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BERICHT/097: Mädchenrechte stärken - weltweit! (frauensolidarität)


TERRE DES FEMMES in der frauensolidarität - Nr. 118, 4/11

Mädchenrechte stärken - weltweit!
Über den Internationalen Kongress von TERRE DES FEMMES in Berlin und die Jubiläumsfeier zum 30-jährigen Bestehen

Von Inga Marie List


Monatelang hatten die TERRE DES FEMMES-Kongresskoordinatorin Kerstin Horak und ihre Assistentin Friederike Schwebler diesen Tag vorbereitet. Am Samstag, den 29. Oktober 2011 war es dann endlich soweit: Über 400 FrauenrechtlerInnen, ExpertInnen und Gäste aus aller Welt kamen in Berlin zusammen, um beim internationalen Kongress "Mädchenrechte stärken - weltweit" über das Zukunftsthema Mädchenrechte zu diskutieren - und den 30. Geburtstag von TERRE DES FEMMES zu feiern.

Auf die Frage, ob sie nicht auch ein bisschen stolz sei, was aus TERRE DES FEMMES seit der Gründung in ihrer Privatwohnung im Oktober 1981 geworden ist, antwortete die Gründerin Ingrid Staehle: "Es ist mehr als Stolz, es ist Überwältigung." TERRE DES FEMMES habe damals angefangen "aus einem großen tiefen Gefühl" heraus, die Erschütterung über das, was Frauen in der Welt passiere, müsse irgendwo kanalisiert werden.

Diese tiefe Überzeugung, dass Mädchen- und Frauenrechte eine eigene Plattform und Lobby brauchen, damit sie selbstbestimmt und frei leben können, war auch in allen Redebeiträgen und Diskussionen beim Kongress zu spüren.


Bundespräsident würdigt Arbeit von TERRE DES FEMMES

So unterstrich der Bundespräsident Christian Wulff in seiner Rede die Bedeutung des unermüdlichen Einsatzes von TERRE DES FEMMES für Frauenrechte: "Unsere Demokratie lebt von Menschen wie Ihnen." Er betonte zugleich, dass Menschenrechtsverletzungen an Frauen in Deutschland bis heute nicht Vergangenheit seien: "Wir diskutieren über die Quotenregelung für Führungspositionen, und zugleich werden Frauen - mitten in unserem Land - Opfer von häuslicher Gewalt, von Zwangsheirat oder von Racheakten im Namen der sogenannten Ehre."

Breite Zustimmung aus dem Publikum erfuhr der Bundespräsident, als er zu seiner Auslandsreise nach Skandinavien 2012 die Vorsitzende von TERRE DES FEMMES, Irmingard Schewe-Gerigk, einlud. Bei dieser Reise soll die Umsetzung von Frauenrechten in den dortigen Ländern betrachtet werden.


Andauernde Gewalt gegen Mädchen und Frauen

Die UN-Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen, Rashida Manjoo, gab mit ihrer engagierten Einstiegsrede einen globalen Überblick über Menschenrechtsverletzungen an Mädchen und Frauen. Ein verbessertes Bildungsangebot für Mädchen ist für sie der Kernansatz, um die Situation zu verbessern. Doch gerade hier würden Mädchen laut Manjoo eine doppelte Benachteiligung erfahren: Auf der einen Seite verließen Mädchen eher die Schule ohne einen Abschluss, auf der anderen Seite seien sie sowohl auf dem Schulweg als auch in der Schule verstärkt der Gefahr sexuellen Missbrauchs ausgesetzt.


Reden über Bildung, Sexualität und Ehre

Nach dem Mittagessen starteten die vier Podien, die wichtige Aspekte der Mädchenrechte behandelten. Mit mehr als 100 Teilnehmenden war das Podium zum Thema Bildung am besten besucht. Hier zeigten sich vor allem extreme Unterschiede zwischen den Ländern: Während Rekha Panigrahi vom indischen Orissa Research Centre betonte, Familien sorgten noch heute zuerst für eine schulische Ausbildung ihrer Söhne und dann erst für die ihrer Töchter, war man sich einig, dass Mädchen in Deutschland eher privilegiert seien. Wenka Wentzel, die wissenschaftliche Begleiterin der Girls's Days, fügte hinzu: "Bildung soll Lebenschancen ermöglichen." Und hier seien Mädchen und Frauen in Deutschland im Vergleich zu anderen OECD-Staaten mit deutlich niedrigeren Gehältern weiterhin stark benachteiligt.

