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REZEPTION/019: Hans Jürgen von der Wense - Heimkehr nach Kassel (idw)


Universität Kassel - 20.05.2009

Hans Jürgen von der Wense: Heimkehr nach Kassel

Hans Jürgen von der Wense, zu Lebzeiten (1894-1966) nahezu unbekannt, gilt als eine der großen literarischen Entdeckungen der vergangenen Jahre. Er war ein Multitalent: Autor, Komponist, Fotograf, Regionalforscher, Universalgelehrter, Künstlerfreund, Briefeschreiber und -Wanderer. Sein Nachlass konnte nun mit Unterstützung der Hessischen Kulturstiftung, der Kulturstiftung der Länder, der Sparkassenstiftung Landkreis Kassel sowie des Literaturbüros Nordhessen und der Stadt Kassel von der Universitätsbibliothek Kassel erworben werden.



Kassel. Hans Jürgen von der Wense, zu Lebzeiten (1894-1966) nahezu unbekannt, gilt als eine der großen literarischen Entdeckungen der vergangenen Jahre. Er war ein Multitalent: Autor, Komponist, Fotograf, Regionalforscher, Universalgelehrter, Künstlerfreund, Briefeschreiber und -Wanderer. Er verbrachte prägende Jahre in Kassel und Göttingen. Sein Nachlass konnte nun mit Unterstützung der Hessischen Kulturstiftung, der Kulturstiftung der Länder, der Sparkassenstiftung Landkreis Kassel sowie des Literaturbüros Nordhessen und der Stadt Kassel von der Universitätsbibliothek Kassel erworben werden. In etwa 30.000 Manuskript- und Exzerptseiten, einigen tausend Fotos, annotierten Messtischblättern, hunderten Briefen, einer größeren Zahl von Kompositionen sowie zahlreichen Tage-, Collagen- und Wetterbüchern wird nun das Werk eines bedeutenden Autors in seine Heimat zurückkehren und von der Universitätsbibliothek Kassel übernommen.

Hans Jürgen von der Wense gilt inzwischen als einer der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts. Die Wochenzeitung DIE ZEIT bezeichnete ihn als "literarischen Landschaftsmaler und Universalkünstler"; die Frankfurter Allgemeine Zeitung sieht in ihm einen "Jahrhundertautor": Für den Schriftsteller Botho Strauß "gehört (er) an hervorragender Stelle in jener überfälligen Geschichte der geheimen deutschen Literatur". Wenses "tiefste Liebe gehörte dem ehemaligen Kurhessen und dem ostwestfälischen Raum" (Geschichte einer Jugend, 1999). Ein wesentlicher Teil seines Lebens und Werkes sei hier verankert.

Wenses Leben und Werk, das mit dem Nachlass nun zu erschließen ist, ist ungewöhnlich facettenreich. "Die Erwerbung des Nachlasses ist ein Glücksfall für die Universitätsbibliothek Kassel und die ganze Region. Es gibt keinen Zweiten, der sich vielseitiger und auf derart hohem literarischem Niveau mit der Mitte Deutschlands beschäftigt hat, als Wense. Erst ein kleiner Teil des Werkes ist veröffentlicht. Vieles wird noch zu entdecken und zu veröffentlichen sein", freut sich der Leitende Bibliotheksdirektor der Universitätsbibliothek Kassel, Dr. Axel Halle.

Zwischen 1915 und 1922 hat Wense enge Beziehungen zu Komponisten, Musikern und Malern. Bedeutende Vertreter der modernen Musik wie Arnold Schönberg, Ernst Krenek, Hans Scherchen, Eduard Erdmann und - nach dem Krieg - Luigi Nono - gehören dazu. Er begegnet den Malern Otto Dix, Erich Heckel und Oskar Kokoschka. Er tritt kompositorisch hervor und eine viel versprechende Karriere als Komponist beginnt. Er ist Teilnehmer der zweiten Donaueschinger Musiktage 1922. Anfang der zwanziger Jahre bricht er mit diesem Leben und zieht sich aus dem Kulturleben in die Einsamkeit an die Ostsee zurück. Dort beschäftigt er sich mit Meteorologie, Geologie, Astrologie und Astronomie und Sprachen. Bis zu seinem Lebensende bringt er es auf Übersetzungen und Nachdichtungen aus bis zu hundert Sprachen und Dialekten. Er sucht grundlegende Zusammenhänge von Sagen, Märchen und Mythen der Welt über Kontinente und Jahrtausende hinweg.

