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FRAGEN/007: Friedrich Hölderlin - Unbehaust durch den Alltag (Einblicke - Uni Oldenburg)


Einblicke - Forschungsmagazin der Universität Oldenburg
Nr. 52/Herbst 2010

Unbehaust durch den Alltag

Von Matthias Echterhagen


Schwer zugängliche Handschriften und ein Leben, von dem es gleich mehrere Erzählungen gibt: Über den Dichter Friedrich Hölderlin (1770-1843) zu schreiben, ist mitunter so, als schriebe man über eine Figur, die sich einem immer wieder entzieht. Die Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Sabine Doering bereitet derzeit eine Biografie vor. Ein Gespräch mit ihr über die Bedeutung von Alltagsgeschichte und die Unmöglichkeit, die eine, richtige Lebensentschlüsselung zu haben.


EINBLICKE: Ob sie sich bitte um seine schmutzige oder zerrissene Wäsche kümmern möge, schreibt Hölderlin als Student des Tübinger Stifts viele Male an die Mutter. Ein vernachlässigenswertes Detail im Leben des später so berühmten Dichters?

DOERING: Im Gegenteil. Es sind die kleinen sprechenden, scheinbar unbedeutenden Details, die eine Biografie erst sozial- und kulturgeschichtlich anschaulich machen. Hölderlin war ein Mensch aus Fleisch und Blut - um bei dem Wäsche-Beispiel zu bleiben, ein Student, der mit ganz normalen Problemen zu kämpfen hatte wie heutige Studierende eben auch. Nur spielte das eben bislang in der Hölderlin-Forschung kaum eine Rolle.

EINBLICKE: Beinhalten solche Alltagsdinge auch einen Schlüssel zum Werk des Dichters?

DOERING: Indirekt sicher. Alltagsgeschichte wurde nicht nur lange durch die Literaturwissenschaft ausgeblendet, sondern häufig auch durch Hölderlin selbst. Viele seiner Anstrengungen beruhten darauf, in der Dichtung ein Weltbild zu erschaffen, das von der Antike bis in die Gegenwart reicht. Dort gibt es genau beschriebene Landschaften mit schattigen Wäldern und vielen Flüssen - aber keine schmutzige Wäsche. Wir können diesen für Hölderlins Werk so grundlegenden Abstraktionsvorgang gar nicht begreifen, wenn wir nicht wissen, wie sein Alltag eigentlich aussah.

EINBLICKE: Einmal abgesehen von Dingen wie dem Wäschewaschen - wie sah Hölderlins Alltag aus?

DOERING: Er war viel unterwegs - als Hauslehrer in verschiedenen Familien, sogar in der Schweiz und in Bordeaux. Außerdem hat er natürlich viel geschrieben. Wie er gearbeitet hat, das zeigen die zum Glück erhalten gebliebenen Handschriften. Doch die stellen bis heute eine enorme philologische Herausforderung dar.

EINBLICKE: Inwiefern?

DOERING: Vieles ist Entwurf geblieben, oft überkreuzen sich auf dem Papier einzelne Ideen, verschiedene Versionen eines Gedichtes stehen neben- oder auch übereinander - das zu entziffern und zu ordnen ist eine große Aufgabe, um die sich mehrere Werkausgaben bemühen. Und längst nicht immer gibt es die eine richtige Lösung. Manche Passagen in den Fragmenten werden sich wohl nie eindeutig zu größeren geschlossenen Texten rekonstruieren lassen. Diese Komplexität und Offenheit macht einen großen Reiz von Hölderlins Lyrik aus.

EINBLICKE: Wie ist die Literaturwissenschaft mit dieser Offenheit bislang umgegangen?

DOERING: In den Jahren ab 1803 ist Hölderlin in seiner Dichtung so radikal anders und modern, dass sie über lange Zeit als normabweichend und pathologisch angesehen wurde; vieles wurde zu seinen Lebzeiten gar nicht gedruckt. Eine Wende brachte am Beginn des 20. Jahrhunderts die so genannte George-Schule - jener Zirkel um Stefan George, der mit Blick auf die moderne europäische Lyrik erstmals erkannte, was für ein enormes ästhetisches Potenzial in den Gedichten Hölderlins steckt.

