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LITERATURBETRIEB/003: Kritik 1 (SB)


Reich-Ranicki und seine "Familienserie" ...

Das unliterarische Duett


Literaturkritik ist Dichtern und Schriftstellern bekanntermaßen ein rotes Tuch oder zumindest der Anteil am literarischen Leben, der gefürchtet wird, weil sie über Anerkennung oder Ablehnung ihres Werkes in der Öffentlichkeit entscheidet - und damit nicht selten über materielle Erwägungen. Die Äußerungen eines Kritikers haben demzufolge einen nicht zu unterschätzenden Einfluß. Beschränkten sich früher die öffentlichen Auseinandersetzungen über Neuerscheinungen auf literarische Treffen in Cafés oder Salons und den Feuilletonteil der Tages- und Wochenzeitungen, gewann seit 1988 die Literaturkritik durch die TV-Veranstaltung "Das Literarische Quartett" Unterhaltungswert.

Vergnüglich und kompromißlos, mit heiligem Zorn und verschwenderischer Liebe bewiesen Marcel Reich-Ranicki, Sigrid Löffler, Hellmuth Karasek und ihre Gäste, wie ein Gespräch über anspruchsvolle Literatur zum Fernsehereignis wird [siehe Anmerkung [1], d. Red.].

An Superlativen hat es dabei nie gefehlt: Die Kritiker der Kritikerrunde bezeichneten das "Literarische Quartett" als "edelste Form von Infotainment, die das deutsche Fernsehen derzeit bereithält" (Berliner Morgenpost), der "Stern" sprach gar von einem "Fegefeuer der Boshaftigkeiten". Der Literatur und den Literaten hat das nicht geschadet. Im Gegenteil. Das "Literarische Quartett" machte Schriftsteller wie Cees Nooteboom oder Javier Marias über Nacht zu Literaturstars, und auch Günter Grass konnte nach einer legendär-hitzigen "Quartett"-Sendung die Auflage seines Romans "Ein weites Feld" beträchtlich steigern.

Kein Wunder, daß sich die Verlage um den Auftritt ihrer Bücher drängen, die Buchhandlungen ihre Schaufenster nach dem Empfehlungen des "Literarischen Quartetts" umdekorieren. Und auch die Zuschauer lassen sich von den Dialog-Duellen bei Reich-Ranicki und Co. anstecken. Bis zu 800.000 Fans verfolgen sechs Mal im Jahr die vom Kulturmagazin "aspekte" veranstaltete Live-Sendung.
(Programmankündigung von 3sat)

Nach nunmehr zwölf Jahren ist von dem literarischen Disput allerdings nichts mehr geblieben. Die Gunst der Zuschauer hat sich entsprechend gewandelt. Die Einschaltquoten sind erheblich zurückgegangen, und böse Zungen behaupten, daß es sich um eine Fernsehsendung handele, in der "Dinosaurier" diskutierten, die zunehmend lieber ihr Thema als sich vergessen, und das Ende der Sendung liege in dieser Dynamik begründet. "Kleinbürgerliche Rollenspiele" würden vorgeführt, die "den Forderungen in Plotting und Dialog nicht mehr gewachsen seien" (aus der Süddeutschen Zeitung vom 19.07.2000).

Zwölf Jahre lang hat die Sendung durch die Aufrechterhaltung einer Spannung zwischen den Gesprächsteilnehmern und durch die Erwartung einer Explosion gelebt, die nie stattfand, weil der Konflikt von den Akteuren eher spielerisch ausgetragen wurde. Doch im Laufe der Jahre mußte, um den Unterhaltungswert aufrechtzuerhalten und zu steigern, die Dramaturgie der Sendung vereinfacht und gleichzeitig verschärft werden. Immer häufiger fielen die Teilnehmer mit Kalkül aus der Rolle, so daß sich der Schwerpunkt der Sendung von der Diskussion über Bücher auf die unterschiedliche Charakterdarstellung verschob. Die Auswahl der Bücher wurde unter dem gleichen Aspekt getroffen. Sie mußten sich für Wortgefechte eignen - dafür kannte man sich inzwischen genau genug - oder für den Zerriß.


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Was sich in der letzten Folge des Literarischen Quartetts vor sechs Wochen am 30. Juni 2000 ereignete, kann als logische Konsequenz dieser Entwicklung gesehen werden, zwingend wohl nicht, aber auch nicht überraschend. Man könnte fast einen absichtlich inszenierten Eklat vermuten, zumal es schon in der Sendung zuvor, am 14. April, Unannehmlichkeiten gegeben hatte. Eine entsprechende sensationelle Aufarbeitung in den Medien korrespondiert mit dem Sommerloch.

Anläßlich der Besprechung des Romans "Gefährliche Geliebte" des japanischen Autors Haruki Murakami wurde Marcel Reich-Ranicki seiner Gesprächspartnerin Sigrid Löffler gegenüber ausfallend. Sie habe nicht nur von erotischer Literatur keine Ahnung, sondern auch von Erotik selbst nicht. Sie habe dafür keinen Sinn, sei prüde, mißverstehe jeden Satz, sei blind und taub. Der Chefkritiker: "Ja, das entgeht Ihnen, Frau Löffler, die Zartheit dieses Buches!"

