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STELLUNGNAHME/005: Zwei Jahre nach dem Kunduz-Massaker (Afsane Bahar)


Zwei Jahre nach dem Kunduz-Massaker.

von Afsane Bahar, 31.8.2011


Es ist entscheidend, bei Festlegung friedenspolitischer Zielsetzungen und Wegplanungen die zeitlichen und örtlichen Umstände genauestens zu berücksichtigen. Das Ereignissen und Gegebenheiten Hinterherhinken zeugt nicht von zeitgemäßen Überlegungen sowie Handlungen und kann im Endeffekt Rückschritt bedeuten.

In einer umfassenden, sachlichen Erklärung des Arbeitskreises Süd-Nord von IPPNW-Deutschland (1) vom 22. Juli 2011 zum 10. Jahrestag der Terroranschläge in New York und Washington am 11. September 2001 heißt es (2):

"Die Anschläge vom 11. September 2001 hatten einen beispiellosen weltweiten Kriegsfeldzug zur Folge, der ohne diese Rechtfertigung niemals denkbar gewesen wäre. Wir beklagen die große Anzahl von Toten und Verletzten durch die Terroranschläge, sowie durch die nachfolgenden Kriege, die seit 10 Jahren andauern (wie in Afghanistan) und bisher allein im Irak etwa anderthalb Millionen Tote gefordert haben.

10 Jahre nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ist zunehmend umstritten, wer sie zu verantworten hat. Eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung weltweit, die insbesondere in den USA selbst stark verankert ist und dort auch Kongressabgeordnete umfasst, widerspricht dem 9/11 Commission Report und fordert eine neue und unabhängige Untersuchung der Ereignisse (wie etwa die langjährige Abgeordnete Cynthia McKinney, die 2008 Präsidentschaftskandidatin der Grünen war).

Wir meinen, dass ganz besonders bei der Terrorismusbekämpfung zwischen Kriegs-Ursachen und Kriegs-Anlässen unterschieden werden muss. Wobei bei den Kriegs-Ursachen geostrategische Planungen, Ressourcenkontrolle, Kapitalinteressen und der Erhalt des Dollars als Weltwährung in Betracht zu ziehen sind, während der Terrorismus den öffentlich sichtbaren Kriegsanlass darstellt. (Am Beispiel des Irakkrieges und der von Colin Powell inzwischen öffentlich zugegebenen Unwahrheiten wird dies besonders deutlich.) Leider ist hierzu anzumerken, dass bezüglich der Beleuchtung dieser Zusammenhänge bisher weder die großen Medien noch die Vereinten Nationen ihrer Verantwortung gerecht geworden sind."

Zum Thema Terrorismus unter Erwähnung des deutschen Kommandos Spezialkräfte (KSK) wird festgestellt:

"Der Terrorismus ist ein vielschichtiges und regional sehr unterschiedliches Geschehen, das sich aus Widerstandsbewegungen, religiösen Gruppen, politisch motivierten Gruppen, Geheimdiensten verschiedener Nationen, Söldnern, Informanten und Spezialeinheiten des Militärs zusammensetzt. Neutral definiert handelt es sich hierbei um rechtswidrige Gewaltanwendung, mit dem Ziel, mittels Angstverbreitung politische Veränderungsprozesse zu erzwingen. Die Frage der Rechtswidrigkeit hängt dabei aber vom politischen bzw. religiösen Blickwinkel ab. Beispielsweise galt die PLO im Westen lange als Terrororganisation und das bis kurz vor ihrer Anerkennung durch die UNO als offizielle Vertreterin des palästinensischen Volkes und der Auszeichnung ihres Führers Jassir Arafat mit dem Friedens-Nobelpreis 1994. (Wobei sich für uns als Friedensorganisation aus formal-rechtlicher Akzeptanz von Gewaltanwendung noch keineswegs deren Legitimität ableitet.) Terrorismus wird grundsätzlich auch von Regierungen als Betätigungsfeld für Geheimpolitik genutzt (etwa für sog. "False Flag Operations") und geheimdienstliche Aktivitäten, die in nahezu keinem Land (auch nicht in den USA und in Deutschland) einer wirksamen rechtsstaatlichen Kontrolle unterliegen, sind bis heute Bestandteil von Regierungspolitik. Ein ganz essentieller Schritt zur Verhinderung der Benutzung von Geheimdiensten und Geheimtruppen wie der CIA, des deutschen Kommando Spezialkräfte (KSK) und des britischen Special Air Service (SAS) zu terroristischen und anderen menschenrechtswidrigen Aktivitäten wie Verschleppung, Folter und Mord wäre aus unserer Sicht die Schaffung einer Norm, die in Unterscheidung von Aufklärungsaktivitäten, die operative Betätigung von Geheimdiensten grundsätzlich verbietet."

