainern erforderlich sein wird. Ich glaube nicht, dass die Politiker sich ohne Druck von unten in diese Richtung weiter bewegen werden, doch ich warte auf den Tag, an dem sich Gruppen von Wehrpflichtigen zusammenschließen werden und erklären: Entweder bekommen wir jetzt eine Grundausbildung in gewaltfreier Aktion oder ihr könnt uns einsperren, aber den bisherigen Unfug der allgemeinen Wehrpflicht machen wir so nicht mehr mit.(7)

Es ist ja gut möglich, dass es den Regierenden vor so vielen Nachwuchsgandhis graust, weil für sie die vor den Computern Krieg spielenden potenziellen Amokläufer und zielsicher ballernden Biathlon-Schützinnen bequemer sind, aber ich finde, man müsste diese Waffen verkaufenden Heuchler dann auch mal öffentlich vorführen. Mir tun die von Gewalttaten in Deutschland Betroffenen leid, aber mich ärgern die Krokodilstränen derjenigen, die den Glauben an die sicherheitspolitische Funktion der Ausbildung an Waffen und des Waffenhandels hoch halten.

Wenn "Ohne Rüstung leben" zur Demonstration gegen Deutschlands größten Kleinwaffenproduzenten Heckler und Koch aufruft, kommen gerade mal 150 gewaltfreie Akteure - darunter mit Sicherheit kein Politiker aus dem Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages. Der BSV hat sich aber auch nicht besonders ins Zeug gelegt, um seine Trägerorganisation zu unterstützen.

Doch noch einmal zurück zum Thema Ziviler Friedensdienst als Verpflichtung für viele. Wenn man als Repräsentant des Volkes eine Politik mit gewaltfreien Mitteln machen will, dann braucht man einen Personenkreis, auf den man sich innen- und außenpolitisch verlassen kann. Ich weiß nicht mehr genau, bei welcher Gelegenheit es war, aber Stalin soll, als man vorschlug, den Papst in politische Verhandlungen einzubeziehen, zynisch gefragt haben: Wieviele Divisionen hat der Papst? Die Frage halte ich für angebracht. Die Machthaber in Polen hätten diese Frage nach dem Erscheinen von Solidarnosc nicht mehr so von oben herab gestellt. Tatsache ist, dass auch basisdemokratische Politiker über ein gewisses Instrumentarium verfügen bzw. um verlässliche Helfer wissen müssen.

Das hat die Politologin Petra Kelly gewusst und darum hat sie ihre Basis in den sozialen Bewegungen gesucht und ist Vorsitzende des BSV als einer Dachorganisation von Basisorganisationen geworden. Joschka Fischer, der sie später als Spitzenpolitiker der Grünen verdrängte, hat das nicht kapiert. Als er deutscher Außenminister wurde, hat er an Apparat und verlässlichen Menschen nichts gehabt außer dem herkömmlichen diplomatischen Dienst. Und da konnte er persönlich noch so intelligent und geschickt sein: Als es hart auf hart ging, hat er eben auf keine gewaltfreien Divisionen zurückgreifen können, sondern musste sich mit der amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright arrangieren - und zurücktreten oder den Kosovo-Krieg führen. Seiner diplomatischen Initiative ist es vielleicht zu verdanken, dass es in Serbien nicht auch noch zum Bodenkrieg kam, aber der Kosovo-Krieg war eben leider das Ende des grünen Projekts, Politik mit gewaltfreien Mitteln zu machen.


Der Verlust der parteipolitisch-parlamentarischen Repräsentanz

Dieser Politikwechsel bei den Grünen war der härteste Schlag, den der Bund für Soziale Verteidigung erlitten hat. Meines Erachtens hat er sich davon bis zum heutigen Tag nicht erholt. Man muss sich daran erinnern, dass die Grünen versprochen hatten, gewaltfreie Politik zu betreiben, und die gewichtigste Trägerorganisation des BSV waren. Die Grünen hatten die Soziale Verteidigung zu ihrem sicherheitspolitischen Konzept erklärt, und das hat uns auch in der Öffentlichkeit Respekt verschafft.

