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BERICHT/097: Klimagegengipfel - Demo der Gemäßigten ... (SB)




Blick vom hinteren Teil einer Bühne auf die Demonstrationsteilnehmenden - Foto: © 2017 by Schattenblick

Auftaktkundgebung auf dem Bonner Münsterplatz
Foto: © 2017 by Schattenblick

Kaum daß 25.000 Protestierende unter dem Motto "Klima schützen - Kohle stoppen!" am 4. November in Bonn gegen die fossilen Energietechnologien auf die Straße gegangen waren, entledigten sich wenige Tage darauf die Grünen der letzten verbliebenen Fragmente ihrer zivilgesellschaftlichen Wurzeln. Um mitzuregieren geht die Partei offenbar bei den Verhandlungen mit CDU/CSU und FDP zur Regierungsbildung Kompromisse ein, die den Fortbestand der Braunkohleverstromung sichern und den daran beteiligten Unternehmen hohe Profite bescheren könnten.

"Für uns kommt es nicht darauf an, ob das letzte Kohle-Kraftwerk 2030 oder 2032 vom Netz geht", bemühte sich Simone Peter, Co-Vorsitzende der Grünen, gegenüber der "Rheinischen Post", die Kompromißbereitschaft ihrer Partei schönzureden. [1] Dabei hat Peter keineswegs behauptet, daß es bei den Verhandlungen konkret um diese beiden Daten geht, sondern sie hat dies eher allgemein als Beispiel formuliert. Also bleibt zu vermuten, daß es mit dem Kohleausstieg am Ende auch erst 2035 oder 2040 "klappt".

Und selbst zwei Jahre Verzögerung können beim Kohleausstieg von entscheidender Bedeutung sein, wie die Klimaexpertin einer Partei, die aus eben jener zivilgesellschaftlichen Bewegung hervorgegangen war, die nun in Bonn gegen die Klimapolitik der Bundesregierung demonstriert hat, eigentlich wissen müßte. Geht doch die Wissenschaft davon aus, daß sich in den verschiedenen Natursystemen sogenannte Kipp-Elemente bzw. Kipp-Punkte verbergen, bei deren Aktivierung eine Dynamik mit globalen Folgen in Gang gesetzt wird. Die wäre nicht mehr zu stoppen und würde erst enden, wenn ein völlig neues Niveau erreicht worden ist.

Es wird vermutet, daß der Eisschild auf der Westantarktis bereits einen solchen "tipping point" überschritten hat und unaufhaltsam abschmelzen wird. Allein diese Eismassen werden den Meeresspiegel global um mehr als drei Meter anheben. Man vermutet oder hofft vielmehr, daß das im Laufe von Jahrhunderten und nicht noch schneller stattfindet. Die Abschätzung der Geschwindigkeit von Gletscherschmelze und Wärmeaufnahme der Ozeane, den beiden entscheidenden Faktoren für den globalen Anstieg des Meeresspiegels, erweist sich allerdings als schwierig.


Buntes Fahnenmeer auf dem Bonner Münsterplatz - Foto: © 2017 by Schattenblick Foto: © 2017 by Schattenblick

Links: Breites Bündnis gegen Kohle und für Klimaschutz
Rechts: Hubert Weiger (ganz rechts), Jennifer Morgan, Mitglieder der Pacific Climate Warriors, Mamadou Mbodji, u.a. führen den Demonstrationszug an.
Foto: © 2017 by Schattenblick

Für die vielen Menschen, die im Vorfeld des offiziellen UN-Klimagipfels (COP 23) aus aller Herren und Damen Länder nach Bonn gereist waren, um auf der ersten, größten und vermutlich am gemäßigtsten von drei angekündigten Demonstrationen (die beiden anderen sollten am 11.11. stattfinden) vom Münsterplatz bis zur knapp drei Kilometer entfernten Genscherallee mitzumarschieren, kommt es sehr wohl darauf an, ob es der zukünftigen Bundesregierung ernst ist mit dem Klimaschutz und sie deshalb um jeden Zentimeter kämpft oder ob es ihr mehr um die Sicherung von Pöstchen und Pensionen geht. So erinnerte bei der Abschlußkundgebung die Lyrikerin Kathy Jetnil-Kijiner von den Marshall-Inseln daran, daß die heimatlichen Atolle nur zwei Meter über dem Meeresspiegel liegen, und forderte: "Wir leben an der vordersten Front des Klimawandels. Wir werden bereits von vermehrten Überschwemmungen und Dürren als unmittelbare Folge der Kohle-Industrie ereilt. Darum brauchen wir das Ende der fossilen Energiewirtschaft - jetzt!"

