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BERICHT/108: Naturbegriffe - blutige Verschiebespiele ... (SB)


Ohne das Kapital zu vergessen, werde ich mich also für folgenden Namen entscheiden: die Moderne. Die Moderne als solche: diese unbezwingbare Sucht nach Energie, Konsum, Neuheit, Geschwindigkeit; diese blinde Verehrung der Technologie und dieses blinde Vertrauen in die Wissenschaft; diese internalisierte Gefolgschaft für die Dogmen von Wachstum, Entwicklung und Fortschritt. All dies ausgelebt als unverminderter Druck, als Klammergriff, als materielle Kraft des Terrors. Zwanghaftes Vergnügen unter Bedingungen der sozialen Auslese der globalisierten Prekarität, der ökologischen ebenso wie der sozialen. Die Moderne ist unsere Zwangslage - der urban-industrielle Komplex von Ökozid und Genozid.
Gene Ray: Den Ökozid-Genozid-Komplex beschreiben: Indigenes Wissen und kritische Theorie in der finalen Phase[1]


Das Nigerdelta, so heißt es, sei einst ein Naturparadies gewesen. Das rund 70.000 Quadratkilometer große Gebiet von der dreifachen Größe der Schweiz, in dem zwischen 20 und 30 Millionen Menschen leben, ist das drittgrößte Wasserreservoir Afrikas und beherbergt die ausgedehntesten Mangrovenwälder des Kontinents. In den Feuchtgebieten lebten zahlreiche Tier- und Pflanzenarten, die einheimische Bevölkerung ernährte sich vor allem von Ackerbau und Fischerei.

Heute wird diese Region im Süden Nigerias als Hölle auf Erden beschrieben. Die Ende der 1950er Jahre aufgenommene Ölförderung hat ein apokalyptisches Szenario hervorgebracht, das Nigerdelta gilt als eines der am stärksten verseuchten Gebiete weltweit. Umwelt und Menschen werden von der Ölpest derart geschädigt, daß von einem Ökozid die Rede ist. Kritiker sprechen auch von einer ökologischen Kriegsführung, deren Folgen vergiftete Böden, Gewässer, Luft und Niederschläge sind. Vielerorts gleichen die Wasserläufe einer öligen Brühe, die Flüsse sind tot, das Erdreich ist stellenweise bis zu fünf Meter tief verseucht.

Im Jahr 2011 stellte die WHO im Grundwasser eine mehr als 900mal höhere Konzentration von Kohlenwasserstoff fest, als internationale Grenzwerte erlauben. Mehr als 400 Millionen Tonnen CO2 gelangen jährlich durch das Abfackeln von Gas in die Atmosphäre, die extreme Luftverschmutzung zieht schwerste gesundheitliche Folgen nach sich. Während in anderen Ländern das Abfackeln längst verboten ist, werden im Nigerdelta noch mehr als 120 solcher gigantischer Flammenwerfer betrieben, deren Hitze und Lärm kaum zu ertragen sind. Neben Treibhausgasen werden auch krebserregende Schwermetalle in die Luft geblasen, die Flammen machen auf gespenstische Weise die Nacht zum Tag.

Das Delta gleicht einem Armenhaus, die einstigen Lebensgrundlagen Ackerbau und Fischerei sind kaum noch möglich, die Menschen essen notgedrungen giftigen Fisch oder schwer belastete Lebensmittel. Die Krebsrate ist extrem, die Kindersterblichkeit liegt bei 20 Prozent, die Lebenserwartung ist im Vergleich zum Rest des Landes um etwa zehn Jahre gesunken. Die massiv bedrohte Existenzweise zieht Konflikte aller Art nach sich, in denen jedes Jahr tausend und mehr Menschen eines gewaltsamen Todes sterben.