Manche Grüne haben dies aus Überzeugung getan, aber viele werden, was im Bundesprogramm der Grünen von 1981 wegweisend gestanden hatte, auch nur geduldet haben, weil sie meinten, dass ein solches Programm bei der friedensbewegten Wählerschaft gut ankommt.

Petra Kelly, neben mir die Gründungsvorsitzende des BSV, war eine glaubwürdige Vertreterin dieser Strategie. Sie hatte schon am 16. Juni 1984 bei einem international besetzten Hearing der Fraktion der Grünen im Bundestag für Klarheit in der Zielsetzung gesorgt.(8)

Sie war für mich manchmal auch eine schwierige Partnerin im Vorstand des BSV. Roland Vogt sagte mal zu mir: Ihrem Ego fehlte gewissermaßen der Berstschutz, doch ich empfinde das Ende ihrer Laufbahn als Politikerin doch als eine echte Tragödie. Sie ist nicht die einzige Exponentin von Bürgerinitiativen und Sozialen Bewegungen, welche die Prominenz und die überraschende Medienpräsenz - und dann auch wieder das Verschwinden aus den Medien - nicht verkraftet hat. Es müsste auch ein Training für prominente gewaltfreie Akteure geben - und in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen ist in seiner stabilisierenden Wirkung der familiäre Rückhalt und ein verlässlicher Freundeskreis.

Ich schätzte auch Gert Bastian und konnte Petras Wunsch verstehen, auch ihn im Vorstand des BSV neben sich zu sehen. Was ich nicht ahnte, was aber Petra eigentlich hätte wissen müssen, ist der Umstand, dass Gert Bastian in puncto Pistolen ein Waffennarr war. Wie konnte sie es zulassen, dass ihr ständiger Begleiter anscheinend dauernd eine oder gar mehrere Pistolen mit sich herumschleppte, ein Relikt aus seinen Zeiten als Generalmajor?! Mir hat imponiert, dass er am 2. September 1983 eine Nacht lang mit mir vor der Raketenbasis in Mutlangen unter einer Plane im Regen gesessen hatte.

Den Verlust dieser beiden kann ich bis heute noch nicht begreifen. Nur infolge dieses unsinnigen Waffenbesitzes konnte Gert in einer doch nur scheinbar ausweglosen Situation Petra und auch sich selbst das Leben nehmen. Ich glaube nicht daran, dass dies mit Petras ausdrücklichem Einverständnis geschah, wenn sie ihm zuvor auch ihrerseits Verhaltensweisen zugemutet hat, die man einem geliebten Partner bzw. dessen Ehefrau nicht zumuten darf: Und Petra hatte in dieser Hinsicht nun mal einiges auf dem Kerbholz. Gandhis Lehre von der sexuellen Enthaltsamkeit halte ich zwar für Krampf, aber mal ganz pragmatisch kann und darf man gewaltfreien Akteuren doch empfehlen - und das ist bei dem reichlichen Angebot nicht zu viel verlangt -, bei der Partnerwahl von Verheirateten die Finger zu lassen. Gewaltfrei bedeutet nun mal non violare, nicht verletzen, und das gilt im Beziehungskonflikt auch für zwangsläufig beteiligte Dritte. Mehr will ich dazu nicht sagen. Doch kein Festvortrag über die Zukunft gewaltfreier Organisationen ohne die Erinnerung an das tragische, doch vermeidbare Ende dieser beiden.

Wenn man neue politische Wege einschlagen will, dann muss man glauben, dass die angestrebten Ziele auch erreichbar sind. Darum ist der persönliche Faktor in der Politik auch so wichtig. Politik ist keine Resultante ökonomischer und machtpolitischer Faktoren, so wichtig diese auch sind. Die Gründung des BSV war getragen von der Überzeugung, dass wir Deutschen - vielleicht allen voran - aber zusammen mit anderen Europäern es schaffen können, das Militär abzuschaffen und eine vertrauenswürdige, ansteckende, gewaltfreie Politik zu betreiben. Diese Hoffnung hat uns bei der Gründung des BSV beflügelt. Es ist wichtig, dass wir uns an diesen ursprünglichen Elan erinnern und jetzt auch darüber nachdenken, wie uns dieser Elan im Laufe von zwei Jahrzehnten weitgehend abhanden gekommen ist.

