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GRUNDSÄTZLICHES/009: Was sind unsere Grundrechte (noch) wert? (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 2 - Mai 2009
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Was sind unsere Grundrechte (noch) wert?
Nichts, wenn wir sie nicht offensiv verteidigen

Von Monty Schädel


Auch für langjährige und erfahrene Demonstrations-Veranstalter und TeilnehmerInnen brachten Vorbereitung und Durchführung der Proteste gegen den Nato-Gipfel Anfang April in Baden-Baden, Kehl und Straßburg einige überraschende Entwicklungen und Ereignisse und neue Fragestellungen und Erkenntnisse.

In diesem Beitrag soll jedoch nicht von den gesetzwidrigen gewalttätigen Ausschreitungen der Polizei oder den nicht weniger abzulehnenden gewalttätigen Aktionen schwarz Gekleideter in Straßburg die Rede sein, sondern von einer neuen Realität gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Denn die Ereignisse machten deutlich, dass es der Polizei und der politischen Führung nicht um die Absicherung des Regierungsgipfels ging, sondern um die Verhinderung der Proteste - mit Maßnahmen, die in anderen Zusammenhängen eher dem "Unrechtsstaat DDR" oder anderen "demokratiefernen Regierungen" oder Diktaturen zugeschrieben wurden/werden. Demokratische Grundrechte wurden zu einem Gnadenerlass degradiert.

Es wird einige geben, die aus Erfahrung sagen werden, dass das gar keine "neue Realität" sei, sondern langjährige Praxis. Denen möchte ich gar nicht widersprechen, aber zu bedenken geben: Dieses war jetzt erstmals für einen größeren Kreis erlebbar. Für Menschen, die bisher ohne (größere) Schwierigkeiten demonstrieren konnten und eben nicht erleben mussten, dass

man nicht zum Ort der Auftaktkundgebung gehen kann,
die Demonstration ohne Grund von der Polizei angegriffen wird,
auch so genannte polizeiliche "Konfliktmanager" DemonstrantInnen verbal oder tätlich angreifen und so zur Eskalation beitragen,
die Auflagen nicht nur eine Kooperation mit der Polizei vorsehen, sondern auch,
die maximale Größe von Transparenten limitiert ist ("nicht länger als 3 Meter"),
der Mindestabstand zur Polizei festgelegt ist ("mindestens 1,50 Meter"),
die Gesichtsfarbe vorgeschrieben ist ("keine Schminke"),
bestimmte Kleidung verboten ist (keine "Halstücher" oder "Kapuzenpullover"),
nur bestimmte Fahnenstangen benutzt werden dürfen ("2 Zentimeter im Durchmesser", "Kantenlänge 2 Zentimeter"),
das Mitführen von Spielzeug verboten ist (keine "Wasserspritzpistolen"),
bestimmte Fortbewegungsarten untersagt sind ("nicht laufen und sprinten"),
jeder Zwergpinscher ein gefährlicher Kampfhund sein kann ("keine Hunde")...

Damit wird das Demonstrieren nicht nur behindert oder eingeschränkt, sondern (fast) unmöglich gemacht, ein Grundrecht im Kern tangiert.

Nach diesem staatlichen Umgang mit dem legitimen Protest muss sich die Friedensbewegung insgesamt und natürlich auch die DFG-VK mit den undemokratischen Auswüchsen der Polizei und anderer staatlicher Stellen auseinandersetzen. Sie sollten den Schutz so zentraler Grundrechte wie das auf freie Meinungsäußerung und der Versammlungsfreiheit aktiv betreiben. Die Beschneidung von Grundrechten und die Einschüchterung freier BürgerInnen durch massive Polizeipräsenz darf nicht normal sein oder werden. Wer Grundrechte einschränkt oder solches rechtfertigt, ebnet den Weg in diktatorische Verhältnisse! Die regierungsamtliche Einrichtung von "No-go-Zonen", der Angriff von Demonstrationen ist undemokratisch und muss Protest hervorrufen.

Andererseits müssen sich Friedensbewegung und DFG-VK davor schützen, dass ihre Aktionen und Proteste durch andere diskreditiert werden. Die vereinbarten Aktionsformen, müssen auch in Zukunft unseren Zielen und damit gewaltfreien Ansprüchen gerecht werden. Gerade aber nach den Ereignissen von Straßburg reicht es dann offensichtlich nicht aus, einen Konsens mit allen an der Vorbereitung beteiligten Gruppen über den friedlichen Verlauf der gemeinsamen Proteste zu formulieren. Es muss intensiv auch darüber diskutiert werden, wie bündnisferne Strukturen effektiv aus den gemeinsamen Protesten heraus gehalten werden können. Nach den jetzigen Erfahrungen wird es dazu nicht reichen, dies lediglich schriftlich zu proklamieren oder während der Demonstration über einen Lautsprecherwagen (sollte er denn da sein) zu erklären. Für friedliche und gewaltfreie Demonstrationen bedarf es vielmehr auch aktiver DemonstrantInnen, die motiviert, geschlossen und selbstbewusst Verstößen gegen den Konsens der Vorbereitungen begegnen. Wer die Demonstrations-Vorbereitung und -leitung oder engagierte DemonstrantInnen in der Demosituation allein lässt ("Ich habe damit nichts zu tun"), trägt mit dazu bei, wenn sich Demonstrationen von der geplanten und vorbereiteten Form entfernen.