Am Rednerpult - Foto: © 2017 by Schattenblick

Ken Henshaw
Foto: © 2017 by Schattenblick

Verheerungen im Nigerdelta vor dem Tribunal

Im Rahmen des International Rights of Nature Tribunal, das am 7. und 8. November 2017 im Bonner LVR-Landesmuseum abgehalten wurde, trat Ken Henshaw von der Organisation Social Action in Nigeria als Vertreter der Betroffenen in den Zeugenstand. Zum Themenkomplex "Finanzialisierung der Natur und REDD+" ergriff er in bewegenden Worten Partei für die Menschen in den Mangrovenwäldern seines Heimatlandes, die von verheerenden Umweltschäden, den unmittelbaren Auswirkungen des Klimawandels und überdies von Programmen zu dessen vorgeblicher Begrenzung massiv in Mitleidenschaft gezogen werden. Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) kam 2011 zu dem Schluß, daß es 30 Jahre dauern und eine Milliarde Dollar kosten würde, die verseuchten Böden und Gewässer zu sanieren. Im Jahr 2012 kam es im Nigerdelta zu einer der größten Flutkatastrophen weltweit, bei der ganze Dörfer verschwanden und die gesamte Ernte einer Saison vernichtet wurde. Nachdem es einheimischen Umweltschützern gelungen war, Waldflächen als Schutzgebiete zu bewahren, machte die Regierung im Zuge von REDD+ Jagd auf die dort lebenden Menschen, um sie aus den Wäldern zu vertreiben. Obgleich ihr Leben innig mit dem Wald verbunden war, wurden sie nicht gefragt oder informiert, geschweige denn um ihre Zustimmung ersucht.

Wie Henshaw erklärte, mache er in Vertretung der Menschen im Mangrovenwald geltend, daß ihre Wälder keine Abwassergrube und keine Müllkippe sind. "Wir haben sie von unseren Vorfahren übernommen, wir leben darin und davon, sie sind die Hoffnung für unsere Kinder. Unser Wald ist lebendig, er atmet, er trägt Früchte, er hat Rechte." Deshalb kämpften die Menschen in vielen Regionen des Nigerdeltas gegen diejenigen, die den Wald, die Umwelt und das Klima zerstören. Als 2016 zwei Gemeinschaften die Firma Shell in England verklagten, habe sich gezeigt, daß die Betroffenen vom nationalen und internationalen Rechtssystem im Stich gelassen werden. Dabei seien die Forderungen doch einfach und klar: Stoppt REDD in all seinen Varianten, gebt uns unseren Wald zurück! Man kann nicht für die Natur bezahlen, laßt unseren Wald in Ruhe!


Ken Henshaw am Rednerpult - Foto: © 2017 by Schattenblick

Bezeugt den Ökozid im Nigerdelta
Foto: © 2017 by Schattenblick

Fluch des schwarzen Goldes

Die unverminderte Schädigung der Ökosysteme und der Gesundheit der Menschen ist auf die Suche und Förderung von Rohöl und Erdgas zurückzuführen, die zahllose Ölverschmutzungen, Abfackelungen, Entwaldungen, Überflutungen, Erdsenkungen, Küstenerosionen und viele weiteren Zerstörungen zur Folge haben. Mehr als 5000 Bohrquellen werden betrieben, über 7.000 Kilometer Pipelines durchkreuzen das Nigerdelta. Aufgrund vieler Lecks läuft nahezu täglich irgendwo Öl aus, die oftmals Jahrzehnte alten Anlagen sind marode. Verrostete Rohre laufen ungeschützt und überirdisch quer durch Dörfer, Tankreservoirs sind für die Hälfte der Schäden verantwortlich, gefolgt von Sabotageakten und Ölfördertätigkeiten. Stillgelegte Bohranlagen und das illegale Abzweigen von Öl sind weitere Ursachen der Ölpest. Immer wieder entstehen Brände, ereignen sich Explosionen. Shell schickt irgendwann Trupps, die Sand über das ausgelaufene Öl kippen, worauf das Gebiet als "saniert" deklariert wird. Während ausländische Konzerne täglich rund 2,2 Millionen Barrel Öl aus dem Nigerdelta pumpen, dessen Hauptabnehmer Indien, die USA, China und die EU sind, sickern jedes Jahr etwa 280.000 Barrel Öl aus leckenden Pipelines - etwa soviel, wie nach der Havarie der "Exxon Valdez" 1989 vor Alaska auslief. Bei Tausenden Ölunfällen im Nigerdelta sind viele Millionen Liter Öl in Wasser und Boden geflossen.