Es ist mir ein Bedürfnis, darüber nachzudenken, und ich hoffe, dass es nach meinem Vortrag auch noch zu ein paar Wortmeldungen reichen wird. Es fehlen neben Petra Kelly auch andere wichtige Gründer, die noch leben. Ich habe mit meinen Nachfolgern als Vorsitzenden des BSV Roland Vogt und Konrad Tempel korrespondiert und telefoniert. Sie haben nicht resigniert. Konrad Tempel kann aus privaten, ganz respektablen Gründen nicht kommen und Roland Vogt, der bereits abgesagt hatte, ist zu meiner Überraschung und großen Freude nun doch noch gekommen. Ist unsere Gesinnung auch stabil, so ist unsere Gesundheit doch wackelig.

Ich bin mir mit Roland und Konrad einig: Wir sollten an unserem Geschichtsverständnis und der Mission, gewaltfreie Politik durchzusetzen, festhalten. Zu diesem Geschichtsverständnis gehört, dass mit dem Abwurf der ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki das Atomzeitalter begonnen hat und dass es die Überlebensaufgabe der Menschheit ist, die gewaltfreie Konfliktaustragung zu lernen.


Die nachhaltige Bedeutung der Sozialen Verteidigung

Der größte Lehrmeister auf diesem Gebiet war Gandhi - aber es gibt glücklicherweise eine ganze Reihe weiterer Frauen und Männer, die uns in der Friedensforschung und Friedenspraxis voran gebracht haben. Unser Wissen und Können auf dem Gebiet der gewaltfreien Aktion hat seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland explosionsartig zugenommen, und dazu hat auch der BSV in den letzten 20 Jahren beigetragen.

Ich habe vorher im Blick auf die unvollendeten gewaltfreien Revolutionen in Osteuropa gesagt, dass es auf die Zahl der Beteiligten und die Intensität der Lernprozesse ankommt, wenn man auf nachhaltige Effekte hofft. In meinem doch hohen Alter von 72 Jahren hatte ich Gelegenheit, über fast 50 Jahre zu beobachten, wie diese Fähigkeiten und dieses Wissen um die Möglichkeiten gewaltfreier Politik in Deutschland angewachsen sind.(9) Sicher, es reicht mir noch nicht, aber man sollte nicht resignieren. Da ist was im Busch. Die Deutschen hatten noch nie so viel Ahnung von den Möglichkeiten der gewaltfreien Aktion wie heutzutage, und es würde mich nicht allzu sehr wundern, wenn sie von diesem Zutrauen zur gewaltfreien Aktion in nicht allzu ferner Zukunft auch politisch Gebrauch machen würden.

Ich habe vor ein paar Tagen beim Humanistischen Verband in Berlin zum 100. Geburtstag meines väterlichen Freundes Ossip Flechtheim gesprochen. Ich hatte Flechtheim über das Kuratorium des Ostermarsches der Atomwaffengegner kennen gelernt und ihm hatte ich es zu verdanken, dass ich die Soziale Verteidigung erforschen konnte. Flechtheim hat den Begriff Futurologie erfunden, weil er es für erforderlich hielt, sich über mögliche Zukünfte Gedanken zu machen. Er war ein ganz nüchterner, durch viele schlimme Erfahrungen auch geläuterter Denker, aber er sagte im Blick auf die Zukunft: Es gibt Wunder. Zu diesen Wundern rechnete er zum Beispiel, dass in der UdSSR ein Gorbatschow an die Spitze des kommunistischen Herrschaftssystems gelangen und mit Glasnost und Perestroika den Wandel des sowjetischen Systems, den kaum jemand noch für möglich gehalten hatte, in die Wege leiten und eine Zeitlang auch steuern konnte. Doch dieses Wunder hat sich angebahnt. Gerade die Theoretiker der gewaltfreien Aktion und der Lernfähigkeit politischer Systeme hatten darauf hingewiesen, dass der Mythos von der Stabilität so genannter totalitärer Systeme auf inhärenten Irrtümern beruht und dass es die totale Kontrolle durch den "Großen Bruder" nicht gibt und Kontroll- und Terrorsysteme letzten Endes verdummen, weil sie ohne kritische Verarbeitung der Kontroll-Informationen lernunfähig werden.

