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BERICHT/029: Aufbruchtage - Schuld und Lohn ... (SB)


Zur politischen Ökonomie des Degrowth-Konzepts

Vortrag an der Universität Leipzig am 3. September 2014



Eine sozialökologische Bewegung, die den Widerspruch zwischen der Finalität natürlicher Ressourcen und der konzeptionellen Endlosigkeit kapitalistischen Wachstums zum zentralen Gegenstand des politischen Kampfes macht, ist gut beraten, die politische Ökonomie des eigenen Gegenentwurfs so präzise wie möglich zu fassen. Auf der Vierten Internationalen Degrowth-Konferenz, die vom 2. bis 6. September an der Universität Leipzig stattfand, schaffte Éric Pineault, Professor am Department für Soziologie an der Université du Québec in Montréal, mit seinem Vortrag über "Eine politische Ökonomie des Degrowth: die Widersprüche des Spätkapitalismus und der Imperativ eines ökologischen Übergangs in einem neoliberalen Kontext" einen Einstieg in diese komplexe Materie.

Ihm geht es darum, Degrowth als größeres politisches und kulturelles Projekt voranzubringen. Um die Kritik der konstitutiven Frage ökonomischen Wachstums für die Absicht fruchtbar zu machen, Alternativen zur herrschenden Gesellschaftsordnung zu entwickeln, analysiert er das "Narrativ" des Spätkapitalismus aus einem nicht nur wissenschaftlichen, sondern auch aktivistischen Selbstverständnis heraus. Dabei bezieht er sich seiner Forschungstätigkeit gemäß vor allem auf den nordamerikanischen Kontext, der aber weitgehend auf die Situation in Europa übertragbar sei.

Im Vortrag - Foto: © 2014 by Schattenblick

Éric Pineault
Foto: © 2014 by Schattenblick

Hohe Gewinne bei niedrigem Wachstum in der Krise des Kapitalismus

Um zu erklären, wieso die Finanzakkumulation seit Beginn der Krise 2008 stärker als je zuvor sei, faßt er die Aktivitäten auf dem neoliberalen Finanzmarkt eingangs unter dem Begriff der "Finanzialisation" zusammen. Sie seien gekennzeichnet durch die wachsende Bedeutung der Kreditwirtschaft für den Konsum und der Derivate in industriellen Produktionsverhältnissen. Bei letzteren geht es darum, Risiken bei der Verzinsung aufgenommener Kredite und bei Wechselkursen abzufedern sowie die wechselnden Preisverhältnisse auf dem Rohstoffsektor kalkulierbar zu machen, was zu einer anwachsenden Bedeutung des Finanz- für das Industriekapital geführt habe.

Dementsprechend habe die Bedeutung dieser Geldgeschäfte in großen Finanzzentren wie New York und London im Sinne der Zentralisierung und Konsolidierung des Einflusses der damit befaßten Akteure - Banken, Hedgefonds, Investmentfonds, Versicherungen usw. - wie des schieren Umfanges der Geldzirkulation stark zugenommen. Das habe zu einer inflationären Entwicklung der finanziellen Anlagen und Aktiva im Verhältnis zur materiellen Produktion von Waren und Dienstleistungen geführt. So hätten diese Finanzwerte in Kanada 1980 350 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen. Kurz vor der Krise hätten die Finanzwerte das BIP, also den in Geld ausgedrückten Wert der im Inland in einem bestimmten Zeitraum produzierten Waren und Dienstleistungen, um 800 Prozent übertroffen. Heute seien es 1100 Prozent, was bedeutet, daß 11 Dollar auf dem Finanzsektor einem Dollar gegenüberstehen, der in der materiellen Wertschöpfung erwirtschaftet wurde.

Diese monopolistischen Tendenzen in der Finanzwirtschaft hätten zur Entstehung eines globalen oligopolistischen Bankensystems geführt, was sich auch mit der Analyse der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (ISB), einer der wichtigsten internationalen Organisationen zur Sicherung der Währungs- und Finanzstabilität, decke. Auf diese Weise konzentriere sich nicht nur der finanzielle Reichtum oder die Zirkulation des Kapitals in den Händen weniger Akteure. Diese hätten, so Pineault, auch maßgeblichen Einfluß auf die Struktur finanzieller Beziehungen, also die Modalitäten des Geldverkehrs, die Form sogenannter Finanzprodukte und die Bedingungen von Anlage- und Investitionsentscheidungen. Die Fähigkeit, die Praktiken und Strukturen der globalen Finanzmärkte zu bestimmen, befinde sich heute in der Hand von kaum mehr als 20 großen - und damit in der Diktion der Bundesregierung "systemrelevanten" - Finanzmarktakteuren, was zur Folge habe, daß der Zusammenbruch eines dieser Akteure zum Crash des gesamten Finanzsystems führen könne.

