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STANDPUNKT/133: Wider den Furor teutonicus (Ingolf Bossenz)


Wider den Furor teutonicus
Die Debatte um die deutsche »Vergewaltigungskultur« stutzt die Kölner Schreckensnacht auf Normalmaß zurecht

von Ingolf Bossenz, 20. Januar 2016


Am 18. April 2005 hielt Joseph Ratzinger als Dekan des Kardinalskollegiums im Petersdom die Predigt vor der Eröffnung des Konklaves zur Wahl des Nachfolgers von Papst Johannes Paul II. Der deutsche Prälat, der einen Tag später die Sixtinische Kapelle als Benedikt XVI. verlassen sollte, ließ seine detail- und wortreiche Exegese von Texten aus dem Alten und Neuen Testament in zwei essenzielle Mahnungen münden: Er warnte vor einer »Diktatur des Relativismus« sowie vor der »Banalisierung des Bösen«.

Zehn Jahre und neun Monate später (B16 ist seit fast drei Jahren im pontifikalen Ruhestand) sowie drei Wochen nach »Köln« könnte man meinen, Ratzingers religiöse Rabulistik sei angekommen im Ödland der politisch-medialen Profanie. Relativismus - Banalisierung - des Bösen? Durchaus. Seines sakralen Sinns entkleidet, eignet diesem Zentralbegriff des Ethos weiter der Kerngehalt als Inbild des moralisch Verkehrten, des zutiefst Verwerflichen, des Zerstörerischen, des von keiner menschlichen Konvention Gedeckten oder gar Gebilligten. Wenn Bundesjustizminister Heiko Maas die Kölner Nacht der Nötigung und Notzucht einen »Zivilisationsbruch« nennt, ist diese Bezeichnung unangemessen, da sie bereits für anderes, weitaus Schrecklicheres steht. Aber falsch, falsch ist sie deshalb nicht.

Nun habe ich sie doch gebraucht, die suspekte Konjunktion, die wortgewordene Inkarnation der Relativierung: ABER. »Sie wird am häufigsten verwandt, um die Aufmerksamkeit auf einen wirklichen Gegensatz zu erregen«, schrieb der Philosoph und Schriftsteller Fritz Mauthner in seinem berühmten, 1901/02 erschienenen Werk »Beiträge zu einer Kritik der Sprache«. Lebte Mauthner noch, könnte er hierzulande interessante Feldforschung betreiben. Denn die Konjunktion ABER hat inzwischen in bestimmten Kontexten einen ähnlich pejorativen Anstrich verpasst bekommen wie das Adverb BESORGT in Verbindung mit dem Nomen Bürger.

Wer erklärt, nichts gegen Ausländer, Flüchtlinge, Migranten etc. zu haben, und diese Aussage durch eine mit »aber« eingeleitete Fortsetzung ergänzt, gilt bestenfalls als Relativierer, als unsicherer Kantonist, als von rechten Ressentiments Irregeleiteter; schlimmstenfalls als Fremdenfeind, Ausländerhasser, Rassist. Mutmaßungen, die angesichts des ideologisch und emotional aufgeheizten öffentlichen Klimas zunehmend als Gewissheiten gehandelt werden. Aber: Nicht jeder, der »aber« sagt, ist ein Aber-Nazi.