Das letzte Seminar, das ich mit Flechtheim zusammen am Otto-Suhr-Institut geleitet habe, hatte das Thema "Zukunftsentwürfe im Rückblick", und wir befassten uns dabei auch mit Gegenutopien und besonders ausführlich mit George Orwells "1984". Gorbatschow und Solidarnosc(10) waren bei Orwell nicht vorgesehen, aber diese Wunder sind heute historische Tatsachen.

Wahrscheinlich würden auch diejenigen, die demnächst den 60. Geburtstag der Nato und des ganzen zugehörigen Militärapparates feiern, es für ein Wunder halten, wenn diese Nato mitsamt ihren Atomwaffen verschwinden würde, aber historische Wenden und Wunder, die bahnen sich manchmal zwar nicht unsichtbar, aber unbemerkt an. Und ich denke, an eine echte Notwendigkeit der Nato glauben heute vielleicht weniger Menschen als 1788 an die Dauerhaftigkeit des ancien regime.

Doch wir im BSV werden nicht auf ein Wunder warten, sondern unseren Weg, Alternativen zur militärgestützten Politik zu entwickeln, fortsetzen. Wir sind aufgefordert, unsere politische Phantasie spielen zu lassen.

Wir müssen den Staat ohne Militär denken und wir müssen denjenigen, welche heute gewaltlose Methoden anwenden, um zunächst einmal begrenzte Ziele zu erreichen, auch die Vision vermitteln, dass ihre Methoden - im Horizont der Gewaltfreiheit - es erlauben, das Militär vollständig abzuschaffen. Ich warte auf den gewaltfreien Aufstand, auf dessen Fahne auch steht: Abschaffung des Militärs! Und für den Fall, dass die Aufständischen sich dann gegen einen Staatsstreich oder die Intervention fremder Mächte behaupten müssen, haben wir ein Rezept in petto: Die Soziale Verteidigung gegen Staatsstreiche und militärische Interventionen.

Futurologisch ist jetzt die Frage: Wer geht voran bei dem Experiment, einen gewaltfreien Aufstand oder auch die anhaltende Erziehung zur gewaltfreien Konfliktaustragung in die Abschaffung des Militärs und die Soziale Verteidigung bzw. in den flächendeckenden Zivilen Friedensdienst überzuführen?

Ich hoffe natürlich immer noch auf die Deutschen, aber ich freue mich über jeden, der uns zuvorkommt.

In den 70-er Jahren haben wir in der Arbeitsgruppe "Soziale Verteidigung" der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler, wo wir unsere Strategien des gewaltfreien Widerstands gegen Besatzungsmächte entwickelt haben, auch mal eine solche tour d'horizon gemacht und untersucht, wie weit die einzelnen europäischen Staaten auf dem Wege zur Sozialen Verteidigung sind. Es kam zu einem fast publikationsreifen Ergebnis. Hoffnungsträger waren für uns damals skandinavische Staaten, Österreich und die Schweiz. Es wäre schon reizvoll, diese Auftritte der Kandidaten für den Preis des Gandhi-Superstars noch einmal zu verfolgen.

Ich erwähne diese vergessene Studie hier, weil ich eine der Aufgaben des Bundes für Soziale Verteidigung auch darin sehe, diejenigen Gruppierungen, die heutzutage - global gesehen - an gewaltfreien Lösungen arbeiten, zu ermuntern, die Abschaffung des Militärs von vornherein ins Auge zu fassen und nicht nur aus taktischen Gründen begrenzte Ziele zu benennen. Es war das Großartige an Gandhi, aber auch an Jesus, dass sie die Vision einer Politik ohne Waffengewalt hatten und das auch aussprachen. Es empfiehlt sich die Gandhi-Texte zu lesen, die Wolfgang Sternstein übersetzt und unter dem Titel "Für Pazifisten" im LIT-Verlag herausgegeben hat. Sternstein hat diese Gedanken jetzt fortgeführt in seinem jüngsten Buch "Gandhi und Jesus. Das Ende des Fundamentalismus" (siehe die beiden Rezensionen in diesem Heft - Anm. d. Red.). Das ist seine Antwort an die Religionskrieger unter den Muslimen, Christen und Zionisten.