Anschließend trug sie das Gedicht "Dear Matafele Peinam" vor, in dem sie in Form eines Briefs an ihre sieben Monate junge Tochter von der "glasklaren, verschlafenen Lagune" erzählt, "die sich an den Sonnenaufgang lehnt". Von dieser Lagune werde gesagt, führte die junge Mutter weiter aus, daß sie irgendwann deine Heimat überspülen wird. Aber sie solle nicht weinen, das werde nicht geschehen, "denn Mami, Vati, Bubu Jimma, dein Land und auch der Präsident" werden kämpfen. Wir haben nicht einfach nur einen Anspruch darauf, zu überleben, sondern darauf, uns entfalten zu dürfen, rief die Rednerin.

Mit diesem Gedicht hatte Jetnil-Kijiner bei der Eröffnungszeremonie der UN-Klimakonferenz 2014 in New York die Staats- und Regierungschefs zu Standing Ovations bewegt und, glaubt man den Medienberichten, einige sogar zu Tränen gerührt. Mag es sich auch um Krokodilstränen gehandelt haben, die Staatenlenker können jedenfalls nicht behaupten, die Botschaft sei ihnen nicht zu Ohren gekommen. Die im Nordpazifik gelegenen Marshall-Inseln zählen zu den Landflächen, die als erste untergehen, wenn die globale Erwärmung voranschreitet. Da die Inselgruppe politisch mit den USA assoziiert ist, dürfen eines vielleicht nicht mehr fernen Tages Matafele Peinam und ihre Altersgenossinnen und -genossen nach Nordamerika übersiedeln. Aber ihre Heimat, die müßten sie zurücklassen. Das hätte auch mit der deutschen Kohlepolitik zu tun.


Auf dem Podium bei ihrer Rede zum Demo-Abschluß - Foto: © 2017 by Schattenblick

Kathy Jetnil-Kijiner trägt das Gedicht "Dear Matafele Peinam" vor
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Mamadou Mbodji aus Senegal ließ in seiner Rede auf der Abschlußkundgebung der Demonstration keinen Zweifel an der Dringlichkeit, mit der Maßnahmen zum Schutz vor dem Klimawandel ergriffen werden müssen. Die Folgen der globalen Erwärmung seien schon heute überall zu sehen. Bald werde es keine Menschen mehr in Afrika geben, legte das Mitglied von Naturefriends International (NFI) den Finger in die Wunde der EU-Außenpolitik, die sich gegenüber den Flüchtlingen abschottet. Aus Sicht der Menschen in Afrika werde auf den UN-Klimagipfeln immer nur diplomatisches Geschwätz abgehalten; diese Treffen werden als schlechter Scherz angesehen, sagte Mbodji und verlangte: "Wir brauchen Taten und zwar heute! Morgen wird es zu spät sein!"

Vor genau zehn Jahren fand auf der Insel Bali eine UN-Klimakonferenz statt, die COP 13. "Ich war dabei", rief Jennifer Morgan von Greenpeace International den Demonstrierenden zu. "Und ich erinnere mich, wie die Regierung von Bundeskanzlerin Merkel lautstark verkündet hat, daß sie bis 2020 40 Prozent der Treibhausgasemissionen senken werde. Der Saal applaudierte frenetisch. Ich auch! Heute muß ich zwei Dinge feststellen. Nummer 1: Angela Merkel ist immer noch im Amt. Und Nummer 2: Die Emissionen sind in diesen zehn Jahren fast überhaupt nicht gesunken. Jahr für Jahr ist dieses 40-Prozent-Versprechen wiederholt worden. Diese Regierung heuchelt eher Klimaschutz, als daß sie ihn umsetzt."

