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STELLUNGNAHME/043: Anschlag auf die Energiewende und Rückschritte für den Frieden (IPPNW)


IPPNW-Kommentar vom 28. November 2013
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland

Anschlag auf die Energiewende und Rückschritte für den Frieden

IPPNW-Kommentar zum Koalitionsvertrag



Rot-Schwarz will die Energiewende ausbremsen, die Bundeswehr als Interventionsarmee etablieren, Beschlüsse in der Abrüstungspolitik zunichte machen und weiter auf Abschreckung gegenüber Flüchtlingen setzen. "Mit Sorge stellen wir fest, dass wichtige Vereinbarungen zwischen CDU/CSU und SPD einen Rückschritt im Vergleich zum Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Koalition darstellen", erklärt die IPPNW-Vorsitzende Susanne Grabenhorst.

Im Bereich der Energiewende sieht der Koalitionsvertrag die gesetzliche Festlegung eines drastisch reduzierten Ausbautempos der Erneuerbaren Energien vor. Der energiewirtschaftlich wichtige Zubau der preiswerten Windenergie an Land soll weitgehend unterbunden werden, während die energiewirtschaftlich bedeutungslose Offshore-Windkraft der Konzerne weiterhin großzügig vergütet werden soll. Für neue Solaranlagen soll die Möglichkeit der Netzeinspeisung zu wirtschaftlichen Bedingungen in wenigen Jahren beendet werden.

Die Forderung nach dem Abzug der NATO Atomwaffen aus Deutschland ist im Gegensatz zu 2009 nicht mehr enthalten. Stattdessen werden erfolgreiche Abrüstungsgespräche zwischen den USA und Russland zur Vorraussetzung für den Abzug gemacht. Diese Formulierung fällt weit hinter den Bundestagsbeschluss von 2010 zurück, in dem die Fraktionen CDU, SPD, Grüne und FDP gemeinsam von der Bundesregierung gefordert haben, sich in der NATO und gegenüber den amerikanischen Verbündete mit Nachdruck für den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland einzusetzen.

In der Sicherheits- und Außenpolitik kündigt der Koalitionsvertrag ansonsten Alt-Bekanntes an. In den kommenden vier Jahren werden von Deutschland aus weder fundamentale Abrüstungsinitiativen noch andere außenpolitische Überraschungen ausgehen. Vielmehr drohen erhebliche Rückschritte auf dem Weg in eine friedlichere Welt. Inwieweit das transatlantische NATO-Bündnis und die EU-Politik dem Frieden dienen, wird nicht thematisiert.

In der Flüchtlingspolitik setzt die Koalition weiterhin auf europäische Abschreckungspolitik und baut die Abwehrmaßnahmen an Europas Grenzen aus. Die Grenztruppe Frontex soll vergrößert und mit weiteren Kompetenzen ausgestattet werden. Einige Fortschritte gibt es beim Thema Bleiberecht. Statt humanitäre Antworten auf das Massensterben im Mittelmeer zu formulieren, setzt der Koalitionsvertrag auf Abschottung mithilfe von Drittstaaten.


Die IPPNW ist eine berufsbezogene, friedenspolitische Organisation, die 1981 von einer Gruppe von Ärzten aus den USA und Russland gegründet wurde. Ihre Überzeugung: Als Arzt hat man eine besondere Verpfl ichtung zu sozialer Verantwortung. Daraus entstand eine weltweite Bewegung, die 1984 den UNESCO-Friedenspreis und 1985 den Friedensnobelpreis erhielt. Heute setzen sich Mediziner und Medizinerinnen der IPPNW in über 60 Ländern auf allen fünf Kontinenten für eine friedliche, atomtechnologiefreie und menschenwürdige Welt ein.

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IPPNW-Kommentar zum Koalitionsvertrag von SPD, CDU und CSU


I Atomausstieg und Erneuerbare Energien:
Anschlag auf die Energiewende

Im Bereich der Energiewende sieht der Koalitionsvertrag die gesetzliche Festlegung eines drastisch reduzierten Ausbautempos der Erneuerbaren Energien vor. Der energiewirtschaftlich wichtige Zubau der preiswerten Windenergie an Land soll weitgehend unterbunden werden, indem Abstandsgrenzen zur Wohnbebauung eingeführt werden können und ein wirtschaftlicher Betrieb nur noch an absoluten Top-Standorten ermöglicht werden soll (Referenzertragswert von 75-80 %). Die energiewirtschaftlich vergleichsweise bedeutungslose Offshore-Windkraft der Konzerne hingegen soll weiterhin großzügig vergütet werden und die Strompreise unnötig belasten. Für neue Solaranlagen soll spätestens mit dem baldigen Erreichen einer "Obergrenze" der installierten Leistung von 52 Gigawatt die Möglichkeit der Netzeinspeisung zu wirtschaftlichen Bedingungen beendet werden.