EINBLICKE: Hölderlin ist gegen Mitte seines Lebens psychisch schwer erkrankt. Durch die studentenbewegten 1960er und 1970er Jahre vagabundierte die These, der Dichter habe seinen Wahnsinn nur gespielt, um politischer Verfolgung zu entgehen.

DOERING: Das ist gewiss so nicht haltbar, aber diese vom französischen Hölderlin-Forscher Pierre Bertaux ausgehende Gegenbewegung, die in Hölderlin einen Jakobiner sieht, hat viele Jahre hindurch die Diskussion angeregt und war auch eine verständliche Reaktion auf die Verklärung Hölderlins zum Künder des deutschen Vaterlandes, die von den Nationalsozialisten betrieben wurde. Zugleich hatte Hölderlin ja auch etwas Rebellisches: Als Pfarrer tätig zu werden, wie es seine Mutter für ihn vorsah, das war seine Sache nicht. Einerseits verweigerte er sich so gegenüber den Ansprüchen von Familie und Staat. Andererseits verwendete er genau die Mittel, die ihm durch Schule, Studium und Elternhaus vermittelt wurden, das Beherrschen und exakte Einsetzen von Sprache. Dieses Wissen versuchte er, in die Sphäre der Literatur zu übertragen.

EINBLICKE: Wie gehen Sie als Hölderlin-Forscherin und Biografin mit den verschiedenen Deutungen und Dichterbildern um?

DOERING: Mit der Gelassenheit, auch selbst nicht die eine, richtige Deutung eines fremden Lebens zu haben. Das gilt es auszuhalten - und zugleich die historische Bedingtheit des eigenen Standpunktes zu sehen. Es ist ja die große Versuchung in einer Biografie, das Leben entlang eines roten Fadens zu erzählen, den es gar nicht gibt. Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass wir es sind, die einen narrativen Rahmen schaffen, wenn wir Biografien erzählen. Das ist eine der wichtigsten Einsichten der jüngeren Biografieforschung. So gilt es für mich, auch Alternativen zu entwickeln und Lücken zu benennen.

EINBLICKE: Allerdings können Sie auf Quellen zurückgreifen, die die ältere Hölderlin-Forschung noch gar nicht kannte.

DOERING: Das ist richtig. Zu den wichtigsten gehören die Unterlagen über Hölderlins Vermögensverhältnisse und die Pflegschaftsakten aus den langen Jahren, als der Dichter im Tübinger Turm am Neckar lebte. Das sind außerordentlich interessante Quellen. Durch die Vermögensakten wissen wir, dass Hölderlin über ein nicht unbeträchtliches Erbe verfügte - das allerdings seine Mutter verwaltete. Ausbildungs- und Lebenserhaltungskosten des Sohnes aus erster Ehe berechnete sie "für den lieben Fritz" auf den Taler genau - immer mit der stereotypen Bemerkung, dass ihm die Zahlungen nur dann nicht auf sein Vermögen angerechnet werden, "wenn er sich wohlverhält".

EINBLICKE: Und die Pflegschaftsakten?

DOERING: Sind ein sehr bedeutsames Stück Alltagsgeschichte, das erst Anfang der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts gefunden wurde - auch institutionengeschichtlich ein außerordentlich interessantes Dokument. Die letzten 40 Jahre lebte Hölderlin im Erkerzimmer eines Schreiners, im später so berühmt gewordenen Hölderlinturm. An den Akten sehen wir die durchaus guten Seiten des modernen Sozialstaates: Für Hölderlin gab es einen staatlich angestellten Pfleger, der die Rechnungen des Schreiners überprüfte und nach dem Rechten sah. "Es ist dafür Sorge zu tragen, dass ihm die größtmöglichen Annehmlichkeiten widerfahren", so lesen wir eine Weisung des Pflegers in den Akten, und wir wissen von den vierteljährlichen Abrechnungen, dass Hölderlin regelmäßig seinen Wein bekam.