Daraus resultiere, so Pineault, finanzielle Instabilität in Permanenz, was nichts anderes bedeutet, als daß der Krisencharakter des kapitalistischen Weltsystems nicht mehr durch eine relative Stabilität abgelöst werde, wie sie in der Hochzeit des Industriekapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht wurde. Wo einst ein langfristiges und stabiles Geschäftsverhältnis zwischen Bank und Kreditnehmer bestand, herrsche heute eine Tendenz zur "Verflüssigung" ökonomischer Beziehungen vor. Diese basiere auf den Innovationen sogenannter Finanzprodukte, also der Verbriefung von Hypothekenkrediten, anderer Gläubigerforderungen oder Eigentums- und Rechtstiteln aller Art zu verzinsbaren und am Finanzmarkt handelbaren Wertpapieren. Die sich daraus ergebende Potenzierung und Beschleunigung des in Umlauf befindlichen Geldes schaffe ökonomische Beziehungen, die nicht mehr durch langfristige Kreditlinien und Zahlungsmodalitäen geprägt seien, sondern sich in kurzen Fristen veränderten oder verflüssigten, wie Pineault es ausdrückt.

Mit einem Seitenblick auf die grüne Vision einer nach den Regeln der Marktwirtschaft gestalteten ökologischen Reform meint der Referent, daß diese hochinnovative Finanzwirtschaft nur darauf warte, das Projekt der ökologischen Modernisierung mit ihren exotischen und vielversprechenden Geldprodukten zu finanzieren. So habe der Handel mit Emissionsrechten, mit Futures, die die Kommodifizierung geistigen Eigentums spekulativ erweitern, mit der Bereitstellung sogenannten Risikokapitals, mit ökologischen Investmentfonds und sogenannten Katastrophenfonds eine regelrechte Finanzindustrie herausgebildet, die die ökologische Transformation zu ihrem Geschäftsmodell mache und damit "einfange", so der Referent.

Während die Finanzwirtschaft in der Krise prosperiert, sei das zumindest für die güterproduzierende und Dienstleistungen anbietende Ökonomie in Nordamerika keineswegs der Fall. Sie stecke in der Falle einer von Austeritätspolitik bestimmten Stagnation, die seit dem Beginn der Krise 2008 anhalte und sich durch die geringe Investitionsneigung der Unternehmen, einen fragilen Welthandel und eine sich dementsprechend negativ auf die Nachfrage auswirkende hohe Arbeitslosigkeit bei geringem Lohnniveau auszeichne. Die Rücknahme der öffentlichen Ausgaben im Rahmen der Sparpolitik wirke sich depressiv auf die Wirtschaft aus, was wiederum zu geringeren Steuereinnahmen und entsprechenden Ausgabenkürzungen der öffentlichen Haushalte führe. Aus Sicht der Ökonomen hätten sich zyklische Elemente und strukturelle Widersprüche des Kapitalismus so miteinander verbunden, daß die Forderung der Gewerkschaften, durch die Zunahme öffentlicher Investitionen und die Steigerung der Löhne praktisch aus der Krise herauszuwachsen, nicht funktionieren könne.

Während niedrige Wachstumsraten, strukturelle Unterbeschäftigung und flexibilisierte Arbeitsbedingungen das Leben der Lohnabhängigen verschlechterten und dauerhaft rezessive Tendenzen produzierten, sehe die Lage für die Investoren und Kapitaleigner hervorragend aus. Die Eigentümerklasse sei durch ein historisch neuartiges Stadium des Kapitalismus privilegiert, das darin bestehe, hohe Profite ohne nennenswertes Wachstum zu generieren. In jeder Dekade seit 1970 habe die durchschnittliche Wachstumsrate der OECD-Staaten um ein Prozent abgenommen und befinde sich heute unterhalb eines Prozents. Heute bedürfe es nicht mehr der hohen Wachstumsraten, die in den 50er und 60er Jahren die Regel waren und auch noch in den 70er und 80er Jahren vorkamen.

