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FREE GAZA/097: "Es war ein Akt der Piraterie" - Interview mit Christine Buchholz (jW)


junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 1. Juni 2010

»Es war ein Akt der Piraterie«

Völkerrechtswidriger Angriff auf »Free Gaza«-Solidaritätsflotte.
Linke verlangt Freilassung aller Gefangenen.
Ein Gespräch mit Christine Buchholz

Interview von Claudia Wangerin


Christine Buchholz ist friedenspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag.

Frage: Ihre Fraktionskolleginnen Annette Groth und Inge Höger befanden sich an Bord der zum internationalen Gaza-Solidaritätskonvoi gehörenden »Marmara«, als das Schiff in der Nacht zum Montag von israelischen Soldaten gestürmt wurde. Hatten sie mit einer so schlimmen Entwicklung gerechnet, als sie aufbrachen?

Christine Buchholz: Niemand von uns ist davon ausgegangen, daß die israelische Armee mit einer solchen Brutalität vorgeht und billigend in Kauf nimmt, daß Aktivistinnen und Aktivisten dabei zu Tode kommen. Sie wollten doch lediglich Hilfsgüter für die palästinensische Bevölkerung in den abgeriegelten Gazastreifen bringen.

Frage: Wie hatten sich die Teilnehmer der Solidaritätsflotte auf eine Begegnung mit der israelischen Armee eingestellt?

Christine Buchholz: Für die»Free Gaza«-Bewegung war klar: Wir lassen uns nicht aufhalten, wir fahren weiter. Ebenso klar war aber, daß gegen eine solche militärische Übermacht kein Widerstand geleistet wird. Unbewaffnete Zivilisten sind selbstverständlich unterlegen, sobald sich bewaffnete Elitesoldaten auf ein Schiff abseilen. Unabhängig von der Aussichtslosigkeit würde ich es aber als Notwehr werten, wenn sich jemand in einem solchen Fall zu wehren versucht. Wir reden hier nämlich von einem Akt der Piraterie in internationalen Gewässern!

Die Gewalt ist von israelischer Seite ausgegangen. Eine Diskussion über die Gewaltbereitschaft der Angegriffenen anzustoßen, wie jetzt versucht wird, halte ich für reine Ablenkung. Natürlich wußten alle Beteiligten, daß es eine riskante Aktion ist. Die »Free Gaza«-Bewegung hat versucht, den politischen Preis hochzutreiben - unter anderem durch die Präsenz von zwei Bundestagsabgeordneten und weiteren Prominenten an Bord. Mit Norman Paech war auch noch ein ehemaliger Bundestagsabgeordneter dabei. Aber im Grunde kann man sich nicht auf eine solche Situation einstellen, sondern nur versuchen, politischen Druck durch die Öffentlichkeit zu erzeugen, um so etwas zu verhindern. Das hat offenbar nicht gereicht - und es ist schockierend, mit welcher Härte die israelische Armee zugeschlagen hat. Die Bundesregierung muß den Angriff mit schärferen Worten als bisher verurteilen.

Frage: Die Teilnehmer hatten sich von der Prominenz einiger Mitreisender einen gewissen Schutz versprochen - rund 700 Aktivistinnen und Aktivisten waren insgesamt an Bord der Schiffe. In der israelischen Hafenstadt Aschdod wurde für sie schon vor einigen Tagen ein Lager eingerichtet. Welche Schritte wollen Sie jetzt unternehmen?

Christine Buchholz: Unser wichtigstes Ziel ist die Freilassung aller Gefangenen. Wir verlangen die Gleichbehandlung aller Betroffenen, weil alle zu Unrecht festgesetzt wurden. Deutsche Behörden haben natürlich mehr Möglichkeiten, sich um die fünf Teilnehmer mit deutschen Pässen zu kümmern. Zu ihnen hatten wir bisher intensiveren Kontakt, den wir aber noch nicht wieder herstellen konnten. Im Augenblick sind wir dabei, uns weitere Schritte zu überlegen. Wir haben Kontakt zum Auswärtigen Amt aufgenommen, ebenso zur israelischen Botschaft. Bisher haben wir aber noch keine Auskunft erhalten, wo sich die deutschen Teilnehmer genau befinden. Die kleineren Schiffe sind nach meinen Informationen schon am Montag morgen im Hafen von Ashdod eingetroffen.

Frage: Schiffe der Bundesmarine stehen vor der libanesischen Küste, unweit des Orts des Überfalls, in einem Auslandseinsatz. Haben Sie vor, auch vom Verteidigungsministerium eine Stellungnahme zu verlangen?

Christine Buchholz: Über weitere Schritte müssen wir uns noch abstimmen. Vom Verteidigungsministerium wüßte ich jedenfalls gern, welche Informationen sie über den Vorgang hatten, ob die deutsche Marine die Schiffsbewegungen registriert hat und ob sie gar über den geplanten Übergriff informiert wurde.


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Quelle:
junge Welt vom 01.06.2010
mit freundlicher Genehmigung des Autorin und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juni 2010