Für Morgan fehlt es in Deutschland "an politischem Mut", einzuhalten, was man beim UN-Klimagipfel 2015 in Paris unterschrieben hat. Der Mut, etwas zu tun, "was vielleicht nicht allen Industrielobbys gefällt". Das ist eine Einschätzung, wie sie so oder in ähnlicher Form auf sehr vielen Transparenten, Schildern und Flugblättern zu lesen und in Aufrufen und weiteren Reden bei der Abschlußkundgebung zu vernehmen war.

Ohne den Einfluß der Industrie auf die Politik verharmlosen oder den hinlänglich bekannten Drehtüreffekt zwischen Wirtschaft und Regierung verleugnen zu wollen, muß ergänzend zu Morgans Bewertung gesagt werden, daß eine Analyse des gesellschaftlichen Gewaltverhältnisses, das den Boden für die Klimawandelfolgen bereitet, unzureichend bleibt, würde dabei nicht auch das grundlegende Interesse der Politik an einer Qualifizierung der administrativen Verfügungsgewalt benannt werden. Und zwar jenseits des Profitstrebens der Wirtschaft und ihrer Versuche, die Politik für eigene Interessen einzuspannen.


Eine Gruppe junger Menschen und ein Transparent mit der Aufschrift 'Es geht um die Menschheit, nicht um die Macht der Wirtschaft' - Foto: © 2017 by Schattenblick Neun Frauen tragen ein breites, lilafarbenes Transparent mit der Aufschrift 'Feminists Demand Climate Justice' vor sich her - Foto: © 2017 by Schattenblick

Links: Die Wirtschaft als Gegenmodell zur Menschheit - eine verbreitete, wenngleich etwas verkürzte Sichtweise
Rechts: Klimapolitik ist ein gesellschaftliches Konfliktthema, das mit anderen verknüpft ist - Feministinnen fordern Klimagerechtigkeit
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Wie wirkmächtig dieses Dauerstreben der Politik nach Zuwachs der Kontrolle über die Produktionsweisen und -verhältnisse ist, zeigt sich in ihrer Fähigkeit, alternative Ansätze zu absorbieren und zu integrieren. Da wurde zum Beispiel eine Grundidee aus der Frühzeit der Anti-Atomkraftbewegung, die Energieversorgung dezentral zu gestalten und mit Energie aus Wind, Sonne und Biomasse relative Autarkie zu erzeugen, aus Sicht der herrschenden Kräfte erfolgreich unschädlich gemacht, indem man die ganze Bewegung in ruhigere, kontrollierbare Fahrwasser gelotst hat.

Unter anderem mit Hilfe der Bildung eines Oligopols aus vier Konzernen für die Verwaltung der Stromnetze, der Ausschreibungspflicht für den Zubau an erneuerbaren Energiesystemen und auch der Verteuerung des Strompreises mit der längst als Irrtum entlarvten Begründung, der Ökostromvorrang bei der Einspeisung sei an den hohen Stromkosten für die Haushalte schuld, behält der Staat weitgehend Kontrolle über die Energiebereitstellung für die Bürgerinnen und Bürger. Die utopische Hoffnung von einst, sich innerhalb dieser Gesellschaft eine Nischenexistenz aufbauen zu können, mutierte zu jenem Freiraum, den das Vieh empfinden mag, wenn es auf die Weide geführt wird und vorübergehend beste Futteraussichten genießen darf - natürlich nur zwecks späterer Endverwertung durch die herrschenden Kräfte.

Wer vom Einfluß der Industrielobby spricht und zugleich das staatliche Verfügungsinteresse unerwähnt läßt, macht es sich zu einfach oder, um die Aussage aus Jennifer Morgans Ansprache aufzugreifen, es fehlt ihm bzw. ihr womöglich an Mut, die Sicherheit verheißenden Weide einer gesellschaftlich getragenen Existenz zu verlassen.

Von den Teilnehmenden einer Demonstration, zu der hochrangige Mitglieder der Partei der Grünen angereist sind und selbst Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) eine Stippvisite machte, ohne vehemente Opposition gegen ihre Präsenz befürchten zu müssen, ist sicherlich nichts anderes zu erwarten, als daß die in vielfältiger Form beanspruchte gesellschaftliche Transformation bzw. der Systemwechsel eher einem Wechsel von einer Art Fahrbahn auf eine andere ähnelt. Nicht aber wäre von einem solchen Standpunkt zu erwarten, daß von ihm aus die Fahrbahn an sich samt der mit ihrer Herstellung, ebenso wie mit ihrem Gebrauch verfolgten Motive, Absichten und Ziele in Frage gestellt werden.