Nigeria, mit circa 170 Millionen Menschen das bevölkerungsreichste Land Afrikas, verfügt über das größte Erdölvorkommen des Kontinents. Das Land ist der führende Erdölexporteur Afrikas und der sechstgrößte der Welt. Seine Wirtschaft hängt in hohem Maße von dem schwarzen Gold ab, das für über 80 Prozent des Bruttoinlandprodukts, 95 Prozent des Staatshaushalts und 90 Prozent der Einkünfte aus ausländischen Devisengeschäften sorgt. Trotz dieses Reichtums leben fast zwei Drittel der Bevölkerung in absoluter Armut, während korrupte Eliten die Staatskassen plündern. Verantwortlich für die Erdölförderung ist die Shell Petroleum Development Company, ein Joint Venture zwischen Royal Dutch Shell und dem nigerianischen Staat. Die Förderaktivitäten führen jedoch diverse Ölfirmen wie Royal Dutch Shell (47%), ExxonMobile (22%), Chevron Texaco (19%) und ENI/Agip (5%) aus. [2]

Kollaboration zwischen Ölkonzernen und Zentralregierung

Die Wurzeln des Konflikts im Nigerdelta rühren aus der Kolonialzeit her, als die Briten hauptsächlich in Küstennähe präsent waren, während sie im Norden nur indirekte Herrschaft über lokale muslimische Herrscher ausübten. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit 1960 lagen die Erdölfördergebiete im christlichen Süden des Vielvölkerstaats, während die Mehrheit der Bevölkerung im Norden lebte. Das Nigerdelta erklärte sich 1967 unter dem Namen Biafra für unabhängig, wurde jedoch im Biafra-Krieg bis 1970 gewaltsam wieder eingegliedert. In der Folge wurden die Ethnien im Süden durch den nigerianischen Staat im Verbund mit internationalen Erdölkonzernen systematisch ihrer Ansprüche auf Eigentum und Kontrolle über ihr Land und ihre Rohstoffe beraubt. Gesetze zur Landnutzung, Ölförderung, zu den Wasserwegen und insbesondere das Herkunftsprinzip in der Verteilung der Staatseinkünfte wurden zu Lasten der Bevölkerung im Nigerdelta in Stellung gebracht.

Im Zweifelsfall bedienten sich Konzerne und Zentralregierung nackter Gewalt. So bat Shell-Nigeria Mitte der 1980er Jahre die Militärjunta um Hilfe bei der Niederschlagung aufflammender Proteste gegen die Ölmultis und das Regime. Es folgten ein Massaker, massenhafte Inhaftierungen sowie eine Fluchtbewegung aus dem Delta. Zudem wurden viele Gewalttaten zwischen den Ethnien des Südens durch Staat und transnationale Ölgesellschaften befeuert, um die Gemeinschaften im Nigerdelta zu spalten und zu schwächen. Die Plünderung der Staatskasse durch öffentliche Amtsträger hat Tradition und beschränkte sich keineswegs auf die Militärmachthaber. Diese Kollaboration bei der Ausbeutung der Ölvorkommen und Aneignung der Profite schuf geradezu ideale Voraussetzungen für die fossilistische Extraktion ohne Rücksicht auf Umweltgesetze und die existenziellen Interessen der Menschen im Delta.

