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BERICHT/036: 13 Perspektiven auf das Grundgesetz - Ringvorlesung (Mitteilungen)


MITTEILUNGEN Nr. 205, II - September 2009
Humanistische Union für Aufklärung und Bürgerrechte

13 Perspektiven auf das Grundgesetz
Gemeinsame Ringvorlesung von Humanistischer Union und Berliner Institut für Recht und Gesellschaft

Von Sven Lüders


"Wir haben uns in den letzten Jahren vom Ideal der Bürgergesellschaft immer weiter entfernt ... die freiheitliche Substanz unserer Verfassung ist ohne den Nachweis einer zwingenden Notwendigkeit spürbar verringert worden." Dies schrieb Burkhard Hirsch vor 10 Jahren, aus Anlass des 50jährigen Bestehens der Bundesrepublik und ihrer Verfassung (s. Mitteilungen 166, S. 33 ff.). Seine damalige Bilanz enthielt eine umfangreiche 'Heldentatenliste der innenpolitischen Aufrüstung', etwa den großen Lauschangriff, zunehmende Telefonüberwachungen, DNA-Dateien... 10 Jahre später legen Humanistische Union und Gustav Heinemann-Initiative gleich ein ganzes "Graubuch Innere Sicherheit" vor, um die weitere innenpolitische Entwicklung zu beschreiben.

Und wieder stellt sich angesichts des Jubiläums die Frage: Wo stehen wir heute? Was ist aus der Kritik von einst und den damaligen Erwartungen geworden?

Diese Fragen griff die Ringvorlesung "60 Jahre Grundgesetz" im Sommersemester auf. Gemeinsam mit dem Institut für Recht und Gesellschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin (LSI) wollten wir Anspruch und Wirklichkeit unserer Verfassung vergleichen, eine Standortbestimmung vornehmen: Vor welchem Hintergrund verstehen wir heute unsere Verfassung?

Welchen Wandel hat sie in den letzten Jahren erfahren? Und wohin entwickelt sich unser Grundgesetz? Neben Bestandsaufnahmen über einzelne Verfassungswerte (Menschenwürde, Gleichheit, Friedensgebot und Religionsfreiheit) bot die Reihe auch übergreifende Perspektiven, etwa auf das Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Verfassungsrechtssprechung, auf die sicherheitspolitischen Entwicklungen nach den Anschlägen des 11.9.2001 oder die europäischen Perspektiven unserer Grundrechtsordnung.

Eine kleine Auswahl der Vorträge dokumentieren wir hier, die weiteren finden sich im Internet.

Was haben wir mit der Vorlesungsreihe erreicht? Nun, zunächst einmal die 50 bis 200 Zuhörer/innen, die jeweils den Vorträgen lauschten und sich teils sehr engagiert an den Diskussionen beteiligten. Darüber hinaus bot die interdisziplinäre Zusammensetzung der Referenten manch wissenschaftlichen Kontext für unsere Themen, der die HU-eigenen Positionen bereichern konnte.

Mit dem Anspruch der HU, mehr Rationalität in die Politik zu tragen, gehört der Austausch zwischen wissenschaftlichen und politischen Diskursen eigentlich zu unserem Arbeitsprogramm. Die Kooperation mit dem rechtssoziologischen LSI bot dafür beste Voraussetzungen, wir hoffen sie Gelegenheit fortzusetzen. Zum Erkenntniswert der Reihe trugen schließlich auch die Außenperspektiven bei, die nicht nur für die nötige Spannung sorgten, sondern mit ihren konträren Positionen bei der eigenen Standortbestimmung halfen.


Eine Audiodokumentation der meisten Vorträge ist im Internet abrufbar:
http://www.humanistische-union.de/veranstaltungen/2009/gg60/.

Das LSI bereitet eine Publikation der Vorträge in englischer Sprache vor, über deren Erscheinen wir in den Mitteilungen informieren.


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Identität und Wandel. Das Grundgesetz 1949 und heute

Vortrag von Dieter Grimm


Was ist von dem Grundgesetz, welches am 23. Mai 1949 in Kraft trat, heute eigentlich noch übrig? Wenn man es formal betrachtet, so Dieter Grimm, sei in diesen 60 Jahren viel passiert: Vom ursprünglichen Text, der Präambel und den 146 Artikeln, haben zwar noch 81 Artikel (55 %) den gleichen Wortlaut wie 1949; darunter sind aber allein 26 Artikel aus den "Übergangs- und Schlussbestimmungen", von denen viele bereits "erledigt" sind.

Deshalb könne man - am reinen Text gemessen - sagen, dass mehr geändert als erhalten wurde. Aber ist dies ein passendes Verständnis von Identität? Und wie verhalten sich der Text, seine Interpretation und Ausdeutung, sowie das soziale Umfeld, in dem die Verfassung angewandt wird, in der 60jährigen Geschichte des Grundgesetzes zueinander?

