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AUTOREN/032: Josef Winkler und der Büchnerpreis (Sozialismus)


Sozialismus Heft 12/2008

Josef Winkler und der Büchnerpreis

Von Christina Ujma


Nach dem Ärger um Martin Mosebach hat sich die deutsche Akademie für Sprache und Dichtung mit dem Österreicher Josef Winkler 2008 einen Büchnerpreisträger ausgesucht, der eher ins progressive Lager gehört, erweckte damit aber wieder wenig Begeisterung. Die konservativen bzw. zeitgeistigen Feuilletons von Zeit, Spiegel oder FAZ waren erwartungsgemäß wenig erfreut und im progressiven politischen Spektrum stieß die Prämierung Winklers auf wenig Interesse.


Deutsche Linke und Gegenwartsliteratur

Das gesellschaftskritische Engagement der Gegenwartsliteratur ist schon lange vorbei und linkes Interesse an der bundesdeutschen Literaturszene der Gegenwart ist minimal. Dies ist in unserem Nachbarland Österreich deutlich anders, dort ist die Literatur nach wie vor engagiert und protestfreudig, weshalb die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, die den Büchnerpreis auch ein wenig nach dem politischen Schema Links-Rechts-Unpolitisch zu verteilen scheint, bei der Prämierung progressiver AutorInnen regelmäßig zu österreichischen SchriftstellerInnen greift. Elfriede Jelinek und Friederike Mayröcker sind schon Büchnerpreisträgerinnen gewesen, ähnlich wie Winkler machen sie dem rebellischen Namensstifter durchaus Ehre. Diesbezüglich wird man in Deutschland bei der Suche nach geeigneten Kandidaten kaum fündig, es gibt zwar noch linke SchriftstellerInnen, aber nicht unbedingt welche, die für den wichtigsten deutschen Literaturpreis geeignet wären. Das weitgehende Absterben der progressiven bundesdeutschen Literatur hat schon so manches preisverleihende Gremium in Verlegenheiten gestürzt, denn die wichtigsten deutschen Literaturpreise sind nach progressiven Schriftstellern benannt, z.B. der Heinrich-Heine-Preis oder der Döblin-Preis, für die sich allesamt kaum noch geeignete KandidatInnen finden. Diese Tatsache kommt nicht von ungefähr, denn politische interessierte Literatur hat kaum noch einen Platz, an dem sie sich entfalten könnte. Die großen Feuilletons machen Nachwuchsschriftsteller, die sich vermeintlich uncoolen politischen Themen widmen, erbarmungslos nieder oder ignorieren sie einfach. Linke Zeitungen oder Zeitschriften, die statt Bekenntnisaufsätze zu verlangen, dem engagierten Nachwuchs auch ohne ideologischen Reinheitstest Raum geben würden, existieren kaum.

Selbst der Friedenspreis des deutschen Buchhandels ging dieses Jahr nicht an einen Schriftsteller, sondern an Anselm Kiefer, den renommiertesten deutschen Maler der Gegenwart. Seine Rede war dafür literaturgesättigter und poetischer als das meiste, das man in den letzten Jahren von den prämierten Autoren zu hören bekam. Sein Thema war das Erinnern in Deutschland, vor allem an den Holocaust im Nachkriegsdeutschland. Er zitierte Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Nelly Sachs, aber auch Ernst Bloch und erinnerte an das 1848er Paulskirchenparlament. Die letzteren beiden Referenzen wurden in der Berichterstattung der großen Feuilletons einfach ignoriert, was noch einmal zeigt, wie effektiv die Ausgrenzung progressiver Inhalte funktioniert. Die konservativen Feuilletons reagierten auf Kiefers hoch poetische und hoch intellektuelle Rede mit eben soviel Unverständnis wie die hessische und gesamtdeutsche Politikerelite im Publikum, deren gelangweilt-desinteressierten Gesichtern man deutlich ansehen konnte, dass sie nicht mit Poesie oder Reflexionen über die deutsche Vergangenheit belästigt werden wollten.