Bestandsschutz und Subventionen für Konzerne
Bestehende Braunkohle-, Steinkohle- und Erdgaskraftwerke der Konzerne sollen finanziell abgesichert. Neue Gaskraftwerke sollen über einen "Kapazitätsmechanismus" subventioniert werden. Damit folgte die SPD-Spitze dem Wunsch der Union bzw. von Siemens. Für die Absicherung der Marktmacht der Konzerne setzt die Koalition auf einen überteuerten und unnötigen Zubau von Stromautobahnen.

Energiespeicherung
Im Koalitionsvertrag fehlt ein starkes Anreizprogramm für die dynamische Markteinführung dezentraler Energiespeicher, der zweiten wichtigen Säule einer dezentralen Energiewende. Die erst 2013 neu eingeführte Förderung dezentraler Stromspeicher ist kein Thema mehr, offenbar möchte man diese anstehende Aufgabe mit einem langwierigen "Forschungsprogramm" wieder auf die lange Bank schieben. Auch das dient dem Bestandsschutz der Konzerne.

Energieimporte
Ferner fehlen ambitionierte Umbauprogramme für den Wärme- und den Verkehrssektor. Im Vertragsentwurf noch vorgesehene milliardenschwere Mittel für Effizienzmaßnahmen wurden wieder gestrichen. So bleibt die Energiewende wohl auf einem Viertel der Strecke stehen. Die Konsequenz ist, dass Deutschland auch weiterhin für einen hohen zweistelligen Milliardenbetrag pro Jahr Öl, Kohle, Uran und Erdgas importieren muss. Eine solche Energiepolitik ist nicht nur volkswirtschaftlich und ökologisch nachteilig, sie trägt auch global zu den Konflikten und Kriegen um Energie bei.


II Außen- und Sicherheitspolitik:
Rückschritte auf dem Weg in eine friedlichere Welt

Der Koalitionsvertrag kündigt in der Sicherheits- und Außenpolitik Alt-Bekanntes an. Wir prophezeien: In den kommenden vier Jahren werden von Deutschland aus weder fundamentale Abrüstungsinitiativen noch andere außenpolitische Überraschungen ausgehen. Vielmehr drohen erhebliche Rückschritte auf dem Weg in eine friedlichere Welt. Inwieweit das transatlantische NATO-Bündnis und die EU-Politik dem Frieden dienen, wird nicht thematisiert. Die Rolle als verlässlicher Partner steht über allem und soll der Umsetzung deutscher Interessen und Werte angeblich am besten dienen.

Neue Waffensysteme
So fragen wir uns, ob die Bundesregierung ihre Haltung, extralegale, völkerrechtswidrige Tötungen mit bewaffneten Drohnen kategorisch abzulehnen, gegenüber dem transatlantischen Großpartner USA, der ihren Einsatz ethisch und rechtlich gerechtfertigt sieht, auch mit aller Entschiedenheit vertreten wird. Zumindest muss eine sich ernst nehmende Bundesregierung sicher stellen, dass von Deutschland aus keine Einsätze dieser Tötungsmaschinen gesteuert werden.

Zivil-militärische Zusammenarbeit
Um international als verlässlicher Mitspieler zu gelten, wird Deutschland laut Koalitionsvertrag "im Verständnis einer effektiven Außen- und Sicherheitspolitik, für deren Erfolg sich zivile und militärische Instrumente ergänzen müssen", strikt im Rahmen der Bündnisstrukturen agieren. Dafür wird die Neuausrichtung der Bundeswehr als "Armee im Einsatz", als eine interventionsfähige Armee, für "die veränderten sicherheitspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts" und die zivil-militärische Zusammenarbeit konsequent weiter geführt.

Bundeswehr an Schulen
Für die IPPNW steht eine auf der Androhung von Gewaltanwendung basierende Außenpolitik im Widerspruch zu den erklärten Zielen friedlicher Konfliktbearbeitung und des Interessenausgleichs zwischen Konfliktparteien. Die militärisch ausgerichtete Außenpolitik soll die breite Unterstützung der deutschen Bevölkerung erhalten. Dafür wird die Werbung für den Soldatenberuf an Schulen und Hochschulen und die Durchführung von Gelöbnissen im öffentlichen Raum weiter voran getrieben. Die Friedensbewegung wird weiterhin gegen diese Darstellung von Krieg als Mittel der Politik ihre Informationen über die Gründe und die Folgen von Krieg und bewaffneten Konflikten stellen.

Rüstungsexporte
International konfliktschürend werden weiterhin deutsche Rüstungsexporte wirken. Eine angekündigte bessere Transparenz bei Waffenexporten wird die Entscheidungen des Bundessicherheitsrates auf der oftmals unbeachteten Grundlage der "Politischen Grundsätze für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern" aus dem Jahr 2000 nicht grundsätzlich anders gestalten: Es ist zu befürchten, dass Menschenrechte angesichts wirtschaftlicher und global-politischer Interessen auch in Zukunft den Kürzeren ziehen werden. Deswegen bleiben wir bei unserer Forderung eines grundsätzlichen Stopps von Rüstungsexporten.