Der letzte Abschnitt dieser Erklärung ist besonders wichtig und beschreibt die erschreckenden Rahmenbedingungen für die gegenwärtigen friedenspolitischen Tätigkeiten weltweit aber auch speziell in Deutschland:

"Die Anschläge vom 11. September 2001, sowie der mit ihnen gerechtfertigte sog. "Krieg gegen den Terror", der selbst ein noch vielfach höheres Maß an Gewalt und Leid über die Menschheit gebracht hat, hat weltweit und insbesondere auch in Deutschland zu einer Militarisierung des Denkens und Handelns geführt, zu einer weiteren Enttabuisierung von Folter, Gewalt und Mord ("extralegales Töten"), zu einer weiteren Beschädigung des Völkerrechts und der UNO als universal anerkannter Weltinstanz, sowie zu einer immer weiter gehenden Instrumentalisierung der Menschenrechte für interessengeleitete Kriege, wie aktuell in Libyen."

Im Zusammenhang mit dem NATO-Krieg gegen Afghanistan schrieb ich am 28.7.2011 an die IPPNW-Mitglieder: "[...] Wenn wir als Friedensorganisation nicht erkennen, dass die großen Kriege unserer Zeit durch den Neoliberalismus bedingt sind, einen Prozess der unter anderem 1973 in Chile zum blutigen Militärputsch gegen die Regierung von Salvador Allende führte, werden wir keine adäquaten Antworten auf die lebenswichtigen Fragestellungen der Zeit geben können. Wir werden hier und da Flickarbeit betreiben, unser Gewissen beruhigen, im besten Falle als ein Sicherheitsventil im System des globalisierten Neoliberalismus funktionieren und letztendlich doch der Aufrechterhaltung dieses die Erde vernichtenden Systems dienen.

Ich frage euch erneut, möchten und werden wir uns als Friedensorganisation für die Zielvorgabe "Deutschland raus aus der NATO" stark machen? Möchten und werden wir als Friedensorganisation die Parole "Keine deutsche Beteiligung an militärischen EU-Einheiten" vertreten? Die NATO und die militärischen EU-Einheiten sind die Bestandteile des globalisierten Neoliberalismus, die die IPPNW als eine Friedensorganisation angehen kann und muss. [...]"

Klare Aussagen fordernd, schrieb ich am 26.8.2011: "Es gibt Zeiten, in denen doppeldeutige Aussagen einem Verbrechen gleichen. Solche Perioden bedürfen klarer Äußerungen und einer eindeutigen Sprache. Die Finsternis der zunehmenden Fehlinformation und Ablenkung der Menschen durch die Massenmedien als Handlanger der Herrschenden wird durch scheinheilige Fackelträger nicht beseitigt.

Die begrenzten Ressourcen dieser Welt lassen ein unbegrenztes Wachstum nicht zu. Der Grund der Feldzüge der NATO wäre in den 30er und 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Suche nach Lebensraum bezeichnet worden. Heutzutage wird von Wahrung nationaler Interessen und Sicherheitsvorsorge gesprochen. Im Klartext bedeutet das die Ermöglichung des eigenen Wohlstandes durch Benachteiligung und Verelendung anderer Menschen.

Sowohl durch Knappheit und Repressalien als auch durch partielle Beteiligung gesellschaftlicher Akteure an den unrechtmäßigen Aneignungen kann das Aufkommen kritischer Fragen erschwert werden. Von billigen Bodenschätzen, Waren und Dienstleistungen profitieren sowohl die Unteren als auch die Oberen. So werden Gewerkschaften und politische Parteien als potentielle Unruhestifter, die das System in Frage stellen könnten, entschärft und eingebettet. Unter diesen Umständen werden Menschen zu Kollaborateuren, schon indem sie in der nördlichen reichen Welt leben."

Am 30.8.2011 erwähnte ich: "Zahlreiche belesene, der wissenschaftlichen Vorgehensweise mächtige Menschen sind in der deutschen Friedensbewegung tätig. Es liegen viele Dokumente über die Verbrechen der NATO auf dem Balkan, in Afghanistan, in Irak und aktuell in Libyen vor. Von den größeren, überregionalen Friedensorganisationen wird die Zielvorgabe "Deutschland raus aus der NATO" gegenwärtig nicht wirksam vertreten. Für diese vielsagende Gegebenheit gibt es, wie für die anderen Erscheinungen und Vorgänge in der wirklichen Welt, handfeste materielle Grundlagen."