Nicht minder engagiert wurde im Nebenzimmer über Jungfräulichkeit gesprochen: Die aufrüttelnde filmische Dokumentation "The Burden of Virginity" der usbekischen Filmemacherin Umida Ahmedova ist in ihrem Heimatland verboten. Doch auch in Deutschland sei die weibliche Sexualität von Tabus überzogen. So berichtete Dr. Christine Klapp von der Ärztlichen Gesellschaft zur Gesundheitsförderung der Frau, dass bei den 14.000 Schülerinnen und Schülern, die sie pro Jahr in gynäkologischen Präventionsprojekten erreicht, Jungfräulichkeit das zentrale Thema sei. Auch die Fachbereichsleiterin von TERRE DES FEMMES, Sibylle Schreiber, betonte: "Als Frauenrechtsorganisation muss man sich mit Jungfräulichkeit beschäftigen, damit Mädchen selbstbestimmt leben können."

Beim Podium zum Thema Gewalt im Namen der Ehre/Zwangsheirat wurde über die verschiedenen Definitionen von "Ehre" selbst debattiert: Während Yilmaz Atmaca bei seiner Arbeit im Heroes-Projekt mit Jungen "Ehre" leicht hinterfragen könne und erst Diskussionen zur sexuellen Selbstbestimmung zu Kontroversen führten, erklärt die Frauenrechtsaktivistin Fauzia Viqar, in Pakistan sei das Patriarchat so tief verwurzelt, dass bereits viel grundlegendere Rechte wie das Verlassen des Hauses für Mädchen und Frauen aufgrund der "Ehre" ohne Begleitung nicht gegeben wären. Kontrovers wurde auf dem Podium zu weiblicher Genitalverstümmelung (FGM) die Rolle der Männer diskutiert. Rugiatu Turay, die Gründerin der Frauenrechtsorganisation Amazonian Initiative Movement (AIM) in Sierra Leone, erklärte, aufgrund der Tabuisierung von Sexualität werde über die Auswirkungen von FGM nicht gesprochen: "In our traditional setting, we don't talk about sex." Männer würden nur beschnittene Frauen kennen, und erst die Aufklärungsarbeit verdeutliche den Menschen das Ausmaß des Leidens, das Mädchen und Frauen durch die Verstümmelung ihrer Genitalien erfahren müssen.


Offene Fragen zur aktuellen Frauenpolitik

Auf dem großen Abschlusspodium "Quo vadis Mädchen- und Frauenrechte?" wurden aktuelle frauenpolitische Ereignisse aus aller Welt debattiert: Die tunesische Entwicklungspsychologin Souad Rejeb berichtete über die Auswirkungen des Arabischen Frühlings auf die Frauenrechte und zeigte sich besorgt über die Entwicklungen im Zuge der Wahlen, bei denen die islamistische Ehnahda-Partei gewonnen hatte.

Dr. Sima Samar, die Vorsitzende der afghanischen Menschenrechtskommission, merkte an, dass in den vergangenen zehn Jahren seit dem letzten TERRE DES FEMMES-Kongress, an dem sie auch teilgenommen hatte, sich vieles verbessert hätte, dass jedoch Mädchen und Frauen noch immer als "Bürger zweiter Klasse" behandelt würden. Johanna Nelles vom Europarat forderte die Mitgliedsstaaten auf, die Konvention gegen Gewalt gegen Frauen zu unterzeichnen.

Eva Welskop-Deffaa aus der Gleichstellungsabteilung des Bundesfamilienministeriums unterstrich die Wichtigkeit frauenrechtlicher Arbeit in und für Deutschland - wenn auch ihre Abteilung mit sieben Personen nicht über ausreichend Ressourcen verfüge. Hier zeigt sich, dass weiterhin engagierte FrauenrechtlerInnen gebraucht werden.

Nachdem das Tagesprogramm so viele Denkanstöße bot, wurde am Abend ausgiebig gefeiert: die frauenrechtlichen Erfolge der letzten drei Jahrzehnte, der unermüdliche Einsatz für Mädchen und Frauen seit 1981 und dreißig Jahre TERRE DES FEMMES.


Zur Autorin:
Inga Marie List ist seit Anfang Oktober Praktikantin bei TERRES DES FEMMES in der Fachbereichsleitung.

TERRE DES FEMMES
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Internet: www.frauenrechte.de


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 118, 4/2011, S. 22-23
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. März 2012