III Abrüstungs- und Sicherheitspolitik - Rückschritt gegenüber Schwarz-Gelb

Der Koalitionsvertrag im abbrüstungs- und rüstungspolitischen Bereich bleibt nicht nur hinter den Forderungen und Aussagen zurück, die von der SPD als Oppositionspartei formuliert worden waren, sondern stellt sogar einen Rückschritt im Vergleich zum Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Koalition dar.

Die Forderung nach dem Abzug der NATO-Atomwaffen aus Deutschland ist im Gegensatz zu 2009 nicht mehr enthalten. Demgegenüber macht die schwarz-rote Koalition den Abzug der Atomwaffen nun von "erfolgreichen" amerikanisch-russischen Abrüstungs-gesprächen abhängig. Was "erfolgreich" ist, wird in dem Satz erklärt, in dem von einer "verifizierbaren, vollständigen Abrüstung im substrategischen Bereich" die Rede ist.

Diese Formulierung fällt weit hinter den Bundestagsbeschluss von 2010 zurück, in dem die Fraktionen CDU, SPD, Grüne und FDP gemeinsam von der Bundesregierung gefordert haben, sich in der NATO und gegenüber den amerikanischen Verbündeten mit Nachdruck für den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland einzusetzen. CDU, CSU und SPD schieben den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland also auf die lange Bank.

Die NATO ist da sogar schon einen Schritt weiter: Ivo Daalder, US-Botschafter bei der NATO, hatte im November 2013 vor dem Atlantikrat der Logik widersprochen, dass erst erfolgreiche Abrüstungsgespräche mit Russland die Voraussetzung für den Abzug der Atomwaffen aus Europa schaffen würden. Im Koalitionsvertrag heißt es: "Bei der Gestaltung unserer Beziehungen zu Russland wollen wir die berechtigten Interessen unserer gemeinsamen Nachbarn berücksichtigen." Mit anderen Worten werden uns bei Abrüstungsfragen die Interessen der osteuropäischen NATO-Mitglieder leiten, die sich klar gegen den Abzug der US-Atomwaffen aus Europa ausgesprochen haben.

Ein selbstbewusster deutscher Beitrag zu mehr Abrüstung ist da nicht mehr zu erkennen. Der Wunsch der Deutschen, in einem atomwaffenfreien Land leben zu wollen, findet bei Schwarz-Rot keine Berücksichtigung mehr.


IV Flüchtlingspolitik - Schwarz-Rot setzt auf Abschreckung

Die Koalition setzt weiterhin auf eine europäische Abschreckungspolitik und baut die Abwehrmaßnahmen an Europas Grenzen aus. Die Grenztruppe Frontex soll vergrößert und mit weiteren Kompetenzen ausgestattet werden. Einige Fortschritte gibt es beim Thema Bleiberecht. Statt humanitäre Antworten auf das Massensterben im Mittelmeer zu formulieren, setzt der Koalitionsvertrag auf Abschottung mithilfe von Drittstaaten.

Nordafrikanischen Staaten etwa soll Wirtschafts- oder Entwicklungshilfe geleistet werden, wenn sie im Gegenzug zur Abwehr von Flüchtlingen beitragen. Zwar fordert der Koalitionsvertrag mehr Solidarität unter EU-Mitgliedsstaaten, aber eine Änderung der Dublin-II-Verordnung ist nicht geplant.

Bleiberecht
Der Koalitionsvertrag sieht eine verbesserte Bleiberechtsregelung unabhängig vom Stichtag vor, die langjährig Geduldeten den Sprung in eine Aufenthaltserlaubnis erlauben würde.

Schutzbedürftige Flüchtlinge
Roma-Flüchtlingen will die Koalition den Zugang zum Asylverfahren verbauen: Der Vertrag sieht vor, Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien zu "sicheren Herkunftsstaaten" zu erklären. Dagegen soll das sogenannte Resettlement-Verfahren, mit dem schutzbedürftige Flüchtlinge aus den Erst-Zufluchtsländern aufgenommen werden, "deutlich ausgebaut" und der Familiennachzug erleichtert werden. Ein Ausbau des Aufnahmeprogramms für syrische Flüchtlinge ist nicht vorgesehen. Syrer, die Verwandte in Deutschland haben, dürfen nicht leichter einreisen als andere.

Residenzpflicht
Die Bewegungsfreiheit von Asylsuchenden und Geduldeten wollen die Koalitionäre auf das jeweilige Bundesland begrenzen. Eine restriktivere Handhabung, wie in Bayern und Sachsen noch praktiziert, wird damit nicht mehr zulässig sein.

Arbeitsmarktzugang
Künftig sollen Asylsuchende nach drei statt neun Monaten eine Arbeitserlaubnis erhalten, allerdings wollen CDU, SPD und CSU den "nachrangigen Arbeitsmarktzugang" fortschreiben. In Sachen Kinderrechte ist positiv zu bewerten, dass Flüchtlingskinder zukünftig nicht mehr bereits ab 16 Jahren als verfahrensmündig gelten.


Als PDF-Datei finden Sie den ausführlichen Kommentar unter:
http://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Verein/ippnw_kommentar_koalitionsvertrag_2013.pdf

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Quelle:
Kommentar vom 28. November 2013
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. November 2013