Ken Saro-Wiwa und der gewaltfreie Widerstand der Ogoni

In den 1950er Jahren nahm Royal Dutch Shell im Lebensraum des Volkes der Ogoni gegen deren Willen die Ölförderung auf. Die daraus resultierte Umweltverschmutzung beraubte die Menschen ihrer Lebensgrundlage, was zu Tausenden von Toten führte. Ken Saro-Wiwa beschrieb in seinem Buch "Flammen der Hölle" die Schandtaten des Ölkonzerns und gründete die Bewegung für das Überleben des Ogoni-Volkes (MOSOP). Deren Ziele waren die politische und kulturelle Autonomie für die Ogoni, die Sanierung der geschädigten Gebiete sowie die Beteiligung der Bevölkerung an den Einnahmen aus der Erdölförderung. Dies sollte gewaltfrei erreicht werden. So rief die MOSOP im Januar 1993 zu einer Demonstration auf, an der etwa 300.000 Menschen teilnahmen, mehr als der Hälfte der Ogoni-Bevölkerung. Shell mußte vorübergehend seine Tätigkeiten im Ogoni-Gebiet einstellen, das jedoch noch im selben Jahr militärisch besetzt wurde.

Der Schriftsteller, Bürgerrechtler und Träger des alternativen Nobelpreises Ken Saro-Wiwa schuf 1990 mit dem "Ogoni Bill of Rights" die Grundlage für die Autonomiebestrebungen der Ogoni. Im September 1993 kam es zu schweren Zusammenstößen mit der Volksgruppe der Andoni, bei denen etwa 1.000 Ogoni getötet wurden und mehr als 30.000 aus ihrer Heimat flüchten mußten. Die MOSOP machte dafür die Regierung und die Ölgesellschaften verantwortlich. Ken Saro-Wiwa wurde von der Militärregierung inhaftiert, in einem Schauprozeß zum Tode verurteilt und am 10. November 1995 mit acht Mitstreitern hingerichtet. Dies erregte internationales Aufsehen, da zahlreiche Appelle und Proteste von Menschenrechtsorganisationen, Staats- und Regierungschefs sowie von der EU, der UNO oder der Organisation Afrikanischer Staaten (OAU) zu seiner Begnadigung wirkungslos geblieben waren. Nigeria wurde daraufhin mit sofortiger Wirkung aus dem Commonwealth of Nations ausgeschlossen.

Militante Bewegungen treten auf den Plan

Nach der massiven Repression gegen den gewaltfreien Widerstand der Ogami traten zunehmend militante Bewegungen auf den Plan. Am 11. Dezember 1998 trafen in Kaiama im Bundesstaat Bayelsa Jugendliche der Ethnie Ijaw aus über fünfhundert Gemeinden und vierzig Clans zu Beratungen zusammen, wie ihr Überleben im Nigerdelta sichergestellt werden könnte. Sie proklamierten das gesamte Land und alle Rohstoffe auf ihrem Territorium als Eigentum ihrer Gemeinden und lehnten alle anderslautenden Gesetze ab. Weiter forderten sie den sofortigen Rückzug des Militärs und erklärten jede Ölgesellschaft, die sich militärischer Dienste zum Schutz ihrer Operationen bedient, zum Feind des Ijaw-Volkes. Die Ölgesellschaften sollten jegliche Such- und Förderungsaktivitäten im Ijaw-Gebiet einstellen.

Zugleich warben die Ijaw-Jugendlichen für eine friedliche Koexistenz aller Gemeinden mit den unmittelbaren Nachbarn, sie verpflichteten sich, gemeinsam mit anderen ethnischen Nationalitäten im Nigerdelta für die Selbstbestimmung zu kämpfen, und erklärten sich solidarisch mit den nigerianischen Ölarbeitern. Darüber hinaus schlugen sie eine Konferenz vor, um eine demokratische Föderation von ethnischen Nationalitäten in Nigeria zu diskutieren, die auf Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit basieren sollte. Diese weitreichenden Forderungen nach Selbstverwaltung und Rohstoffkontrolle waren ein rotes Tuch für die Zentralregierung und die Konzerne, so daß es rasch zu bewaffneten Auseinandersetzungen kam. Am 24. September 2004 erklärte Alhaji Mujahid Dokubo-Asari den ausländischen Ölgesellschaften und Botschaften einen "all-out war". Die ständigen Angriffe der Ijaw-Milizen auf Ölquellen und Pipelines führen zu einem Sinken der Erdölproduktion und einem weltweiten Anstieg des Ölpreises.

