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STANDPUNKT/032: 22 Jahre deutsche Einheit - 11 Jahre Krieg in Afghanistan (Friedensratschlag)


Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag vom 5. Oktober 2012

22 Jahre deutsche Einheit - 11 Jahre Krieg in Afghanistan

Friedensbewegung: Truppen raus - sofort und bedingungslos

- Nach US-Teilabzug: Panetta lügt schamlos
- Schon 200.000 Kriegstote in Afghanistan und Pakistan
- Es wird keinen Abzug 2014 geben
- Friedensratschlag: NATO-Krieg sofort und bedingungslos beenden!



Kassel/Berlin, 5. Oktober 2012 - Anlässlich des elften Jahrestags des Beginns des Afghanistankrieges am 7. Oktober 2001 erklären die Sprecher des Bundesausschusses Friedenratschlag, Dr. Peter Strutynski und Lühr Henken, in einer Stellungnahme:

Am 3. Oktober 2012 wird wieder der Tag der Einheit gefeiert - zum 22sten Mal. Am 7. Oktober jährt sich zum 11. Mal der Beginn des Afghanistankriegs - an dem die Bundeswehr des größer gewordenen Deutschland beteiligt ist. Zum Zweck solcher Kriege wird seit zwei Jahrzehnten die Bundeswehr, die laut Grundgesetz nur zur "Landesverteidigung" geschaffen wurde, in eine "Armee im Einsatz" transformiert. Über 30 Auslandseinsätze - teils mit der NATO, teils mit der EU - hat diese Interventionsarmee bisher absolviert; der Afghanistaneinsatz mit derzeit rund 5.000 deutschen Soldaten ist der längste und größte dieser Einsätze.

Je magerer die Bilanz dieses Krieges, desto größer die Lügen der Interventionsmächte. Ende Juni 2009 wurde Michael Mullen, der damalige Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs der USA, mit den Worten zitiert: "Wir müssen in den kommenden zwölf bis 18 Monaten die Wende in Afghanistan erreichen. Andernfalls schaffen wir es womöglich gar nicht." Ende des Jahres 2009 befahl US-Präsident Obama zu diesem Zweck eine Aufstockung ("surge") seiner ISAF-Truppen um 33.000 Mann. Nach etwa 30 Monaten Einsatz verkündete US-Verteidigungsminister Panetta in der letzten Woche den Abzug dieser zusätzlichen Truppen und verband das mit der Feststellung, "surge" habe seine Ziele erreicht, die Taliban seien "auf dem Schlachtfeld geschwächt" worden. Eine Zwecklüge, die mehr die Präsidentschaftswahl in den USA als die Realität in Afghanistan im Auge hat. Die sieht ganz anders aus als das Wunschbild Panettas: Von einer Abnahme der Kampfaktivitäten der "Taliban" kann keine Rede sein. Der Vergleich "vorher - nachher" bezeugt das gerade Gegenteil. ISAF-Zahlen der Zeiträume jeweils von Januar bis August der Jahre 2009 und 2012 belegen, dass die "Taliban"-Angriffe in der Summe 2012 um 70 Prozent höher sind als 2009, also unmittelbar vor dem "surge"! Im selben Zeitraum wurde auch die Zahl der afghanischen Sicherheitskräfte auf 340.000 Soldaten und Polizisten verdoppelt.

Inzwischen pfeifen es die Expertenspatzen von den Dächern: Die von Mullen gewünschte Wende auf dem Schlachtfeld zugunsten der NATO und des afghanischen Militärs hat nicht stattgefunden und wird es auch nicht geben. Dies gilt unabhängig davon, ob die NATO bis Ende 2014 tatsächlich den Großteil ihrer Truppen abgezogen haben wird oder weiter Krieg führen will. Die NATO kann diesen Krieg nicht gewinnen. Wir nennen das eine Niederlage.

Welches war der Preis? Säuberlich dokumentiert sind US-Steueraufkommen für den Afghanistankrieg in Höhe von 552 Milliarden Dollar und 2.125 tote US-Soldaten und Soldatinnen. Nach offiziellen Zahlen über getötete Zivilpersonen oder Kombattanten sucht man allerdings vergeblich. Hier ist man auf unabhängige Studien angewiesen, die ihre Schätzungen auf der Grundlage von Medienmeldungen und Krankenhausberichten machen müssen und nicht über die nötigen Geldmittel verfügen, um wesentlich präzisere Umfragen vor Ort durchführen zu können. Studien im Auftrag der IPPNW kommen auf Schätzungen von 70.000 bis 100.000 Ziviltote in Afghanistan. Die Zahl der direkten Kriegstoten unter Einbezug auch der Kombattanten kann bis zu 150.000 betragen.

