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MELDUNG/106: Offener Brief an Bundeskanzlerin Merkel vom "Bündnis Nein heißt Nein"


Terre des Femmes - Pressemitteilung vom 26. April 2016

Offener Brief an Bundeskanzlerin Merkel

"Bündnis Nein heißt Nein" fordert Paradigmenwechsel beim Sexualstrafrecht


Berlin, 26.04.2016. Am Donnerstag, 28. April, geht der Gesetzentwurf zur Neufassung der §§ 177 und 179 des Sexualstrafrechts in die erste Lesung des Deutschen Bundestags. Aus diesem Anlass fordert das "Bündnis Nein heißt Nein" in einem Offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel und an alle Bundestagsabgeordnete eine grundlegende Überarbeitung des vorliegenden Regierungsentwurfs. Das "Bündnis Nein heißt Nein" hat sich jüngst auf Initiative des Deutschen Frauenrats gegründet. Es besteht aus Frauen- und Menschenrechtsorganisationen, so auch TERRE DES FEMMES.

Zwar würde der derzeitige Gesetzentwurf einzelne Schutzlücken schließen, allerdings bleibt das sexuelle Selbstbestimmungsrecht nach wie vor unzureichend geschützt. So wird die sexuelle Selbstbestimmung nicht von sich aus geschützt, sondern muss von der Betroffenen aktiv verteidigt werden. Körperlicher Widerstand ist nur bei bestimmten Umständen nicht erforderlich, beispielsweise wenn der Täter die Betroffene überrascht und sie sich aus diesem Grund nicht zur Wehr setzt. Maßgeblich für die Be- und Verurteilung bleibt weiterhin das Verhalten der Betroffenen und nicht des Täters.

"Es darf nicht sein, dass eine sexuelle Handlung, bei der sich der Täter über den Willen der Betroffenen hinwegsetzt, strafffrei bleibt. Die Verantwortung dafür, ob eine Vergewaltigung auch als eine solche bestraft werden kann, darf nicht beim Opfer liegen," fordert Maja Wegener, Fachbereichsleiterin der Frauenrechtsorganisation TERRE DES FEMMES.

Auch bleibt der Entwurf weit hinter den Vorgaben der Europaratskonvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt zurück. Diese sieht vor, alle nicht-einverständlichen sexuellen Handlungen unter Strafe zu stellen. "Wir fordern eine umfassender Reform, einen Paradigmenwechsel, der darauf abzielt, dass jede sexuelle Handlung, die gegen den Willen einer anderen Person ausgeübt wird, bestraft wird", erklärt Maja Wegener.


Offener Brief an Bundeskanzlerin Merkel und die Mitglieder des Deutschen Bundestags
Eine große Koalition für eine große Reform des Sexualstrafrechts

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
sehr geehrte Frau Abgeordnete,
sehr geehrter Herr Abgeordneter,

die Zeit ist reif - reif für eine große Reform des Sexualstrafrechts. Wie 1997, als eine große Koalition von Bundestagsabgeordneten nach fast 25-jähriger Debatte in beeindruckender Einigkeit und mit überwältigender Mehrheit für die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe stimmte. Ein historischer Schritt im Kampf gegen sexualisierte Gewalt und für die sexuelle Selbstbestimmung.

Heute, knapp zwanzig Jahre später, steht der Bundestag erneut vor einer solchen Situation. Sie, als Mitglied des Bundestags, können bei der aktuellen Sexualstrafrechtsreform einen ähnlich bedeutsamen Schritt gehen.

Sexualisierte Gewalt ist nach wie vor ein schwerwiegendes gesellschaftliches Problem. Nur die wenigsten stattfindenden Vergewaltigungen werden durch die Betroffenen überhaupt angezeigt. Von den zur Anklage gebrachten Fällen wird nur ein sehr geringer Teil abgeurteilt. Das liegt auch am Strafrecht, das derzeit gravierende Schutzlücken für die Betroffenen enthält. In einer Reihe von aktuellen Analysen und Gutachten sind Fallgruppen aufgezeigt, in denen Frauen klar "Nein" sagen, der Täter das übergeht und seine sexuellen Übergriffe dennoch straflos bleiben.

Mittlerweile haben verschiedene europäische Länder, zuletzt Österreich, einen anderen rechtlichen Ansatz gewählt. Sie stellen bei der Beurteilung der Strafbarkeit darauf ab, ob die Betroffenen die sexuelle Handlung für den Täter erkennbar ablehnen.

Der vorliegende Regierungsentwurf für eine Neufassung der §§ 177, 179 (Sexuelle Nötigung/ Vergewaltigung und Sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen) StGB ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Er schließt einige Schutzlücken. Leider vollzieht er aber keinen grundlegenden Paradigmenwechsel.

Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ist auch weiterhin nicht an sich geschützt. Übergriffe bleiben weiterhin straffrei, auch wenn die von Gewalt betroffene Person ihren entgegenstehenden Willen bekundet und sich der Täter darüber hinweggesetzt hat. Maßgeblich bleibt also das Verhalten der geschädigten Person und nicht des Täters bei der Be- und Verurteilung.

Das widerspricht menschenrechtlichen Vorgaben wie dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention). Danach müssen die Staaten alle sexuellen Handlungen gegen den Willen der Betroffenen unter Strafe stellen. Diese Konvention wurde bislang von der Bundesrepublik Deutschland nicht ratifiziert. Sie darf aus unserer Sicht auch dann nicht ratifiziert werden, wenn der vorliegende Regierungsentwurf Gesetz wird.

Wir rufen Sie zu einer großen Koalition für ein "Nein heißt Nein" auf.

Wir fordern eine zeitgemäße und menschenrechtskonforme Weiterentwicklung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ist den meisten Betroffenen weiterhin nicht geholfen. Ist das Gesetz einmal beschlossen, wird es absehbar keine große Reform des Vergewaltigungsparagraphen geben. Daher appellieren wir an Sie, sich jetzt im parlamentarischen Verfahren dafür einzusetzen, dass der Paradigmenwechsel konsequent vollzogen wird.

Wir fordern eine weitergehende Debatte unter Begleitung der zivilgesellschaftlichen Organisationen und einen neuen historischen Schritt bei der Bekämpfung sexualisierter Gewalt - wie schon 1997.


Bündnis Nein heißt Nein

bff - Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe e.V.
Deutscher Frauenrat e.V.
Deutscher Juristinnenbund e.V. (djb)
Frauenhauskoordinierung e.V.
KOK - Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V.
TERRE DES FEMMES e.V.
UN Women Nationales Komitee Deutschland e.V.
ZIF - Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser e.V.

26. April 2016


Der offene Brief als PDF-Datei mit der Liste der Erstunterzeichnenden ist zu finden unter:
http://www.frauenrechte.de/online/images/downloads/hgewalt/Erstunterzeichnende_Offener_Brief_Buendnis_Nein_hei%C3%9Ft_Nein.pdf

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Quelle:
Pressemitteilung und Offener Brief vom 26. April 2016
Bundesgeschäftsstelle TERRE DES FEMMES e. V.
Brunnenstr. 128, 13355 Berlin
Telefon: 030 40504699-0, Fax: 030 40504699-99
E-Mail: info@frauenrechte.de
Internet: www.frauenrechte.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. April 2016

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