Im Jahr 2006 kam als bis dahin unbekannter militanter Akteur das Movement for the Emancipation of the Niger Delta (MEND) hinzu, das sofort mit Überfällen auf Anlagen der Royal Dutch Shell deren Erdölproduktion empfindlich traf. MEND ging in der Folge eine Allianz mit anderen militanten Gruppen ein und machte auch mit Entführungen von sich reden. Im August 2006 kündigte Präsident Olusegun Obasanjo an, mit militärischen Mitteln gegen Geiselnehmer vorzugehen. Als die Ölförderung aufgrund der Anschläge dramatisch einbrach, kaufte sich die Regierung mit einem Amnestieprogramm frei. Rund 30.000 Kämpfer gaben ihre Waffen ab, erhielten im Gegenzug eine monatliche Zahlung in Höhe von 360 Euro und eine handwerkliche Ausbildung.

Im Jahr 2010 entführte die Rebellengruppe Niger Delta Liberation Force (NDLF) Manager von Shell- und Chevron und verübte Bombenanschläge auf Ölfördereinrichtungen. Offenbar setzte sich diese Gruppe aus Menschen anderer militanter Bewegungen zusammen, die von dem Amnestieprogramm der Regierung nicht profitiert hatten oder nach dessen Einstellung erneut aktiv wurden.

Steiniger Rechtsweg für die Opfer

Lange Zeit schienen die Ölkonzerne gegen alle Versuche immun zu sein, sie auf dem Rechtsweg zur Verantwortung zu ziehen. Das änderte sich in gewissem Maße, nachdem es im Jahr 2008 in der Gemeinde Bodo im Gebiet der Ogoni zu einer der schwerwiegendsten Erdölleckagen in der nigerianischen Geschichte gekommen war. Eine Pipeline war im Abstand weniger Wochen an zwei Stellen geborsten, Zehntausende Faß Öl liefen in einen Arm des Niger, verseuchten Tausende Hektar Mangrovenwälder und zerstörten die Lebensgrundlage von mehr als 15.000 Menschen. Der Betreiberkonzern Shell versuchte zunächst nach Kräften, das Ausmaß der Katastrophe ebenso zu leugnen wie die Tatsache, daß der marode Zustand der Leitung im Konzern seit Jahren bekannt war. Ein Zivilgericht in Den Haag verurteilte das niederländisch-britische Unternehmen am 30. Januar 2013 zunächst zu Schadenersatzzahlungen, ohne deren Höhe festzulegen. Am 7. Januar 2015 erklärte sich Shell schließlich in London zu einem außergerichtlichen Vergleich bereit, um den anstehenden Prozeß abzuwenden. Insgesamt 70 Millionen Euro wurden an 15.600 Fischer und Bauern aus dem Nigerdelta gezahlt. Die geschädigten Menschen bekamen jeweils etwa 2700 Euro direkt ausbezahlt, die Gesamtsumme war nach den Maßstäben der globalen Ölwirtschaft geradezu lächerlich gering. [3]

Wenngleich man von Präzedenzfällen sprechen könnte, die dazu führen, daß die Ölmultis endlich in die Pflicht genommen werden, steht doch eher zu befürchten, daß sie sich billig von ihrer Verantwortung freikaufen. Die Konzerne versuchen, sich mit langwierigen Verfahren der Haftung zu entziehen. Umweltschutzgruppen oder gar Einzelpersonen werden nie über die Mittel verfügen, dem Aufgebot an Juristen auf seiten der Unternehmen etwas entgegenzusetzen. Hinzu kommt, daß in einigen Ländern sogar die Rechtsgrundlage für eine Klage fehlt. [4] Wenngleich inzwischen weit über tausend Klagen gegen Shell und andere in Nigeria tätige Unternehmen anhängig sind, kann von einem Durchbruch auf dem Rechtsweg keine Rede sein.