Am 31..8.2011 wurde die folgende Presseinformation der IPPNW veröffentlicht (3):

"Kein Frieden mit Krieg und Gewalt. 72 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs. Der Vorsitzende der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW Matthias Jochheim erklärt zum Anti-Kriegstag am 1. September 2011:

Das Nein der Bundesregierung zur Teilnahme am Krieg gegen Libyen haben wir begrüßt. Der Krieg der NATO zielte von Anfang an auf den Sturz des libyschen Machthabers Gaddafi. Statt dem "Schutz der Zivilbevölkerung" standen wirtschaftliche und strategische Ziele im Vordergrund. Jahrelang haben Deutschland und andere europäische Staaten mit dem autoritären Regime zusammen gearbeitet und Waffen geliefert. Wie die Stuttgarter Nachrichten heute berichten, wurden in Gaddafis Waffenarsenalen G36-Gewehre aus deutscher Produktion entdeckt. Wir fordern die Bundesregierung zu einer Erklärung auf, wie die Heckler & Koch-Waffen nach Libyen gelangt sind.

Die langfristigen Folgen der Parteinahme der NATO zugunsten der Rebellen in Libyen sind noch gar nicht absehbar. Krieg geht immer mit schweren Menschenrechtsverletzungen einher: viele Zivilisten sind den Bombenangriffen der NATO zum Opfer gefallen. Häuser, Schulen, Versorgungszentren, Krankenhäuser, Rundfunkstationen und andere Infrastruktureinrichtungen wurden zerstört. Die humanitäre Lage in Tripolis ist dramatisch.

Diktaturen und autoritäre Regime, die Menschenrechte mit Füßen treten, zählen auch weiterhin zu den Empfängern deutscher Rüstungsgüter. Einer der größten Abnehmer deutscher Waffenlieferungen ist der NATO-Partner Türkei. Ungeachtet des brutalen Vorgehens der türkischen Militärs in den kurdischen Gebieten genehmigte Deutschland in den Jahren 2006, 2007 und 2008 Rüstungsexporte in Höhe von 500 Millionen Euro dorthin. Im Jahr 2009 lieferte die Bundesregierung Leopard-Panzer im Wert von 12,95 Millionen Euro. ThyssenKrupp Marine Systems beabsichtigt laut Pressemitteilung vom Anfang Juli die Lieferung von sechs U-Boot-Materialpakete vom Typ U 214 im Wert von 2 Milliarden Euro an die Türkei - wohl kaum ein Beitrag für Frieden und Entspannung im Mittelmeerraum.

Im türkisch-kurdischen Konflikt sind bisher rund 40.000 Menschen ums Leben gekommen, zahllose Dörfer in den kurdischen Gebieten wurden zerstört oder vermint. Zwar hat Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan eine "kurdische Öffnung" angekündigt, doch die Menschenrechtslage der Kurden ist nach wie vor katastrophal. Täglich gibt es Berichte über militärische und polizeiliche Gewalt gegen die Menschen dort.

72 Jahre nach Beginn des 2. Weltkriegs ist das Versprechen der UN-Charta noch immer nicht eingelöst: die Geißel des Krieges zu überwinden. Fast ununterbrochen wurden seit 1945 weitere Kriege geführt. Heute erleben wir neue Eskalationen der Gewalt und neue Aggressionskriege. Die Geschäfte der Waffenindustrie bereiten den Boden für immer neue militärische Konfrontationen. Statt Waffenexporte zu genehmigen, die neue Kriege führbar machen, fordern wir die deutsche Bundesregierung auf, Rüstungsexporte zu stoppen und sich für die Stärkung präventiver Konfliktbearbeitung und von Krisenhilfe-Initiativen der UNO einzusetzen. Diplomatie und politische Lösungen müssen endlich an die Stelle kriegerischer Gewalt treten."

Nach der Lektüre dieser aktuellen Presseinformation stellt sich die Frage, wann die deutschen Friedensfreunde einsehen werden, dass die Zeiten sich definitiv geändert haben und uns ein Wind ganz anderer Qualität entgegen bläst. Mit allgemeinen Informationen und Lamentieren kann man die jetzige Lawine, die die Menschheit in den Abgrund stürzen wird, nicht stoppen.

Man kann von keiner Regierung, die auf unterschiedlichen Ebenen, auch militärisch, Verfechter des globalisierten Neoliberalismus ist, erwarten, menschenfreundlich zu handeln.


Bemerkungen und Quellenangaben

(1) http://www.ippnw.de/

(2) Diese Erklärung ist bislang auf der Internetpräsentation von IPPNW-Deutschland nicht erschienen.

(3) http://www.ippnw.de/startseite/artikel/49ee6ace60/kein-frieden-mit-krieg-und-gewalt.html


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Quelle:
© 2011 Dr. Amir Mortasawi (alias Afsane Bahar)
E-Mail: afsane.bahar@googlemail.com
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. September 2011