Rabiater Kritiker der Österreichischen Borniertheiten

Das Werk des diesjährigen Büchnerpreisträgers Josef Winkler hält für die Leser ähnliche Zumutungen bereit, weshalb die konservativen Feuilletons ähnlich reagierten. Rechte wie Linke bevorzugen gegenwärtig anscheinend seichte Zeitgeist- und Lifestyleprosa wie die eines Martin Mosebachs, die es einfach macht, dafür oder dagegen zu sein. Literatur nach literarischen Maßstäben zu beurteilen, ist dagegen vollkommen aus der Mode gekommen, biografische Anekdoten sind dafür sehr im Trend. Josef Winkler ist dafür das beste Beispiel: In den Artikeln, die sich mit dem Büchnerpreisträger beschäftigen, findet sich wenig zum Werk, aber viel zu Winklers Biografie. Das liegt wegen dessen autobiografischer Färbung einerseits nah, andererseits steht seine hochpoetisch und hochartifizielle Sprache dieser Lesart sehr entgegen. Immerhin, Winkler spielt das Spiel der Kritiker mit und gibt den Enzensepp, den Jungen vom Dorf, der schreibend seine unglückliche Kindheit im Kärntner Dorf abarbeitet. Vermutlich ist das sicherer, als darauf zu hoffen, dass die Kritik dem Werk journalistisch sinnvolle Artikel abgewinnt. Zudem brauchen Schriftsteller Literaturpreise nicht nur des Ruhmes, sondern auch der Bestreitung des Lebensunterhaltes wegen. So liegt es nah, sich mit den Feuilletons möglichst gut zu stellen.

Winkler gab sich bei der Preisverleihung am 1.11.2008 jedenfalls respektvoll, seine Rede befasste sich mit seiner Kindheit und Jugend sowie der Rolle, die die Literatur als Vehikel zur geistigen Flucht aus der Enge und Borniertheit des Kärntner Dorfes spielte. Er überließ es seinem Laudator Ulrich Weinzierl, genüsslich mit den deutschen Feuilletons ins Gericht zu gehen, die meinten, Winkler sei in seinem Rebellentum und der rabiaten Kritik an österreichischer Borniertheit im Allgemeinen und Kärntner Borniertheit im Besonderen irgendwie unzeitgemäß: "Das angeblich Unzeitgemäße der Winklerschen Texte und Themen ist in Wirklichkeit von bestürzender Aktualität. Ich spreche von den Folgen des Unfalltods des österreichischen Rechtspopulisten Jörg Haider, des postum geradezu kultisch verehrten Kärntner Landeshauptmanns, des tatsächlich meistgeliebten Politikers in Kärnten seit Adolf Hitler, der sich - wie nach anfänglichen Vertuschungsversuchen zu erfahren war - in einem Klagenfurter Schwulenlokal 1,8 Promille angetrunken hatte und danach ins Verderben raste. Halb Kärnten fühlt sich seit dem Ableben seines so genannten Landesvaters verwaist, ist eine ihres Oberhaupts und Schutzpatrons beraubte Familie beziehungsweise Volksgemeinschaft. Tränenselig trauert die vaterlose Gesellschaft dem entschwundenen, mit 58 immer noch relativ jugendlichen Patriarchen nach." (http://www.deutscheakademie.de/druckversionen/Ulrich_Weinzierl.pdf)


Außenseiter

Josef Winkler ist Außenseiter und hält dies auch für die dem Schriftsteller angemessene Position, wie er in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen des Jahres 2007 durchaus programmatisch formulierte. Er betreibt gezielte Tabubrüche, schreibt gegen Alltagsfaschismus und Prüderie. Die offene Thematisierung der Homosexualität des bisexuellen Schriftstellers ist so wichtig wie das antikatholische Ressentiment, welches sein Werk von Anfang an kennzeichnet. Seine ersten literarischen Gehversuche machte er als Exponent der kritischen Heimatliteratur. Der Debütroman "Menschenkind" von 1979 führt sein Dauerthema ein, die alltägliche Repression und Dumpfheit in der katholischalpinen Dorfwelt, die zwei homosexuelle Knaben in den Doppelselbstmord treibt. "Menschenkind" war der Auftakt zur Roman-Trilogie "Das wilde Kärnten", mit der er sich seinen Platz in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur sicherte. Die heimische Dorfwelt, in der er durch seine autobiografischen Romane vom Outsider zum Ausgestoßenen wurde, war wieder und wieder Schauplatz seiner Romane. Seine Auseinandersetzung mit dieser Dorfwelt war dazu angetan, die deutsche wie die österreichische Kritik zu schocken, in der Laudatio auf den Büchnerpreisträger heißt es dazu: "Stellen Sie sich bitte vor, wie es in Österreich, in Kärnten gewesen sein muss, als ein 26jähriger Kärntner Bauernsohn vor drei Jahrzehnten seinen ersten Roman vorlegte. In Menschenkind von anno 1979 ist all das - die Rebellion gegen übermächtige patriarchalische Gewalt, gegen die katholische Kirche als deren transzendentale Fortsetzung ins Irdische, gegen die brutale Unterdrückung einer der Norm widersprechenden Liebe - der zwischen jungen Männern - ohne Umschweife ausgesprochen. Ein falsches Verb. Denn das Skandalöse wurde in einer barock metaphernverbuhlten, blut-, sperma- und todgetränkten Sprache kunstvoll und fortissimo zugleich hinausgeschrieen." (ebd.)