EINBLICKE: Die Zeit von Hölderlins Erkrankung bis zu seinem Tod ist äußerlich sehr ereignisarm. Wie schreiben Sie als Biografin über diesen längsten Lebensabschnitt des Dichters?

DOERING: Als Wissenschaftlerin des Jahres 2010 habe ich in einigem vielleicht einen unbefangeneren Blick als manche ältere Biografen, zugleich aber natürlich auch meine erlernten und bevorzugten Sichtweisen. So ist es mir zum Beispiel sehr wichtig, Hölderlin im Kontext seiner Zeitgenossen und nicht isoliert zu sehen. In den 1970er Jahren wurde er oft als Opfer der Verhältnisse und eines rigiden Ausbildungssystems gesehen. Das ist einerseits richtig. Andererseits haben aber viele andere hochbegabte junge und später erfolgreiche Männer dieses System ebenfalls durchlaufen, mit ähnlichen Bildungsfaktoren. Solche Gegenproben scheinen mir wichtig, um nicht alles auf die Verhältnisse zu schieben.

EINBLICKE: Auf welche Zeitgenossen Hölderlins gehen Sie in Ihrer Biografie näher ein?

DOERING: Neben anderen Studiengenossen Hölderlins auch auf Hegel und Schelling. Oder auf Schiller: es ist schon interessant, wie ähnlich die Bildungsfaktoren der beiden Schwaben Schiller und Hölderlin sind. Und wie unterschiedlich die Lebensentwürfe: Nehmen wir nur den Umzug von Schiller und seiner Familie von Jena nach Weimar. Bezahlbares Haus, die zu lösenden Fragen der Einrichtung ...

EINBLICKE: ... die geradezu klassischen Sorgen eines Familienvaters ...

DOERING: ... die Hölderlin nie hatte. Als begabter Schüler und Student war er im Internat, dann nahm er als Hauslehrer verschiedene Stellen an und hat in zugewiesenen Stuben gelebt. Schließlich folgten nahezu 40 Jahre im Tübinger Turm. Ein eigenes Heim besaß er nie. Er richtete sich nie ein, und er kam auch nie wirklich im bürgerlichen Leben so an, wie seine Mutter es für ihn erhofft hatte. Manche Biografen haben seinen Lebenslauf als Scheitern begriffen, andere den "Heiligen Wahnsinn"gesucht und wieder andere darin fast modellhaft das Unbehauste der Moderne entdeckt. Mir als Biografin ist es wichtig, die Stationen dieses Lebens so unbefangen wie möglich zu beschreiben. Und zu verstehen, welche Folgen Hölderlins Entscheidung, als Dichter zu leben, für seinen Lebensweg hatte.


Zur Person

Prof. Dr. Sabine Doering studierte in Göttingen und Genf deutsche Philologie und Evangelische Theologie. Sie promovierte zur Bedeutung der Frage in Hölderlins dichterischem Werk. Von 1991 bis 2000 unterrichtete und forschte Doering an der Universität Regensburg. Mehrere Einladungen führten die Literaturwissenschaftlerin an Universitäten in der Ukraine, in Australien, in Polen und den USA, wo sie 1999 eine Gastprofessur an der Wesleyan University (Connecticut) innehatte. Seit 2001 ist sie Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Oldenburg, wo sie von 2007 bis 2008 als Vizepräsidentin für Studium und Lehre tätig war. 2009 und 2010 war Doering Gastprofessorin an der University of Sydney (Australien). Im Mai 2010 wurde sie zur Präsidentin der internationalen Hölderlin-Gesellschaft gewählt. Derzeit bereitet Doering, die als freie Literaturkritikerin für die Frankfurter Allgemeine Zeitung arbeitet, eine Hölderlin-Biografie vor.


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Quelle:
Einblicke Nr. 52, 25. Jahrgang, Herbst 2010, Seite 20-23
Herausgeber: Das Präsidium der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Januar 2011