Für Pineault handelt es sich dabei allerdings nicht um eine quasi naturwüchsige Form des Degrowth. Der Mangel an Wachstum benachteilige nicht nur Lohnabhängige, deren sozialpolitische Leistungen von hohen Steuereinkommen abhängen. Auch die ökologische Bewegung brauche Wachstum für all die Projekte, mit Hilfe derer die Infrastrukturen der Städte, der Energieerzeugung und der Agrarwirtschaft in ihrem Sinne verändert werden sollen. Ein Kapitalismus mit einer ökologischen Agenda sei auf Wachstum angewiesen, was zu der paradoxen Situation führe, daß die sozialen Bewegungen gegen den Kapitalismus heute ihre Zielsetzungen veränderten. Wer auf eine ökologische Entwicklung innerhalb des Kapitalismus setze, sei auf Wachstum angewiesen, nur wer ihn verlassen wolle, bedürfe keines Wachstums.

Es sei eben nicht so, daß die Kapitalisten nicht ihren Job täten, wenn sie nicht investierten, wie es kanadische Gewerkschafter behaupteten. Indem sie Akkumulation bei niedrigem Wachstum realisierten, erfüllten sie ihre Aufgabe auf geradezu exemplarische Weise. Neben der Finanzialisierung und der austeritätsbedingten Stagnation werde die Zukunft des späten Neoliberalismus von der rücksichtslosen Ausbeutung verbliebener Rohstoffquellen bestimmt sein. Für den Ökosozialisten John Bellamy Foster hat mit dem sogenannten Extraktivismus, der in Ländern des Südens praktiziert wird, die auf Rohstoffexporte angewiesen sind und den Raubbau an ihrer Natur aus nationalökonomischen Gründen zulassen, das Rennen um das, was an fossilen Rohstoffen übriggeblieben ist, begonnen. Pineault erweitert den Begriff des Extraktivismus dahingehend, daß es sich nicht nur um ein Problem des globalen Südens handle, sondern auch Länder wie Kanada oder etwa Spanien, wo massiv in Fracking investiert werde, davon betroffen seien. Seiner Ansicht nach betrifft diese Form besonders destruktiver Naturausbeutung die ganze Welt und wird zu massiven Kämpfen um die Enteignung des Landes zugunsten der Rohstoffwirtschaft führen.

Éric Pineault - Foto: © 2014 by Schattenblick

Komplexe Materie mit Elan und Humor präsentiert
Foto: © 2014 by Schattenblick

Kapitalakkumulation als Kern des Wachstumsproblems

Pineault warnt davor, materielles und ökonomisches Wachstum nicht klar zu unterscheiden. Unter ersterem sei der physische, von den materiellen Bedingungen etwa der Rohstoffausbeutung und anderer Zwänge ausgehende Einfluß auf die Umwelt wie die Menschen selbst zu verstehen. Am ökologischen Zerstörungspotential dieses Wachstumsbegriffs setze auch die Kritik der Degrowth-Bewegung an. Ökonomisches Wachstum hingegen beziehe sich auf das Maß des BIP, also die Quantität des Wertes an Gütern und Dienstleistungen, die in einem spezifischen Territorium in einem Jahr produziert wird und dort zirkuliert. Obwohl allgemein bekannt sei, daß es kein unbegrenztes materielles Wachstum innerhalb der Biosphäre geben könne, sei das Verhältnis zwischen materiellem und ökonomischem Wachstum weitgehend unbestimmt.

Pineault schlägt daher vor, das Bindeglied zwischen materiellem und ökonomischem Wachstum in der Kapitalakkumulation zu verorten. In der erweiterten Reproduktion des Geldes um seiner Verwertung willen, so Pineaults Referenz auf Karl Marx, trete ein Anrecht auf zukünftigen sozialen Reichtum hervor, wie der Soziologe Georg Simmel erklärt habe. Damit sei entweder der Zugriff auf die Eigentumsrechten unterworfene Natur oder auf zu Arbeit transformierte menschliche Aktivität gemeint.

Wer Kapital akkumuliere, tue dies auch, um über die Nutzung künftiger Lohnarbeit zu verfügen. Damit, so die Schlußfolgerung des Referenten, betreffe Degrowth auch die Rücknahme menschlicher Aktivität, die die Form von Lohnarbeit annimmt. Auch wenn sich der Referent in dieser Forderung nicht von anderen Vertretern einer wachstumskritisch begründeten Reduktion der bezahlten Arbeitszeit unterscheidet, ist der Hinweis auf das seinen produktiven Nutzen erst in ferner Zukunft realisierende fiktive Kapital essentiell für die Frage, inwiefern eine bedarfsorientierte und verbrauchsminimierte Gesellschaft überhaupt auf der Abstraktionsmacht des Geldes begründet werden kann.