Nebelkerzen fossilistischer Desinformation

Den von Kritikern erhobenen Vorwurf, ein Staat im Staate zu sein, der seine Profite auf Kosten von Mensch und Umwelt erwirtschaftet, weisen Konzerne wie Shell entschieden zurück. Man sei doch nur eine Firma und keine Parallelregierung, Shells Einfluß auf die Regierung Nigerias habe seine Grenzen. Und das sei auch gut so, da sich Shell als sozial engagiertes Unternehmen, als "Corporate Citizen", verstehe. [5] Der Konzern beteiligt sich teils an der Reinigung der verseuchten Böden, hat in den betroffenen Gebieten Schulen und Krankenhäuser gebaut, er finanziert Anti-HIV-Kampagnen, Umweltprogramme und konzerneigene Entwicklungsprojekte. [6] Gemessen am Ausmaß der Katastrophe ist das jedoch nicht nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, sondern eine Unternehmenspolitik der systematischen Verschleierung.

Die Vorstellung, eine Beseitigung der im Nigerdelta angerichteten Schäden sei jemals möglich, muß ins Reich fundamentaler Desinformation seitens der fossilistischen Wirtschafts- und Lebensweise verwiesen werden, welche die verheerenden Zerstörungen ihres globalen Raubzugs zuallererst jenen Weltregionen aufbürdet, die am wenigsten vom ihm profitieren. Wollte man die bloße Möglichkeit eines erfolgreichen Kampfs gegen die Ölpest zumindest nicht ausschließen, bedürfte es eines sofortigen Ausstiegs aus der Ölförderung in dieser Region und einer immens aufwendigen Sanierung und Entsorgung der gesamten Infrastruktur und Hinterlassenschaft des Desasters. Daß das in Angriff genommen würde ist nicht zu erkennen.


Anwältin Linda Sheehan trägt dem Tribunal vor - Foto: © 2017 by Schattenblick

Foto: © 2017 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] aus South as a State of Mind, Issue #8 [documenta 14 #3]
http://www.documenta14.de/de/south/895_den_oekozid_genozid_komplex_beschreiben_indigenes_wissen_und_kritische_theorie_in_der_finalen_phase

[2] Siehe dazu:
INTERVIEW/160: Klimagegengipfel - Fraß und Öde vor die Tür gekehrt ...     Peter Donatus im Gespräch (SB)
www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0160.html

[3] www.sueddeutsche.de/wirtschaft/oelkatastrophe-in-nigeria-shells-schande-1.2293186

[4] www.greenpeace.de/themen/umwelt-gesellschaft/wirtschaft/schmieriges-ol

[5] web.archive.org/web/20100615172538/http://www.tagesschau.de/ausland/oelpest370.html

[6] www.zeit.de/online/2006/27/nigeria-shell-internestudie


Bisher im Schattenblick unter BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT zum International Rights of Nature Tribunal in Bonn erschienen:

BERICHT/107: Naturbegriffe - die immer gleichen Absichten ... (SB)
BERICHT/106: Naturbegriffe - unzureichend im Blick ... (SB)
BERICHT/105: Naturbegriffe - im Kreisverkehr ... (SB)

INTERVIEW/169: Naturbegriffe - Fluchten ...     Ute Koczy im Gespräch (SB)
INTERVIEW/168: Naturbegriffe - Fundamentaler Widerstand ...     Kandi Mossett im Gespräch (SB)
INTERVIEW/167: Naturbegriffe - Universalitätsargumente ...     Linda Sheehan im Gespräch (SB)


23. Januar 2018


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