Diesen Dimensionen von Verfassungsänderung und Verfassungswandel spürte Grimm in seiner Vorlesung über Identität und Wandel des Grundgesetzes nach.

Die Generalrevisionen unserer Verfasung sind schnell aufgezählt: die ersten beiden - Wehrverfassung (1955) und Notstandsverfassung (1968) - wurden noch von breitem öffentlichen Protest begleitet, die folgenden liefen geräuschloser über die Bühne, von der Finanz- und Föderalismusreform 1969 über die Änderungen im Zuge der Wiedervereinigung (1994) bis zur Föderalismusreform 2006.

Welche politischen Auswirkungen Verfassungsänderungen hervorrufen können, zeigte Grimm am föderalen Gefüge des Grundgesetzes. Die stetige Zunahme zustimmungspflichtiger Gesetzgebung führt zu einer "Verhandlungsdemokratie", in der interne Arbeitsgruppen Kompromisse aushandeln, die mit Rücksicht auf Koalitionsabsprachen und Mehrheitsverhältnisse der Länderkammer im Parlament nur noch abgestimmt werden.

Erfreulicher als die Textänderungen, die allzu oft die Schwellen für staatliche Eingriffe in Grundrechte senkten, war für Bürgerrechtler der Verfassungswandel, den das Grundgesetz in 60 Jahren erfuhr. Angefangen bei der schrittweisen Bindung aller staatlichen Gewalt an die Grundrechte bis zur Ausgestaltung des Artikels 2 als allgemeinem Auffang-Grundrecht hat sich das Grundgesetz in seiner Anwendung als sehr flexibel bewiesen - und so schützt es heute wie selbstverständlich E-Mails und Computerfestplatten, obwohl daran 1949 niemand denken konnte.

(Zusammenfassung: Sven Lüders)


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Das Anikonische des Grundgesetzes und die Galerie der Kanzler

Vortrag von Horst Bredekamp


Manchmal sagt ein Bild mehr als tausend Worte. Das zeigte Horst Bredekamp mit seinem Beitrag über die Ikonografie des Grundgesetzes und die Galerie der Kanzler. Entgegen dem Programm, das die Verfassung noch als anikonisches Dokument angekündige, präsentierte der Vortrag eine Bildgeschichte des Grundgesetzes, mit der Bredekamp bereits in der Typografie des Dokumentes ansetzte.

Die Urkunde des Grundgesetzes zeichne sich durch einen modernen Schrifttyp aus, der sich bewußt von traditionellen Schriftzügen absetze. Damit distanziere sich das Grundgesetz nicht nur von der bisherigen Staats- und Verfassungstradition Deutschlands, es negiere zugleich den herrschaftlichen Charakter des Dokumentes. Dieses Motiv einer protestantischen Enthaltsamkeit gegenüber der Macht und ihren Symbolen verfolgte Bredekamp in den Bildern des Unterzeichnungsaktes und der Galerie der Kanzler.

Die Aufnahmen von Erna Wagner-Hehmke zeigen die Tristesse und Enthaltsamkeit bei der Ratifikation des Grundgesetzes. Aufgereiht sitzen die Vertreter des Parlamentarischen Rates und der Länder, um einem Staatsakt beizuwohnen, der diesen Titel kaum verdient. Einziges Symbol ist eine aufgespannte Deutschlandfahne, die in das Podium hinein ragt.

Die Unterzeichnung selbst findet an einem weiß eingedeckten Podium statt, an dem ein Ministerpräsident nach dem anderen auf einem Holzschemel Platz nimmt. Die Dokumentation des Geschehens vermeidet jede Überhöhung der Protagonisten, eine feierliche Atmosphäre kommt nicht auf. Bredekamp erläuterte, wie mit fotografischen Mitteln das Selbstverständnis einer provisorischen, in ihrer Selbsreflektion gehemmten Staatsmacht stilisiert wird.

Das bisweilen ironisch anmutende Selbstverständnis durchzieht auch die Galerie der Kanzler, der sich Bredekamp abschließend widmete. Fallen politische Weltbilder und Persönlichkeiten auch weit auseinander, so eint die Kanzlergalerie von Adenauer bis Kohl der Versuch, die Staatsmänner als reflektierte, geistvolle Menschen darzustellen und sie von ihrem ikonografischen Vorbild - dem Fürstengemälde - abzusetzen.

Umstritten blieb allein die Deutung des jüngsten Bildnisses (G. Schröder), dessen Bruch mit der Tradition enthaltsamer Staatsmacht offensichtlich ist.

(Zusammenfassung: Sven Lüders)


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Gleichheit und Differenz

Vortrag von Susanne Baer


Wer darf eigentlich mitfeiern, wenn zur Party für den 60. Geburtstag des Grundgesetzes eingeladen wird? Die Zusammenstellung einer fiktiven Gästeliste nutzte Susanne Baer, um eine kleine Geschichte des Gleichheitsgrundsatzes zu entwerfen. Artikel 3 sei die Geschichte eines "Grundrechts von unten", für dessen Anerkennung und Durchsetzung immer wieder mobilisiert werden musste.