Eine unmittelbare Folge des NATO-Krieges in Afghanistan ist seine Ausweitung auf Pakistan. Die britisch-amerikanischen Angriffe seit dem 7. Oktober 2001 haben die "Taliban" nach Pakistan vertrieben (wo viele von ihnen ursprünglich auch herkamen, um mit US-Unterstützung gegen die sowjetischen Truppen zu kämpfen) und die wichtigen NATO-Nachschublinien verlaufen über Pakistan. Seit 2004 fliegen die USA terroristische Angriffe mit unbemannten Flugzeugen (Drohnen) vor allem gegen Ziele im pakistanischen Nord-Waziristan. Ihnen fielen mehr als 3.000 Menschen zum Opfer, darunter bis zu 800 Zivilpersonen. Dieses völkerrechtswidrige Vorgehen stößt auf massive Ablehnung in der Bevölkerung Pakistans. Die pakistanische Armee führt auf Druck der USA zudem seit 2007 einen Krieg gegen "Taliban". Schätzungen des in Neu Delhi ansässigen South Asian Terrorism Portal geben die Zahl der Getöteten in diesem "Anti-Terrorkrieg" mit knapp 44.000 an, über 14.000 davon seien Zivilpersonen. Wahrscheinlich ist hier eine Dunkelziffer anzunehmen, so dass die Zahl der Getöteten insgesamt bei über 60.000 liegen dürfte.

Der NATO-Krieg am Hindukusch hat somit etwa 200.000 Menschenleben gefordert, etwa die Hälfte davon sind zivile Opfer.

Hinzu kommen die gesundheitlichen Schäden der NATO-Soldatinnen und Soldaten. Während nach offiziellen Schätzungen schon rund ein Drittel der US-Soldaten mit psychischen Problemen kämpft und die Zahl ihrer jährlichen Selbsttötungen höher liegt als die der im Krieg Gefallenen, beträgt der Anteil der in Afghanistan eingesetzten Bundeswehrangehörigen, die von posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) betroffen sind, nach neuesten Untersuchungen 4,2 Prozent. Das Problem nimmt aber dramatisch zu: In den letzten drei Jahren haben sich die Erkrankungen verdreifacht.

Die NATO beabsichtigt nicht, Afghanistan nach 2014 komplett zu verlassen und befestigt schon jetzt ihre großen Stützpunkte im Norden des Landes, so dass von einer Dauerbesetzung auszugehen ist. Sowohl Verteidigungsminister de Maizière als auch der Bundeswehrverband gehen inzwischen davon aus, dass auch nach 2014 deutsche Truppen in Afghanistan bleiben müssen: Ausbilder für die afghanischen Sicherheitskräfte und Kampftruppen, um die Ausbilder zu schützen. Hintergrund ist die zunehmende Unzuverlässigkeit der afghanischen Sicherheitskräfte (Polizei und Armee). In letzter Zeit häufen sich Vorfälle, bei denen ISAF-Soldaten von "verbündeten" afghanischen Soldaten angegriffen werden. So ergibt sich ein klares Bild: Der Krieg am Hindukusch wird weiter gehen, so lange ausländische Besatzungstruppen im Land sind.

Auch wenn die Regierungen der NATO-Staaten nicht müde werden, immer wieder zu betonen, dass der Zweck ihres Krieges darin bestehe, zu verhindern, dass Afghanistan wieder zu einer sicheren Zuflucht für Terroristen werde, verfolgen sie an der geopolitisch zentralen Schnittstelle Asiens eine andere Agenda. Auf Kosten der afghanischen Bevölkerung sollen hier westliche militärische Brückenköpfe errichtet werden - am Rande der Persischen Golfes, der "Tankstelle der Welt", und in unmittelbarer Nachbarschaft Chinas und Russlands. Dies wird zu einer Zunahme der Spannungen in der Region führen und das Wettrüsten beschleunigen. Wir fragen, weshalb werden Angebote der "Taliban" zu einem Waffenstillstand und ihr klares Abrücken von Al Kaida vom Westen nicht als Angebot zu einer wirklichen Wende aufgegriffen. Vor wenigen Tagen hat das renommierte Londoner Royal United Service Institute for Defence & Security Studies (RUSI) eine Untersuchung veröffentlicht, wonach höchste Repräsentanten der Taliban ihr Interesse an gangbaren Wegen aus dem Krieg bekundet haben. In Aussicht gestellt werden etwa eine allgemeine Feuerpause als erste vertrauensbildende Maßnahme, Verhandlungen über eine Aufteilung der politischen Macht im Land, das Angebot an die USA, ihre Militärpräsenz für einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten, und die Tolerierung weltlichen Lehr- und medizinischen Personals sowie moderner Natur- und Technikwissenschaften.

Wir sagen, es gibt nach wie vor kein Argument, das die Fortsetzung des NATO-Krieges auch nur für einen einzigen Tag rechtfertigen würde. Wir fordern die Bundesregierung auf, sofort den Befehl zur Einstellung der Kampfhandlungen zu geben, und den kompletten Rückzug unverzüglich einzuleiten. Für die durch den NATO-Krieg angerichteten Zerstörungen in Afghanistan und Pakistan sind von den NATO-Staaten Entschädigungszahlungen zu leisten.

Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Lühr Henken, Berlin
Peter Strutynski, Kassel

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Quelle:
Pressemitteilung vom 5. Oktober 2012
Bundesausschuss Friedensratschlag
Germaniastr. 14, 34119 Kassel
Telefon: (0561) 93717974
E-Mail: strutype@uni-kassel.de
Internet: http://www.ag-friedensforschung.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Oktober 2012