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STANDPUNKT/090: Kurdische Zivilgesellschaft lehnt bewaffneten Unabhängigkeitskampf ab (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 30. Januar 2015

Politik: Kurdische Zivilgesellschaft lehnt bewaffneten Unabhängigkeitskampf ab

von Fabiola Ortiz


Bild: © Fabiola Ortiz/IPS

Markt in Diyarbakir im Südosten der Türkei
Bild: © Fabiola Ortiz/IPS

Diyarbakir, 30. Januar (IPS) - Ein Bruch in der Bewegung für ein unabhängiges Kurdistan hat den Stimmen Auftrieb gegeben, die Waffengewalt zur Durchsetzung der Autonomiebestrebungen grundsätzlich ablehnen. Die 40 Millionen Kurden sind die weltweit größte ethnische Gruppe ohne eigenen Staat und ohne Verfassungsrechte.

"Wir sind das einzige Volk mit einer großen Bevölkerung, das kein Land besitzt", sagt Murat Aba, Mitbegründer der Kurdischen Freiheitspartei (PAK). "Seit dem Ersten Weltkrieg sind wir gespalten. Uns wurde nie gestattet, uns selbst zu regieren. Wir sind keine Minderheit, sondern eine Vielzahl von Menschen. Und wir verteidigen die Unabhängigkeit der vier kurdischen Gruppen im Iran, Irak, in Syrien und in der Türkei."

Die PAK existiert formell seit Ende 2014. Sie ist die erste rechtlich anerkannte Partei in der Türkei, die das Wort 'Kurdistan' in ihrem Namen tragen darf. Laut ihrem Vorsitzenden Mustafa Ozcelik arbeitet sie darauf hin, die Unabhängigkeit für die Kurden mit Hilfe "politischer und rechtlicher Mittel" durchzusetzen.

Damit unterscheidet sie sich deutlich von der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), die in den 1970er Jahren entstand, um in der Türkei mit Waffengewalt die Gründung eines kurdischen Staates durchzusetzen. Die Gefechte zwischen PKK-Kämpfern und Regierung kosteten bisher mehr als 40.000 Menschen das Leben.

Derzeit werden etwa 20.000 PKK-Mitglieder in den Kandil-Bergen im Norden des Irans ausgebildet. Das Gebiet liegt 1.000 Kilometer von Diyarbakir, der wichtigsten kurdischen Stadt der Türkei, entfernt. Viele PKK-Anhänger kämpfen inzwischen gegen die islamistische Terrorgruppe 'Islamischer Staat' in Syrien und im Irak.


Finanzierungshilfe von den Kurden in Europa

Die PKK-Operationen würden heimlich von in Europa lebenden Kurden finanziert, räumt Hatip Dicle von der seit Dezember 2009 ebenfalls verbotenen Partei der Demokratischen Gesellschaft (DTK) ein. Deren Mitglieder sympathisieren mit Teilen der PKK-Ideologie: "Die Regierung der Türkei gestattet uns nicht, auf legalem Weg Spenden zu sammeln", sagt Dicle. In Europa leben etwa zwei Millionen Kurden.

Dicle zufolge hält die PKK am bewaffneten Kampf fest, obwohl sie eine Bewegung für Demokratie sei. Seit einigen Jahren führt die verbotene Partei geheime 'Friedensgespräche' mit der türkischen Regierung. Unter Vermittlung hochrangiger Mitglieder seines Kabinetts verhandelt Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan mit dem seit 1999 inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan.

Die DTK hat seit Beginn der Friedensgespräche zwischen den türkischen Behörden und Öcalan an Stärke gewonnen. "Wir wollen jetzt das Ende des Konflikts erreichen. Dazu streben wir eine gemeinsame Lösung an", sagt Dicle.

Die Geheimniskrämerei bei den Verhandlungen zwischen Öcalan und der Regierung wird allerdings von all denjenigen, die einen offenen Friedensprozess fordern, scharf kritisiert. "Die Friedensgespräche sollten einen anderen Verlauf nehmen. Es gibt überhaupt keine Transparenz. Wir sind dagegen, dass in unserem Unabhängigkeitskampf Schusswaffen gebraucht werden", erklärt der Menschenrechtsanwalt Sabehattin Korkmaz Avukat, der umfassende Verfassungsreformen in der Türkei fordert. "Wir wollen den Weg der Demokratie und nicht den der Gewalt gehen. Ziel unseres Kampfes ist es, unsere Autonomie auf friedliche Weise zu erlangen. Unsere Rechte sollen in die zivile Verfassung aufgenommen werden."

Mohammed Akar, Generalsekretär der kürzlich von ihm gegründeten kurdischen Organisation 'Komeleya Sex Seid' spricht sich ebenfalls für einen gewaltfreien Unabhängigkeitskampf aus. "Gewalt könnte sogar unseren Anspruch auf Demokratie zunichte machen", warnt er. Die Organisation, die sich der Kultur und Bildung für Kurden widmet, ist nach einem sunnitischen Scheich benannt, der während der nationalistischen Regierung von Mustafa Kemal Atatürk (1923 bis 1938) in der Türkei einen Kurdenaufstand anführte.

Bis vor kurzem war es im Land verboten, in der Öffentlichkeit von Sex Seid zu sprechen oder Bilder von ihm zu zeigen. Erstmals hat eine Einrichtung der Zivilgesellschaft von den türkischen Behörden die Genehmigung erhalten, seinen Namen zu führen.

Der bekannte kurdische Schriftsteller und Politologe Ibrahim Guclu warf indes der PKK Drogenschmuggel, Zwangsrekrutierungen und die Nötigung junger Kurden vor. "Die PKK ist eine illegale Vereinigung, deren Anführer seine Anhängerschaft vom Gefängnis aus zu steuern versucht", kritisiert er. "Wir hingegen sind anders und wollen eine offene Diskussion in der Gesellschaft führen." (Ende/IPS/ck/2015)


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http://www.ipsnews.net/2015/01/kurdish-civil-society-against-use-of-arms-to-gain-autonomy/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Februar 2015


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