Bei der Rede auf der Abschlußkundgebung - Foto: © 2017 by Schattenblick Ein Trecker mit dem Transparent 'Was essen wir, wenn wir nichts ernten? AbL, www.abl-eu.de' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Links: Mamadou Mbodji warnt vor Flüchtlingsströmen aus Afrika als Folge des Klimawandels ...
Rechts: ... und die Arbeitsgemeinschaft Bäuerliche Landwirtschaft (AbL) vor den Klimawandelfolgen für den Nahrungsanbau.
Fotos: © 2017 by Schattenblick

Wo von teils relativ regierungsnahen Nichtregierungsorganisationen an die politischen Entscheidungsträger appelliert wird und "Signale" wahlweise an die Delegationen des offiziellen UN-Klimagipfels oder nach Berlin gesendet werden, da brauchten die uniformierten Ordnungshüter jedenfalls nirgends einzuschreiten. Die Lagebeurteilung der Bonner Polizei im Vorfeld hat ins Schwarze getroffen: "Die Polizei geht von einem friedlichen Verlauf der Versammlungen aus, erwartet aber Verkehrsbeeinträchtigungen entlang der Aufzugswege." [2]

Verkehrsbeeinträchtigungen entlang der Aufzugswege ... bleibt am Ende diese vorübergehende Irritation der Personen- und Warenströme im samstäglichen Betrieb einer mittelgroßen Stadt von der laut Veranstalter "größten" Anti-Kohledemonstration Deutschlands übrig? Was folgt daraus, daß 25.000 Menschen (davon ca. 3500 mit dem Fahrrad) - bunt, Parolen skandierend und Trillerpfeifen blasend -, eine sehr viel entschlossenere Klimaschutzpolitik der Bundesregierung fordern? Inwiefern ist das Mittel der Demonstration überhaupt dazu geeignet, nennenswerten Druck auszuüben und die Regierung in Bewegung zu setzen?

Das sind gewiß keine neuen Fragen, aber womöglich müssen sie von neuem gestellt werden angesichts der hohen Geschwindigkeit, mit der sich gegenwärtig die globalen Natursysteme wandeln. Ein Zögern und Zaudern, ob von Zivilgesellschaft oder Regierung, kann zum Überschreiten eines "tipping points" führen, und da dies globale Folgen nach sich zöge, wäre anschließend mit einem weltweiten Kaskadeneffekt solcher Schwellenüberschreitungen zu rechnen. Ein Hinauszögern des Kohleausstiegs um zwei Jahre klingt angesichts der über 150 Jahre zurückreichenden Geschichte der industriellen Kohleverbrennung nach keinem besonders langen Aufschub. Dennoch, zu diesem Zeitpunkt zu behaupten, es komme auf zwei Jahre nicht an, ist so, als stehe man an der Kante zum Abgrund - und klimageschichtlich tut das die Menschheit nachweislich - und wolle sich nur noch ein paar Zentimeter weiterbewegen. Nach dem Motto: Leute, habt euch nicht so, nur noch ein kleines Stückchen in die gleiche Richtung, anschließend kehren wir um, ganz bestimmt ...


Hinter der Rednerbühne wird per Kran eine Fläche hochgehalten, auf der schwarze Luftballons den Schriftzug 'End Coal!' ergeben - Foto: © 2017 by Schattenblick

Der Kohleverstromung ein Ende bereiten - End Coal!
Foto: © 2017 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] tinyurl.com/y93durlx

[2] http://www.presseportal.de/blaulicht/pm/7304/3776683

Bisher im Schattenblick unter BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT zum People's Climate Summit (PCS) in Bonn, mit dem kategorischen Titel Klimagegengipfel versehen, erschienen:

INTERVIEW/135: Klimagegengipfel - Kafkaeske Weisheiten     Uwe Hiksch im Gespräch (SB)
INTERVIEW/136: Klimagegengipfel - Störfall Wirtschaft und Energie ...     Dipti Bathnagar im Gespräch (SB)


13. November 2017


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