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STANDPUNKT/378: Praxisbericht - Notstand der Menschlichkeit, die SEEBRÜCKE- Bewegung (spw)


spw - Ausgabe 4/2019 - Heft 233
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Praxisbericht: Notstand der Menschlichkeit - die SEEBRÜCKE-Bewegung

von Sonja Grabowsky[1]


"SEEBBRÜCKE - Schafft sichere Häfen". Mit dieser Forderung trat Ende Juni 2018 eine Gruppe Berliner Aktivist*innen an die Öffentlichkeit. Aus einer überschaubaren Gruppe erwuchs binnen weniger Tage die deutschlandweite Bewegung SEEBRÜCKE. Ausgangspunkt war das Drama um das im Mittelmeer umherirrende private Rettungsschiff "Lifeline" mit 234 Flüchtlingen an Bord. Der Crew wurde das Anlegen in Malta und Italien tagelang untersagt, obwohl es bereits Angebote aus mehreren Städten gab, die Geretteten aufzunehmen.[2]

Schnell fiel das Anliegen der Berliner SEEBRÜCKE auf fruchtbaren Boden. Schon am letzten Juni-Wochenende 2018 und an den folgenden Wochenenden organisierten Engagierte in zahlreichen deutschen Städten Demonstrationen und Kundgebungen, um politischen Druck auf die Verantwortlichen auszuüben, das Sterben im Mittelmeer zu beenden und aus Seenot Gerettete aufzunehmen. Die lokalen SEEBRÜCKE-Gruppen waren geboren. Der Zulauf der Gruppen und die Teilnahme an Veranstaltungen stiegen enorm, wodurch die SEEBRÜCKE schnell im Fokus der medialen Aufmerksamkeit stand.

Zentrale Forderungen waren die Schaffung sicherer Häfen für Schiffe mit Geretteten an Bord, legale Fluchtwege in die EU und die Entkriminalisierung der Seenotrettung. Als einigende Symbolik dienen seitdem die Farbe Orange und ein gefaltetes Papierschiffchen. Bei Aktionen werden weitere Gegenstände der Seenotrettung als Wiedererkennungszeichen verwendet: Rettungsringe, Rettungswesten, Schlauchboote, Rettungsdecken etc.

Rückblickend hat der Anfangserfolg der Bewegung vor allem mit dem speziellen Momentum im Frühsommer 2018 zu tun. Zum einen häuften sich die Berichte über die steigende Zahl der Toten auf der zentralen Mittelmeerroute.[3] Gleichzeitig schlossen Malta und Italien die Häfen für Schiffe mit Geretteten an Bord.[4] Unterdessen nahmen die Kriminalisierungsmaßnahmen gegenüber den Seenotrettungsorganisationen zu.[5] Dies alles passierte vor dem Hintergrund des kompletten Versagens der EU und ihrer Mitgliedstaaten, eine gemeinsame Seenotrettungsstrategie zu entwickeln. Man setzte stattdessen auf die Finanzierung der so genannten Libyschen Küstenwache. Daher fielen die Forderungen der SEEBRÜCKE auf fruchtbaren Boden.

Bewegungen der Solidarität mit Migrant*innen und das Engagement für eine humane Flüchtlingspolitik hat es im linken politischen Spektrum schon lange gegeben. Jedoch hat es die SEEBRÜCKE geschafft, Ehrenamtliche und Gruppen aus weiteren sozialen Milieus zusammenzubringen, viele hatten sich seit 2015 in den "Willkommens-Initiativen" engagiert.[6] Sie hatten im direkten Kontakt mit Geflüchteten erlebt, vor welche rechtlichen Schwierigkeiten diese gestellt wurden. Daraus mag eine kritische Haltung zur nationalen und europäischen Asylpolitik entstanden sein.

War der Organisationsgrad der lokalen SEEBRÜCKEN anfangs noch gering, übernahm die Berliner SEEBRÜCKE schnell eine Koordinierungsfunktion, wobei die lokalen Gruppen seitdem selbständig agieren. Erklärtes politisches Ziel war die Schaffung Sicherer Häfen in Deutschland. Die Kommunen wurden dazu als Schlüssel für eine solidarische Gesellschaft ausgemacht, um von unten Druck auf die nationale Politik auszuüben und die Aufnahme von aus Seenot Geretteten zu fordern.