Während in der Debatte um Migration und Integration »aber« als veritables Unwort der semantischen Ächtung zum Opfer fiel, gehört die inkriminierte Konjunktion innerhalb der medialen wie politischen Abwiegelungs-, Relativierungs- und Banalisierungskampagne in Sachen »Köln« nachgerade zum Pflichtvokabular. Gewalt gegen Frauen ist - natürlich - schlimm und zu verurteilen; sexuelle Übergriffe müssen - natürlich - strafrechtlich verfolgt werden; die Sicherheit im öffentlichen Raum ist - natürlich - jederzeit zu gewährleisten (Warum wird das Selbstverständliche eigentlich immer so demonstrativ betont?). ABER: Deutschland ist auch ohne Migranten ein zutiefst feindlicher Ort für Frauen; die schlimmste sexuelle Gewalt gehört hierzulande zur »Rape Culture« (Vergewaltigungskultur) und geht in erster Linie von weißen deutschen Männern aus; der alltägliche Horror der Gewalt gegen Frauen findet tagtäglich und überall statt, egal, welchen Pass die Familienmitglieder haben; sexuelle Übergriffe sind fester Bestandteil von Massenveranstaltungen wie Oktoberfesten, Fanmeilen, Silvesterpartys ...

Abgesehen davon, dass sich für ausländische Beobachter, die wenig von Deutschland wissen, schon die Frage stellen könnte, weshalb Millionen aus aller Welt den Wunsch haben, in einer solchen Hölle auf Erden ein neues, ein besseres Leben zu suchen - ein derartiges undifferenziertes Projektionsflächenbombardement ist bestenfalls geeignet, den einen oder anderen argumentativen Zufallstreffer zu landen. Das Makabre daran: Während von der feministischen Hashtag-Industrie vor fast genau drei Jahren die dümmliche Anmache eines FDP-Politikers ins Überdimensionale aufgeblasen und genutzt wurde, um eine ähnliche Kampagne wie die aktuelle zu transportieren, ist jetzt das Ereignis, das Anlass gibt für den Sturm gegen den vor gewalttätiger Geilheit strotzenden Furor teutonicus, zur Marginalie des Alltäglichen geschrumpft.

Was geflissentlich ausgeblendet wird: Bei der Gewalt gegen Frauen (es gibt auch solche gegen Männer) in deutschen Wohnstuben und Schlafzimmern, so verachtens- und verurteilenswert sie ist (dies sei noch einmal ausdrücklich betont), handelt es sich meist um individuelle, in der Regel spontane, affektive Taten, Straftaten, die zweifellos durch die vielen Bereichen dieser Gesellschaft immanente strukturelle Gewalt (auch die Schlachthauskultur gehört übrigens dazu) begünstigt werden. Was in Köln vor Dom und Hauptbahnhof stattfand, war - mindestens - verabredet. Ob organisiert, ist wohl eher eine Frage der Interpretation. De facto ging es in Erscheinung und Ausmaß nicht um Kleinkriminalität oder Egobefriedigung durch sexuelle Bedrängung, sondern um ein sexuell aufgeladenes, in Deutschland in dieser Form bislang singuläres Massenritual der Machtdemonstration, dessen brutale Archaik dermaßen befremdet und erschreckt, dass die Relativierung auf das Maß des Gewöhnlichen, Bekannten, Alltäglichen wohl auch beruhigend wirken soll.

Indes wirkt der Verweis auf Oktober- und andere »Volks«-Feste nicht nur peinlich, sondern auch exkulpierend. Denn: Wer über einen der öffentlichsten Plätze (wenn dieser Superlativ gestattet ist) dieses Landes geht, um womöglich den Zug zu erreichen oder jemand von diesem abzuholen, dürfte kaum gewärtig sein, dabei zeitweilig okkupiertes Gebiet zu betreten und entsprechend repressiert zu werden. (Was übrigens auch die in der Silvesternacht von ihren Frauen oder Freundinnen getrennten Männer betrifft, deren Demütigung in der dadurch erzeugten Machtlosigkeit bestand.)

Sexuelle Gewalt ist in Deutschland nichts Neues. Was in Köln geschah und wie es geschah, ist durchaus etwas Neues. Mit den alten Methoden der Konterpropaganda kann die Debatte darüber nur scheitern.

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Quelle:
Ingolf Bossenz, Januar 2016
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 06.01.2016
http://www.neues-deutschland.de/artikel/998660.wider-den-furor-teutonicus.html


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Januar 2016

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