Auf der Durchreise überwältigt ihn in Karlshafen die Schönheit und die Bedeutung der nordhessischen Landschaft. Er verlegt daraufhin 1932 spontan seinen Lebensmittelpunkt nach Kassel und bleibt der Region auch nach seinem Wechsel nach Göttingen (1941) ein Leben lang eng verbunden. Er liest nach eigenem Bekunden in der Kasseler Landesbibliothek und später in der Universitätsbibliothek Göttingen alles über Hessen und die angrenzenden Re-gionen. Wenn er schreibt, dass er "alles" liest, so ist das durchaus wörtlich zu nehmen. Mit dem Wissen eines Universalgelehrten zur Geschichte, Geologie, Landeskunde, Architektur etc. erwandert er anhand von Messtischblättern die Region. Er legt in Exzerpten, Briefen, Tagebüchern, Fotos hiervon Zeugnis ab. Er ist vertraut mit dem entlegendsten Winkel und dem speziellsten Thema. Egal in welcher Form er Zeugnis gibt, stets verbindet er faszinierende sprachliche Ausdrucksmittel und inhaltliche Zusammenhänge, die einzigartig sind.

In der Zeit des Nationalsozialismus gelingt es ihm Dank eines seit Anfang der Zwanziger Jahre von einer reichen Gönnerin gewährten lebenslangen Stipendiums von monatlich 222,22 DM frei und unabhängig zu bleiben. Von seiner kritischen Distanz zum Regime zeugen seine Tagebücher und Briefe. In Collagenbüchern setzt er sich mit dem menschlich Verwerflichen, dem Spießertum und den Absurditäten ideologischer Verblendung künstlerisch auseinander. Auf seinen Wanderungen 1936/40 und 1962/63 dokumentiert er Landschaften und Städte fotografisch. Fotos von eigener ästhetischer Kraft entstehen und legen Zeugnis von der Region ab.

An der Einwerbung des Nachlasses für die Universitätsbibliothek hat sich von Anfang an das Literaturbüro Nordhessen intensiv beteiligt. Dort hat sich bereits 2007 ein Wense-Forum gebildet, dem unter anderem Kulturschaffende, Museumsfachleute, Bibliothekare und Fotografen angehören.

Der nun von der Universitätsbibliothek Kassel erworbene Nachlass ist eine reiche Quelle für verschiedenste Forschungszweige. Daher hatte sich auch das Deutsche Literaturarchiv Marbach um den Nachlass bemüht. Der Eigentümer des Nachlasses hat aber der Universitätsbibliothek Kassel den Vorzug gegeben. In deren Landesbibliothek ging Wense über Jahre ein und aus, weil er dort alles über Hessen und die angrenzenden Regionen lesen konnte.

Es ergeben sich Forschungsfelder der Literatur-, Musik-, Geschichts- und Regionalwissenschaften. Das Werk hat darüber hinaus enormes Potential für die touristische Nutzung und das regionale literarische Leben. "In den Briefen und Tagebüchern finden sich brillant formulierte Bezüge zur Region zwischen Schwalm und Harz, dem westlichem Eichsfeld und Ostwestfalen. Nordhessen liegt gewissermaßen im Mittelpunkt des regionalen Interesses Wenses. Man kann auf Wenses Spuren literarische Wanderungen organisieren und Interesse für Geschichte, Geografie, Land und Menschen wecken", freut sich der Vorsitzende des Literaturbüros Nordhessen, Karl Heinz Nickel. Der Bürgermeister der Stadt Kassel, Thomas-Erik Junge, ergänzt: "Die Stadt Kassel unterstützt das Literaturbüro Nordhessen bei ihrem Bemühen um das Werk Wenses. Wense bereichert das kulturelle Erbe und das literarische Leben unserer Stadt."

Die offizielle Übergabe des Nachlasses fand am 19. Mai um 18.00 Uhr statt. Hellmuth Vivell (Klavier) und Thomas Wiegand (Bass-Bariton) boten als Welturaufführung einige Vertonungen von Gedichten William Butler Yeats und aus der Edda aus den Jahren 1945/46 dar. Kassels Bürgermeister Thomas-Erik Junge sprach ein Grußwort, den Festvortrag hielt der Wense-Forscher Privatdozent Dr. Reiner Niehoff zum Thema "Zur Schönen Aussicht - Hans Jürgen von der Wense erobert die deutschen Mittelgebirge von Kassel aus". (p)

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution45


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Kassel, Ingrid Hildebrand, 20.05.2009
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Mai 2009