Tod und Ewigkeit in Rom

Irgendwann hatte er sich aber dann die Verletzungen, die ihm aufgrund seiner Sensibilität und homosexuellen Veranlagung zugefügt wurden, vom Leib geschrieben. Fast unmerklich hat sich durch die damalige zweite römische Heimat des Autors eine Distanzierung und Themenverschiebung ergeben. Der 1990 erschienene Roman "Friedhof der bitteren Orangen" ist vorwiegend in Rom und Süditalien angesiedelt, dessen 2001 publizierte Fortsetzung "Natura Morta" spielt zur Gänze in der Ewigen Stadt. War "Friedhof der bitteren Orangen" noch von häufigem Wechsel der Schauplätze, von der permanenten Rückkehr des Erzählers aus Rom oder Süditalien in die Enge des heimischen Dorfes geprägt, braucht Winkler diese Rückversicherung in der Novelle "Natura Morta" nicht mehr. Der Dichter vom Land ist endgültig in der Stadt angekommen. Der Allerheiligenhistoriker, Karfreitagspsychologe, Christihimmelfahrtsphilosoph und Mariaempfängnisneurotiker, wie die Kritiker ihn gelegentlich nannten, bewies hier aufs Schönste, dass er nicht auf kritische Heimatliteratur festzulegen ist, sondern genauso eindringliche und intensive Stadttexte schreiben kann. "Natura Morta" ist insgesamt weit weniger schräg, provokant und sexuell explizit als "Friedhof der bitteren Orangen", vermutlich deshalb wurde die Novelle kurz nach ihrem Erscheinen mit dem Döblin-Preis bedacht. Rom, wie es wenige kennen, porträtiert er in beiden Werken. "Natura Morta" ist weit weniger komplex als der Roman "Friedhof der bitteren Orangen", der Reisetagebuch, Stadtbeschreibung, österreichisches Gebetbuch, Mumien der Palermitaner Kapuzinergruft, Zeitungsnotizen, italienische Lyrik und einige andere Ingredienzien zu einem hochliterarischen Text vermischt, in dem der Erzähler alltäglichem Schrecken und historischen Greueltaten nachjagt. "Natura Morta", wie der Name bereits sagt, ist eine Art Stilleben, kleinformatig und beschränkt in der Themenwahl, während "Friedhof der bitteren Orangen" ein barockes Großgemälde darstellt, das mit mehreren Handlungsebenen sowie seiner Doppelbödigkeit prunkt und damit zum Besten zählt, was Winkler bisher geschrieben hat. Der Roman hält sich von Pomp und Pracht des historischen Zentrums der Stadt Rom weitgehend fern, sein Erzähler verkehrt vor allem in den Quartieren der Unterschicht, die er mit weniger an Fellini als an Pasolini geschultem Blick beschreibt. Zu seinen bevorzugten Schauplätzen zählt das Gründerzeitviertel Esquilin, hier leben die Armen, die Huren, die Junkies, die Stricher, die illegalen Farbigen und die Zigeuner. Der homosexuelle Erzähler streift dabei meist durch eine fremde dunkle Schattenwelt; Armut, Elend und surreal-expressionistisch angehauchter Todeskult sind besondere Kennzeichen seines barock opulenten Narrativs. Dabei ist Winklers Darstellung keineswegs voraussetzungslos, ganz im Gegenteil, im Roman "Friedhof der bitteren Orangen", der seinen Namen von einem Neapolitaner Armenfriedhof entlehnt, findet sich so manche Anspielung auf die Tradition der unidealisierten Italienwahrnehmung. In "Natura Morta" wird jedes Kapitel durch einen Vers des italienischen Dichters Ungaretti eingeleitet, wobei Winkler die Übersetzung von Ingeborg Bachmann verwendet, deren Idee von der Poesie des römischen Alltagslebens ihn durchaus beeinflusst zu haben scheint. In "Natura Morta" beschränkt sich Winkler im Wesentlichen auf das Marktgeschehen auf der römischen Piazza Vittorio Emmanuele. Obwohl es im Unterschied zu "Friedhof der bitteren Orangen" eine Art Plot gibt, spielt der Markt die eigentliche Hauptrolle. Winkler kommt zwar mehrfach auf das Stillleben zurück, aber die Novelle ist nicht still oder statisch, sondern extrem unruhig und bewegt, wie es sich für ein Werk gehört, das auf einem römischen Markt angesiedelt ist. Da wird geschrien, gefeilscht und gebettelt, da herrscht Gewimmel, Geschiebe und Gedrängel. Auf der Piazza Vittorio Emmanuele prallen unterschiedliche Lebenswelten Roms aufeinander, elegant gekleidete Bürgerinnen, Nonnen, Junkies und Farbige, dazwischen versprengte Touristen, sie alle geben sich auf dem Markt ein Stelldichein.