Akkumulation könne extensiv oder intensiv erfolgen, erklärt Éric Pineault. Die extensive Akkumulation finde in Form geldförmiger produktiver Beziehungen statt - mehr Waren und mehr Lohnarbeit in Gesellschaften, die sich auf kapitalistische Weise reproduzieren. Die intensive Akkumulation, die Marx relativen Mehrwert nenne, betreffe die permanente Veränderung der Produktionsweise durch die Revolutionierung des Arbeitsprozesses zugunsten höherer Produktivität, was wiederum zur Senkung des Wertes der Lohnarbeit führt. Die Dynamik dieses Wandlungsprozesses betreffe auch die Art und Weise des Verbrauchs der dabei produzierten Güter und Dienstleistungen.

Da die Akkumulation auf der strikten Trennung von Produktion und Konsum basiert, expandiere der Kapitalismus, so Pineault, gerade dadurch, daß er zwischen diesen beiden Sphären vermittle. So reduziere sich bei einem Lohnarbeiter der Zusammenhang zwischen seiner Tätigkeit und dem Konsum, der mit Hilfe seines Einkommens ermöglicht wird, darauf, daß die Produkte der Arbeit durch das abstrakte Tauschwertäquivalent Geld an ihre Käufer vermittelt werden. Je größer der Abstand zwischen diesen beiden Antipoden des individuellen und gesellschaftlichen Lebens werde, desto mehr Raum öffne sich, der vom Kapital okkupiert und zum Ausgangspunkt seiner Expansion gemacht werden könne.

Nun stehe der Spätkapitalismus - in der englischsprachigen Terminologie Pineaults advanced oder corporate centered capitalism - vor dem Problem der Überakkumulation. So verfügten die kanadischen Konzerne über Geldmittel in Höhe von 30 Prozent des BIP, in den USA seien es sogar 40 Prozent. Das Problem, dieses Geld in eine Wirtschaft einzuspeisen, die beim Absatz von Gütern und Dienstleistungen bereits stagniert, resultiere in Überproduktion und Überkonsumtion. Dennoch führe die fortschreitende Effizienzsteigerung in der Produktion, also die Verringerung des Anteils menschlicher Arbeit bei der maschinellen Herstellung einer Ware, nicht dazu, daß die Menschen über mehr Zeit verfügen, in der sie keiner fremdbestimmten Lohnarbeit nachgehen müssen. Obwohl die Industrie immer produktiver wird, müssen die Menschen mehr arbeiten, um ihren Lebensstandard auch nur zu halten.

Unter Verweis auf die in den 60er Jahren von Paul A. Baran und Paul Sweezy formulierte Theorie über "die Produktion und Absorption des Surplus unter den Bedingungen des Monopolkapitalismus" konstatiert Pineault einen zwangsläufigen Zusammenhang von Überproduktion und Überkonsumtion. Er bringe ein soziales und kulturelles Leben hervor, in dem der Zweck der Herstellung von Konsumgütern darin bestehe, mit ihrem Verbrauch die Überproduktion abzubauen. Laut dieser Theorie ist der Verbrauch, der das Verhältnis zwischen Überproduktion und Überkonsumtion bestimmt, kein nachrangiges Merkmal des Akkumulationsprozesses im Spätkapitalismus, sondern ein konstitutives Konzept seiner Fortschreibung.

Zu erkennen, daß die Entwicklung eines zerstörerischen Verbrauchs und des daraus hervorgehenden Wachstums auf der Nutzung von Lohnarbeit beruht, versetze die Degrowth-Bewegung in die Lage, dieses Problem nicht auf moralische, sondern analytische und sachbezogene Weise zu kritisieren. Der Referent schlägt vor, diese Möglichkeit dafür zu nutzen, die Macht des privatwirtschaftlichen Investments zum zentralen Ziel der Kritik zu machen. Da dessen Einfluß auf die gesellschaftliche Produktion und Reproduktion nicht nur kurzfristige Auswirkungen hat, sondern die Zukunft des sozialen Gemeinwesens langfristig bestimmt, stehe die Sozialisierung des Investments auf der Degrowth-Agenda. Da die Ökonomie der ökologischen Modernisierung versuche, Überproduktion und Überkonsumtion zu ökologisieren und nicht rückgängig zu machen, sei diese Absicht der privaten Investoren im Kern in Frage zu stellen.