Who next?

Es ist sehr schwer zu sagen, wo die Situation heute reif ist, dieses Experiment einer staatstragenden Politik mit gewaltfreien Mitteln zu wagen. Und ich rede jetzt nicht über irgendwelche Nischenexperimente, sondern dass ein Mitgliedstaat der Vereinten Nationen das Militär abschafft und sich mit gewaltfreien Mitteln für den Frieden engagiert. Es gibt meines Wissens weltweit bisher nur einen einzigen Flächenstaat mit nennenswerter Bevölkerungszahl, der kein Militär und nur etwas Polizei hat und damit seit Jahrzehnten recht gut klar kommt: Costa Rica. Ich weiß darüber nicht viel, aber offenbar geht's. Roland Vogt und Andreas Maislinger könnten uns darüber mehr berichten.(11)

Vielleicht müssen wir auch manche unserer Lieblingstheorien in Frage stellen, um den Blick auf mögliche Zukünfte frei zu bekommen. Zu diesen Lieblingstheorien gehören Vorstellungen, denen zur Folge erst mal der Staat, die Parteien, der Kapitalismus, das Patriarchat abgeschafft werden und die autoritäre Charakterstruktur - meine Lieblingstheorie - überwunden werden müsste, bevor man für das Militär eine Abwrackprämie kassieren kann. Natürlich muss man die Widerstände gegen den historischen Wandel im Auge behalten, und wie Experimente schief gehen können, haben wir im BSV ja am Beispiel der Grünen beobachten müssen, aber man muss dann trotzdem wagen, Chancen, die sich von Neuem bieten, zu ergreifen und an Stellen etwas ausprobieren, wo niemand damit gerechnet hat.

Ein Beispiel: Ich lese mit Erschütterung die Berichte über die jüngsten israelischen Militäraktionen im Gaza-Streifen. Die Palästinenser kommen sich vor wie die Juden im Warschauer Ghetto und stellen sich auf den Standpunkt: Kampflos lassen wir uns nicht vernichten. Das kann man begreifen, aber die Situation ist anders als in Warschau. Israel steht unter weltweiter Beobachtung. Die Palästinenser sind in einer viel günstigeren Situation als die Juden im Warschauer Ghetto. Das demonstrative Ausscheiden aller Waffengewalt, aller Terrordrohungen, die Ankündigung eines Palästinenserstaates ohne Militär, ganz ohne Waffen, ohne Sprengstoffgürtel und den ganzen Vergeltungsschrott würde eine völlig neue Situation schaffen. Gandhi hat immer betont, die Engländer als Person müssen sich an jedem Ort Indiens persönlich völlig sicher fühlen - sicherer als hinter den Mauern des Roten Forts in Delhi. Noch fehlt es an einem solchen glaubwürdigen Sicherheitsversprechen der Palästinenser für die Juden.

Nach meiner Lieblings- oder auch Verzweiflungstheorie ist eine solche Selbstbindung an die gewaltfreie Aktion nicht zu erwarten, weil die Palästinenser (wie auch viele rechtsgerichtete Israelis) schrecklich autoritäre Typen sind und zum autoritären Charakter die gewaltfreie Aktion nun mal nicht passt. Nach meinem Vorurteil sind die Palästinenser autoritäre Machos, die gerne mit Waffen herumfuchteln und auf ihre Frauen nicht hören. Doch ich muss zugeben, dass ich auf Reisen nach Israel und in die besetzten Gebiete auch kinderliebe, freundliche Palästinenser kennen gelernt habe, die anscheinend nichts lieber tun würden als studieren oder Olivenhaine pflegen, einem Hand- oder Kunstwerk nachgehen und Tee trinken und plaudern und Familienfeste feiern. Uns es gibt auch bei den Palästinensern Einzelne, die sich für eine verlässlich gewaltfreie Strategie aussprechen. Der bekannteste ist Mustafa Barghuti. Und da wünscht man sich, dass Gandhis Schriften von den Palästinensern nicht weniger aufmerksam studiert würden als der Koran.