Blick für die Unterschichten

Mit "Natura Morta" hat Winkler das für ihn durchaus prägende Italienthema weitgehend abgeschlossen, sein neues Lieblingsziel ist Indien, auch hier bleibt er seiner literarischen Liebe zu Tod und Totenkult treu, nach dem Motto: "Bei den Toten bin ich gerne, sie tun mir nichts und sie sind auch Menschen." Ein interessantes Resultat dieser Vorliebe ist der Roman "Domra. Am Ufer des Ganges" (1996), in dem der Erzähler der Kaste der Unberührbaren, den Leichenbestattern zuschaut, deren Aufgabe die Verbrennung der Toten ist. Wie bei vielen von Winklers Werken, ist die Lektüre Lesern mit schwachen Nerven und empfindlichem Magen nur bedingt zu empfehlen.

"Domra" zeigt auch noch eine weitgehend unbeachtete Facette seines Werkes, es ist der Blick für die Unterschichten, hier die Unberührbaren; in "Friedhof der bitteren Orangen" und "Natura Morta" waren es die neuen italienischen Unterschichten, die im Wesentlichen aus Migranten, Illegalen, Farbigen und Roma bestehen, die er, bevor das Thema in die europäische und italienische Öffentlichkeit geriet, recht präzis beschrieb. Ihre Armut, ihre Position am Rande der Gesellschaft, die dadurch kenntlich gemacht wird, dass sie einfach irgend etwas verkaufen, um sich zumindest die Ausschussware der Marktleute auf dem Markt leisten zu können. Gelingt dies nicht, müssen sie wie Hunde im Abfall der Marktleute wühlen, um etwas zu essen zu haben. Das Bild, das dabei entsteht, hat wenig mit den Sehnsuchtsvisionen nordeuropäischer Touristen zu tun, denen ein italienischer Markt oft als dolce vita unter blauem Himmel, als Symbol unentfremdeten Einkaufes und intakter Urbanität vorschwebt. In "Natura Morta" erscheint der Markt als Ort, an dem sich die sozialen Hierarchien spiegeln, und als Inbegriff einer lauten, schrägen und kaputten Stadt.


Reisen und Schreiben

Der jüngere Winkler fühlte sich damals am Rande der Gesellschaft bei Migranten, Strichern und Underdogs durchaus wohl, der Autor von heute ist ruhiger und solider geworden, ohne dabei seine Randposition aufgegeben zu haben. Er ist inzwischen immerhin Ehemann, Vater und hochdekorierter Schriftsteller geworden, hat eine gewisse Abgeklärtheit, Leichtigkeit und Milde gefunden. Das Italien- wie das Dorfthema scheint er erschöpfend behandelt zu haben, zuletzt mit "Leichnam, seine Familie belauernd" (2003) und "Roppongi. Requiem für einen Vater" (2007). Eine Neuorientierung ist noch nicht in Sicht. In dieser Situation hat er einen klassischen Ausweg gewählt, Reisen und darüber schreiben. Die im August 2008 erschienene Essay- und Erzählungssammlung "Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot" sammelt Reise- und Leseeindrücke. Seine wichtigsten Themen, also die dörfliche Kärntner Kindheit, Venedig und Süditalien werden alle noch einmal kurz angerissen, erscheinen aber nur noch als fernes Echo der eigenen lebensgeschichtlichen und literarischen Vergangenheit.


Christina Ujma arbeitet als kritische Literaturwissenschaftlerin und Autorin in Berlin. Sie schreibt in Sozialismus regelmäßig über Italien. Zuletzt erschien von ihr in Sozialismus 11/2008: Heißer Herbst und viele Querelen - Italiens Linke probt den Protest.


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Quelle:
Sozialismus Heft 12/2008, Seite 60 - 62
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Januar 2009