Der Streit um Gleichheit und Differenz in der Verfassung begann bereits im parlamentarischen Rat, wo sich Elisabeth Selbert als eine von vier Frauen mit ihrer Forderung nach Gleichberechtigung zunächst nicht durchsetzen konnte. Die Gegenargumte sind noch heute geläufig - sie reichten von der Banalisierung ('Ist doch klar... Wollen wir ja alle...') bis zur offenen Ablehnung ('Im Privaten geht das aber zu weit...'). Um die antifeministische Front zu durchbrechen, organisierte Selbert gemeinsam mit Frauenverbänden eine Postkartenaktion. Die veranlasste schließlich die FDP zum Einlenken und verhalf dem allgemeinen Gleichheitssatz zum Durchbruch.

Die Ernüchterung über den vermeintlichen Erfolg stellte sich bald ein: Auch so selbstverständliche Folgen wie gleicher Lohn für Frauen und Männer blieben aus, Artikel 3 Absatz 2 blieb zunächst ein "schlafendes Grundrecht". Dass daraus mehr wurde, ist nicht zuletzt jenen über 100 Beschwerdeführer/innen zu danken, die gegen diskriminierende Praktiken in Karlsruhe, Kassel oder Leipzig klagten. Die Geschichte des Artikel 3 sei deshalb, so Baer, vor allem eine "Geschichte der Juristinnen und Juristen, die zur Protestbewegung befugt haben, und der Bürgerrechtsorganisationen und Gewerkschaften".

Bei den zumeist männlichen Spruchkörpern der Gerichte trafen die Forderungen auf unterschiedliches Gehör: Während der allgemeine Gleichheitsgrundsatz in Karlsruhe eine "klare Erfolgsgeschichte" verzeichnen konnte - immer wieder wurde der Gesetzgeber zu rationalem Handeln ermahnt - ignorierten die Richter Forderungen nach einer Gleichbehandlung von Männern und Frauen oft, lieferten für manche Form der Diskriminierung (1957 Homosexualität) gar biologische Begründungen ab. Viele Richterinnen und Richter mochte Baer deshalb nicht zur Party einladen - zu sehr seien die Gerichte im Bad des Zeitgeistes geschwommen.

(Zusammenfassung: Sven Lüders)


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Geschichte des Grundgesetzes

Vortrag von Christian Bommarius


Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes zeigt: Die heute verbreitete Begeisterung für unsere Verfassung war nicht immer vorhanden. Als sich im August 1948 die "Verfassungseltern" zum Konvent trafen, war ein Teil der Deutschen noch in der Gesinnung des Nationalsozialismus gefangen, der andere Teil von seiner Unschuld überzeugt.

Zudem herrschte die Auffassung, dass es sich bei der Gründung Westdeutschlands nur um eine Übergangslösung handle, das Grundgesetz nur provisorischen Charakter habe. Christian Bommarius zitierte in seiner Vorlesung zur Geschichte des Grundgesetzes eine Umfrage aus dem März 1949, wonach 40 % der befragten Westdeutschen dem Grundgesetz gleichgültig gegenüber standen, 33 % zeigten sich mäßig und nur 21 % stärker daran interessiert.

Bommarius widmete sich den Umständen, unter denen das Grundgesetz entstand. Sein Vortrag erzählte von den 77 Männern und Frauen, die drei Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur, im beginnenden Kalten Krieg zusammen kamen, um über eine demokratische Verfassung zu beraten. In keinem anderen westdeutschen Nachkriegsparlament saßen so viele Nazi-Gegner und Nazi-Opfer wie im parlamentarischen Rat.

Unter diesen Voraussetzungen war es, so Bommarius, um so erstaunlicher, dass sich mit dem Grundgesetz eine "kopernikanische Wende" im Staatsbild der Deutschen vollzog: Mit der neuen Verfassung endete der deutsche Obrigkeitsstaat und wurde durch einen Staat der Bürger ersetzt, die von nun an Freiheitsgarantien gegenüber dem Staat genossen. Am neuen Staats- und Menschenbild hob Bommarius insbesondere die Garantie der Menschenwürde hervor, Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz.

Bommarius warnte davor, dass dieser Kerngedanke unserer Verfassung zunehmend unter die Räder gerate: "Wer die einschlägigen Karlsruher Urteile der letzten Jahre liest, muss den Eindruck haben, dass die Menschenwürde noch was gilt, nur mit ihrer Garantie durch die Politik ist es nicht mehr weit her", kritisierte er. Die Urteile zum großen Lauschangriff, der Online-Durchsuchung und dem Luftsicherheitsgesetz machten deutlich, dass die in den Grundrechten enthaltene Abstandsgarantie zwischen Staat und Bürgern nicht immer gewahrt werde.

(Zusammenfassung: Nina Eschke)


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Quelle:
Mitteilungen der Humanistischen Union e.V.
Nr. 205, II - September 2009, S. 8-10
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Oktober 2009