Bislang wird laut Gesetzeslage auf Bundesebene über die kommunale Zuteilung von Flüchtlingen entschieden, den Kommunen sind die Hände gebunden. Welche kommunalen rechtliche Möglichkeiten und gesetzliche Spielräume es gibt, aus Seenot Gerettete direkt aufzunehmen, war Thema des ersten bundesweiten SEEBRÜCKE-Kongresses im Juni 2019 in Berlin. Fakt ist, dass sich bislang 84 Kommunen und Städte zu Sicheren Häfen erklärt und ihre Aufnahmebereitschaft gegenüber der Bundesregierung explizit ausgedrückt haben.[7] Bereits im Vorfeld des Kongresses hatten acht Städte in der "Potsdamer Erklärung" von der Bundesregierung einen neuen Verteilungsschlüssel und die schnellstmögliche Zusage gefordert, aus Seenot Gerettete endlich auch aufnehmen zu können.[8]

Auch wenn man noch nicht von einem umfassenden politischen Erfolg sprechen kann, kann man dies als Errungenschaft im Sinne der Menschenrechte, die anspornt, weiter zu kämpfen, einordnen. Ebenso wäre Heiko Maas' und Horst Seehofers (längst überfälliges) Eintreten für einen Verteilungsmechanismus von aus Seenot Geretteten, der demnächst gemeinsam mit 14 weiteren EU-Staaten umgesetzt werden soll, ohne den starken zivilgesellschaftlichen Druck wohl nicht denkbar gewesen.[9] Möglich wurde all dies durch das stete Engagement unzähliger SEEBRÜCKE-Ehrenamtlicher, die Unterschriften für Bürger*innenanträge sammeln, mit politisch Verantwortlichen in ihren Gemeinden sprechen und durch vielfältige Aktionen vor Ort das Sterben im Mittelmeer immer wieder thematisieren und öffentlich machen.

Legale und sichere Fluchtwege in die EU und ein europäisches Seenotrettungsprogramm sind noch längst nicht realisiert, ganz zu schweigen von einem menschenrechtsbasierten gemeinsamen europäischen Migrations- und Asylsystem. Deswegen wird die SEEBRÜCKE, die sich gerade internationalisiert, auch weiterhin ihren Protest auf die Straße tragen und laut bleiben. Denn es wird weiter gestorben. Leise. Ertrinken ist ein leiser Tod.


Anmerkungen

[1] Sonja Grabowsky, Dr. phil. Altstipendiatin, ehemalige Vertrauensdozentin der Hans-Böckler-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung, war von 2010 bis 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Von 2013 bis 2014 war sie Vertretungsprofessorin im Fachbereich angewandte Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Dortmund. Seit Juli 2014 ist sie wissenschaftliche Referentin von Dr. Dietmar Köster, MdEP, in Brüssel. Sie ist Mitbegründerin der SEEBRÜCKE Wuppertal.

[2] Das internationale Seerecht sieht vor, dass Schiffe mit aus Seenot Geretteten an Bord einen sicheren Ort zugewiesen bekommen müssen. Die Verweigerung der Einlaufgenehmigung durch Malta und Italien bzw. der Prozess gegen Kapitän Claus-Peter Reisch auf Malta war ein Akt der Inhumanität und der Unrechtmäßigkeit, dem noch viele folgen sollten.

[3] https://mediendienst-integration.de/artikel/zentrale-mittelmeer-route-libyen-italien-iom-ngo-seenotrettung.html

[4] Das betraf übrigens nicht nur die NGO-Schiffe. So verbot der italienische Innenminister der faschistischen "Lega-Partei", Matteo Salvini, im August 2018 einem eigenen Küstenwachenschiff das Einlaufen.
https://m.tagesspiegel.de/politik/italien-salvini-will-fluechtlinge-nach-libyen-zurueckschicken/22930020.html.

[5] https://m.tagesspiegel.de/politik/seenotrettung-im-mittelmeer-die-kriminalisierung-der-helfer-geht-immer-weiter/24516818.html.

[6] Dies waren Konservativ-Etablierte, Personen der Bürgerlichen Mitte und des Traditionellen Milieus. Vgl. auch
https://www.bmfsfj.de/blob/122010/d35ec9bf4a940ea49283485db4625aaf/engagement-in-der-fluechlingshilfe-data.pdf.

[7] Stand: 29.07.19. https://seebruecke.org/startseite/sichere-haefen-in-deutschland/.

[8] https://www.potsdam.de/sites/default/files/documents/2019_06_03_potsdamer_erklaerung.pdf.

[9] https://www.sueddeutsche.de/politik/maas-seenotrettung-migration-1.4534786.

Allerdings sind bis Redaktionsschluss keine Einzelheiten bekannt und es ist wahrscheinlich, dass einige Punkte des Plans nicht den humanitären Anforderungen der SEEBRÜCKE entsprechen.

*

Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 4/2019, Heft 233, Seite 61-62
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. September 2019

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