Also meine und anderer Lieblingstheorien hin oder her, ich behaupte mal: Wir wissen nicht, was die Menschen machen werden; wir wissen höchstens, was menschenmöglich ist, und wir sind auch in der Lage zu demonstrieren, welche Vorteile es hätte, ganz konsequent mit gewaltfreien Mitteln Politik zu machen. Und vielleicht wird ja Palästina zum ersten gewaltfreien Staat, und hoffentlich macht man sich demnächst ein Wort Albert Luthulis zu eigen, der in Südafrika seinen Landsleuten zugerufen hat: "Die Waffen unserer Gegner werden verrosten, weil wir ihnen keine Gelegenheit geben werden, sie zu gebrauchen. Lasst uns beweisen, dass Gewaltfreiheit die höchste Form der Tapferkeit ist."


Was heißt "Lobbyfunktion" auf Graswurzeldeutsch?

Darauf hinzuweisen ist die Aufgabe des BSV. Nun gibt es viele Organisationen, die das - erfreulicherweise - auch zum Programm haben, und mehrere sind Trägerorganisationen des BSV. Das Besondere des BSV - und das ist leider etwas in Vergessenheit geraten - besteht darin, dass wir als BSV uns eine gewisse Koordinierungsfunktion zutrauen, nicht in dem Sinne, dass wir den Anspruch erheben, in der Tradition des Leninismus die Oberstrategen zu sein und immer Recht zu haben. Ich sehe unsere Aufgabe vor allem darin, die Entwicklungen auf dem Feld der gewaltfreien Politik zu verfolgen und entsprechende Aufklärungs- und Trainingsarbeit zu machen, aber auch - und da sehe ich Defizite - in unserer parteienstaatlichen, parlamentarischen Demokratie intensive Lobbyarbeit zu betreiben. Wir müssen den Willensbildungsprozess in den Parteien und Fraktionen - und auch in den großen Verbänden wie den Kirchen und Gewerkschaften - beeinflussen. Und dafür bedarf es eines Zusammenschlusses der pazifistischen Verbände zu einer Dachorganisation. Diese Dachorganisation sollte der BSV sein. So haben wir uns 1989 satzungsmäßig organisiert.

Die Friedensbewegung hat aber in den vergangenen 20 Jahren dermaßen geschwächelt, dass aus dieser Lobbyfunktion - und man müsste das jetzt ins Graswurzeldeutsch übersetzen - nichts Rechtes geworden ist. Doch eines will ich festhalten: Aus dem Zivilen Friedensdienst - auch in seiner gegenwärtigen rudimentären Form - wäre nichts geworden, wenn diese Lobbyfunktion nicht wahrgenommen worden wäre. Basisdemokratie, soziale Bewegung - wunderbar. Das ist notwendig, aber Roland Vogt hat das mal so formuliert: Die Friedensforscher und die sozialen Bewegungen säen und düngen, aber in den Parlamenten und mit Hilfe der staatlichen Institutionen wird letzten Endes die Ernte in die Scheuer gefahren. Und dazu müssen wir in Zukunft wieder stärker auf die Institutionen Einfluss nehmen und dazu brauchen wir auch wieder verstärkt die Unterstützung der Trägerorganisationen und der Einzelmitglieder. Wir dürfen eben nicht nur ein ehrenwerter pazifistischer Verein neben vielen anderen sein. Mehr zu sein oder wieder zu werden ist eine schwierige Aufgabe, aber ich meinte, nach 20 Jahren an das ursprüngliche Vorhaben erinnern zu sollen, und ich hoffe, dass ich offene Ohren gefunden und bei einigen auch Herz und Verstand bewegt habe.


Prof. Dr. Theodor Ebert lehrte bis zu seiner Emeritierung 2002 an der Freien Universität Berlin Politische Wissenschaft mit dem Schwerpunkt Friedens- und Konfliktforschung. 1989 bis 1991 war er zusammen mit Petra Kelly Gründungsvorsitzender des Bundes für Soziale Verteidigung. Seit 1969 ist er Mitherausgeber der Zeitschrift "Gewaltfreie Aktion. Vierteljahreshefte für Frieden und Gerechtigkeit", in deren nächster Ausgabe der hier veröffentlichte Vortrag, den er anlässlich des zwanzigjährigen Bestehens des BSV am 21. März in Minden hielt, ebenfalls veröffentlicht werden wird, zusammen mit Stellungnahmen zu dem Vortrag.