Dies könne unter anderem durch aktiv betriebene Wertminderung erfolgen. Als Schuldner gewinne man gegen den Gläubiger durch Inflation, was ein Grund dafür sei, daß die Zentralbanken Inflation bekämpfen. Durch die Bekämpfung der Geldentwertung wird die Verfügungsgewalt des Kapitals über die warenproduzierende Gesellschaft gesichert, was natürlich auch die Unterwerfung der Menschen unter den Zwang zum Verrichten fremdbestimmter Arbeit betrifft. Daher gelte es, wieder zum Produzenten der eigenen materiellen Lebensmittel und notwendigen Güter zu werden.

Abendlicher Innenhof der Universität Leipzig - Foto: © 2014 by Schattenblick

Am Ende eines langen Tages noch mehr Fragen
Foto: © 2014 by Schattenblick

Wachstum als Qualifikation neofeudaler Herrschaft

Unabhängig davon, wie die Analyse Pineaults im Rahmen der Debatte um die marxistische Kritik des Wertes und die Positionen ihrer postmarxistischen Interpreten zu verorten ist, spricht der Referent eine fundamentale Erkenntnis zur Funktionsweise des warenproduzierenden Gesellschaftssystems an. Indem die Akkumulation fiktiven Kapitals als im Verhältnis zur materiellen Wertschöpfung weit überproportionales Wachstum des Kredits auf allen Ebenen staatlicher und wirtschaftlicher Tätigkeit in Erscheinung tritt, begründet es die fast totale Verfügungsgewalt der Gläubiger über die Arbeit. Was diese an konkreten Gütern und Dienstleistungen zugunsten der Menschen, die sie verrichten, und des Gemeinwesens, in dem sie leben, hervorbringen soll, ist praktisch für einen bereits erfolgten Verbrauch verpfändet und wird ihnen daher so weitgehend, wie es die Verbilligung der Arbeit und die Prekarisierung ihres Lebens zuläßt, entzogen.

Wo der ohnehin gegebene Widerspruch zwischen den Lebensinteressen der Menschen und der Abstraktionsmacht des Geldes, das die sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse seiner erfolgreichen Verwertung nachordnet, zu einem Schuldverhältnis eskaliert, das die Menschen möglicherweise auf Generationen hinaus dem Zwang unterwirft, eine nicht in ihrem Interesse aufgelaufene Schuld durch die fremdbestimmte Vernutzung ihrer Arbeit und ihres Lebens zu begleichen, da erzeugt Wirtschaftswachstum vor allem Mangel im Sinne der Knappheit und des Entzugs essentieller Lebensmittel und Verbrauchsgüter. Entwicklungsgeschichtlich fällt der Kapitalismus damit ins Stadium des Feudalismus zurück, also der Tributpflichtigkeit der Untertanen eines Herrschers oder der Bauern eines Lehnsherrn. Da dies unter den Bedingungen einer formal demokratischen und rechtsstaatlichen Eigentumsordung erfolgt, könnte man, wie Wolfram Pfreundschuh in seinen Vorträgen zur Kulturkritik umfassend erklärt, auch von einer neofeudalen Gesellschaft sprechen.

Wird also für die davon betroffenen Menschen maßgeblich Ausbeutung und Unterwerfung produziert, dann könnte man kurzgefaßt auch von Mangel- oder Unwertproduktion sprechen. Nimmt man die anwachsende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen in den Blick, dann wird noch deutlicher, worin das inhaltliche Ergebnis spätkapitalistischer Produktionsverhältnisse vor allem besteht. Dies könnte für die Wachstumskritik insofern relevant sein, als die ökologische Modernisierung im Rahmen eines Green New Deal oder einer Green Economy Herrschaftsverhältnisse hervorbringt, die in ihrer sozialen Zerstörungsgewalt nicht weniger inakzeptabel sind als das Versagen dieser Lösungsversprechen hinsichtlich der damit propagierten ökologischen Zielsetzungen.

Bericht zur Degrowth-Konferenz in Leipzig unter
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BERICHT/028: Aufbruchtage - Brauch- und Wuchskultur auf die Gegenspur ... (SB)

5. Oktober 2014