Die Proteste in Baden-Baden, Kehl und Straßburg haben aus meiner Sicht deutlich gemacht, dass wir mit den althergebrachten Vorbereitungen friedenspolitischer Proteste an Grenzen gelangt sind. Sowohl durch das undemokratische Agieren der staatlichen Verwaltungen und der Polizei als auch durch die Geiselnahme friedlicher DemonstrantInnen durch gewalttätige Störer (fast nur Männer) sind andere Vorbereitungsformen dringend notwendig. Zusagen mitorganisierender politischer Spektren wie auch der Polizei müssen bis zum Ende der Proteste belastbar und verlässlich sein. Trotz der Erfahrungen bei den jüngsten Ereignissen plädiere ich zwar auch weiterhin dafür, möglichst frühzeitig mit allen Beteiligten ins Gespräch zu kommen, sich der Grenzen dabei aber immer bewusst zu sein. Die Vertreter, die Behörden und Polizei in Vorgespräche schickt, sind in der Regel nicht dieselben, die auch den Einsatz führen (eventuell mit anderer Motivation). Vertreter nicht-gewaltfreier politischer Strömungen sprechen in der Regel nicht für alle Teile dieses politischen Bereiches. Dabei lehne ich es ab, mit diesen Strömungen und Behörden nicht zu reden. Nur wenn wir auch mit anderen politischen Spektren reden und versuchen, zu Vereinbarungen zu kommen, können wir gesellschaftliche Veränderungen in unserem Sinne erreichen. Deshalb versuchen wir, mit Politikern der die Bundeswehrkriege tragenden Parteien ins Gespräch zu kommen. Deshalb reden wir mit aktiven Soldaten (z.B. den Irak-Veteranen gegen den Krieg oder dem Darmstädter Signal). Deshalb fordern wir kriegführende Parteien auf, in Beratungen über die Beendigung von Feindschaften zu treten...

Gerade auch gewaltfreie Gruppen sind bei der Vorbereitung politischer Aktionen darauf angewiesen zu wissen, auf welche Reaktion der anderen, der staatlichen Seite man sich einstellen muss. Bei vielen Aktionen, seien es Blockaden, Entzäunungsaktionen oder auch Besetzungen, wurde das mit Kontakten zur Polizei im Vorfeld versucht. Doch was, wenn die Polizei gar nicht reden will? Was, wenn die Polizei zwar redet, sich dann aber nicht an Absprachen oder Zusagen hält? Was, wenn potenzielle BlockiererInnen sich auf einen öffentlichen Platz lediglich versammeln, ohne in der Nähe von Blockadezielen (Straßen, Häusern, Autos, Polizei) zu sein, und von der Polizei lange vor der Aktion und aus einer Entfernung von 200 Metern bereits mit Tränengas angegriffen werden? Was, wenn selbst ARD-Journalisten den Hinweis geben, dass die DemonstrantInnen "froh" sein können, von Polizei "nicht wie in Algerien" behandelt worden zu sein?

Es gibt in den nächsten Monaten also viel zu tun, denn die nächsten Proteste werden nicht lange auf sich warten lassen. Das Wichtigste jedoch ist: Wenn wir nicht bereit sind, unsere Grundrechte auch in Anspruch zu nehmen und zu verteidigen, werden andere diese Rechte bis zur Unkenntlichkeit verunstalten.

Deshalb: Organisieren wir die nächsten Proteste gegen Krieg, Rassismus, Sozialabbau und für die Grundrechte auf Leben, Meinungsfreiheit, Demonstrationsrecht, Kriegsdienstverweigerung.


Monty Schädel ist Bundesgeschäftsführer der DFG-VK und war einer der Hauptorganisatoren der Proteste gegen den Nato-Gipfel


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
Monty Schädel bei bei der Demonstration in Baden-Baden am 4. April beim Versuch, als Versammlungsleiter einen Streit mit der Polizei zu schlichten


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Quelle:
ZivilCourage Nr. 2 - Mai 2009, S. 12 - 13
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK e.V.),
Kasseler Straße 1A, 60486 Frankfurt
Redaktion: ZivilCourage, Postfach 90 08 43, 21048 Hamburg
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Erscheinungsweise: zweimonatlich
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Einzelheft: 2,00 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juni 2009