Anmerkungen

(1) Lernen von Litauen und Lettland. Aus meinem Tagebuch einer Erkundungsreise des Bundes für soziale Verteidigung nach Vilnius und Riga vom 17-26. Juli 1992. In: Gewaltfreie Aktion, 93/94, 1992, S. 43-64

(2) Gewaltfreie Aufstände gegen autoritäre Regime. Neue Erfahrungen. In: Gewaltfreie Aktion, 151, 2. Quartal 2007, S. 17-29

(3) Schwarze Fanfare. Meine Lebensgeschichte, München 1958

(4) Vgl. auch Marko Hren: Yugoslavia: the past and the future. In: Shelley Anderson and Janet Larmore (eds.): Nonviolent Struggle and Social Defence, London: War Resistersí International, 1991, S. 21-23

(5) Chr. Schweitzer: Zivile Kriegsfolgenbearbeitung in Bosnien. In: Wissenschaft und Frieden, 2, 1996

(6) Vor Ort mit dem Zivilen Friedensdienst. Spätsommerliche Reise ins frühere Jugoslawien, Karlsruhe: Gewaltfreie Aktion, Heft 152, 3. Quartal 2007, erschienen im Mai 2008, 47 S.

(7) Es wird gelegentlich eingewandt, dass ein Ziviler Friedendienst als Option für Wehrpflichtige verfassungswidrig sei, weil es sich in Verbindung mit der Wehrpflicht dann um einen Zwangsdienst handle. Wenn das Parlament den Wehrpflichtigen diese Option eröffnen möchte, könnte sie diejenigen, die Zivilen Friedensdienst leisten, ähnlich wie Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr oder des Technischen Hilfswerks von der Wehrpflicht bzw. dem Zivilen Ersatzdienst frei stellen.

(8) Das Verteidigungskonzept der GRÜNEN: Soziale Verteidigung. Hearing der Fraktion der Grünen im Bundestag mit Gene Sharp, Adam Roberts, Theodor Ebert, Johan Galtung, Wolfgang Sternstein, Petra Kelly, Roland Vogt, Johan Niezing, Andreas Maislinger u. a. In: Gewaltfreie Aktion, 75/76, 1988, 605. (Die Dokumentation dauerte so lange, weil die englischsprachigen Beiträge vom Band abgeschrieben, redigiert und übersetzt werden mussten. Die Unterstützung durch die Fraktion und auch ihr Interesse an den Ergebnissen war minimal und nur durch den Einsatz von Barbara Müller und der Redaktion von "Gewaltfreie Aktion" wurde die Veröffentlichung dieser eigentlich grundlegenden Überlegungen zum Verteidigungskonzept der Grünen vor der Gründung des BSV noch möglich.)

(9) Siehe dazu auch Konrad Tempel: Anstiftung zur Gewaltfreiheit. über Wege einer achtsamen Praxis und Spiritualität, Berlin: Aphorisma-Verlagsbuchhandlung, 2008, 158 Seiten (siehe die Rezension in diesem Heft - Anm. d. Red.)

(10) Vgl. auch den ergänzenden Bericht über die polnische Organisation Wolnosc i Pokoj (Freiheit und Frieden) von Elzbieta Rawicz-Olezka: A new style of Polish protest. In: In: Shelley Anderson and Janet Larmore (eds.): Nonviolent Struggle and Social Defence, London: War Resistersí International, 1991, S. 55-58

(11) Andreas Mailinger (Hrsg.): Costa Rica. Politik, Gesellschaft und Kultur eines Staates mit ständiger aktiver und unbewaffneter Neutralität. Studien zur politischen Wirklichkeit, Bd. 3, Innsbruck: Inn-Verlag, 1985, 431 S.


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 21, I/2009, S. 17 - 25
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für
Pazifismus, Friedenspädagogik und Völkerverständigung PAX AN
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juni 2009