Sigrid Löffler hatte in einer Debatte angemerkt, daß sie den Satz "Ich wollte sie bis zur Hirnerweichung vögeln" literarisch nicht so gelungen fände wie Reich-Ranicki. "Mir geht es um die Sprache und die ist nicht erotisch, sondern nur zotig", sagte Sigrid Löffler. So etwas sei bestenfalls "literarisches Fastfood" und habe als solches im Quartett nichts verloren.

Die Teilnehmer des Quartetts führten die Debatte so weit, daß Marcel Reich-Ranicki Sigrid Löffler nach der letzten Sendung öffentlich "ein widerliches, niederträchtiges Weib" nannte, nachdem er ihr schon in der Sendung versichert hatte, daß sie von Erotik weder in Theorie noch in Praxis eine Ahnung habe. Sigrid Löffler entgegnete, es sei eben "auch eine Altersfrage", an welcher Art literarischer Erotik man sich erfreue.

Auch Hellmuth Karasek schaltete sich nun ein, indem er dem Stern gegenüber äußerte, Löffler habe einfach "gouvernantenhaft" reagiert, sie sei "stutenbissig", bei ihr komme "das Über-Ich ihrer Intelligenz in die Quere". Und Löffler sei "durch die 68er Zeit und die Frauenbewegung geprägt". Karasek hielt sich nach allen Seiten offen: "Die Sendung ist keine Schule für gutes Benehmen. Wenn wir uns und die Sendung ernst nehmen, dann besteht die Gefahr, daß Krieg ausbricht." Es gebe eben Abnutzungserscheinungen, das sei ganz natürlich (Süddeutsche Zeitung vom 15.7.2000).

Die Zeitschriften "Bunte" und "Gala" griffen die Diskussion auf. Karasek freute sich, daß das Buch ins Gespräch geriet.

Deutlich war nun eine Grenze, die bisher alle respektiert hatten, überschritten. Sigrid Löffler, die von der ersten Sendung im Jahre 1988 an ständige Teilnehmerin im Literarischen Quartett war, hat ihre Konsequenzen gezogen. In einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 29.7.2000 - "Warum ich das "Literarische Quartett" verlasse. Über den Abschied aus einem wüsten Spektakel" - nimmt sie Stellung zu ihrer Entscheidung:

Ich habe mich entschlossen, [...] mit sofortiger Wirkung aus dem Literarischen Quartett auszuscheiden. Zu meinem großen Bedauern ist dieser Schritt unumgänglich. Die Gründe dafür will ich erläutern.

In den letzten beiden Sendungen hat Reich-Ranicki die Spielregeln gebrochen, auf denen Das Literarische Quartett beruht. Vom Meinungsstreit um die besten Bücher schaltete er um auf Diffamierungen und Schmähungen. Plötzlich ging es gar nicht mehr um Bücher.

Nach dem Eklat in der Sendung vom 14. April hat sich Reich- Ranicki telefonisch bei mir entschuldigt und Besserung versprochen. Was seine Entschuldigung wert war, davon konnten sich die Fernsehzuschauer am 30. Juni ein Bild machen: nichts. Sie erlebten, wie Reich-Ranicki, sekundiert von Hellmuth Karasek und nun völlig außer Rand und Band, seine Attacken wiederholte, nach demselben Muster wie schon in der Sendung davor, nur noch rabiater. Eine sachliche Diskussion war nicht mehr möglich, Bücher wurden nicht mehr kontrovers erörtert, sie wurden höhnisch niedergemacht, weil angeblich ich sie ausgesucht hatte - ungelesen niedergemacht, wie offen eingeräumt wurde.

Damit war die Sendung de facto ruiniert. Zwölf Jahre lang hat das Literarische Quartett davon gelebt, dass wir drei Kritiker und ein Gast uns um Bücher stritten und dass die Zuschauer beim Austragen möglichst kontroverser Ansichten von Literatur live dabei sein konnten. [...]

Von Anfang an erwies sich der Unterschied in Temperament, Leseerfahrung und kritischem Instrumentarium zwischen Reich- Ranicki und mir als der eigentliche Spannungsbogen der Sendung. Mein Widerspruch gegen seine autoritären Sprüche machte die Sendung fürs Publikum spannend und unterhaltsam. Diesen Bogen hat Reich-Ranicki zwölf Jahre lang respektiert. Im dreizehnten Jahr hat er ihn überspannt - und zerbrochen. [...]

Was sich in den vier Wochen seither ereignet hat, lässt sich mit einem Begriff adäquat beschreiben: ein medialer Amoklauf. Nur ein einziges Mal habe ich seither mit Reich- Ranicki persönlich gesprochen. Am Tage, ehe seine inzwischen notorischen Auslassungen in der Bunten erschienen, sie ihm aber schon schriftlich vorlagen, rief er mich an - nicht um sich bei mir zu entschuldigen, beileibe nicht. Seine Gesprächs- Strategie war vielmehr ein Gemisch aus Appell, Drohung, Einschüchterung und Schuldabwälzung - ich hätte ihn zu seinen Exzessen im Quartett provoziert. Das Bunte-Interview nannte er "abscheulich - zum einen Teil erfunden, zum anderen Teil gefälscht". Dass er mich darin täuschte, hielt ich denn doch nicht für möglich. Im guten Glauben nahm ich Professor Stoltes Einladung zu einem klärenden Gespräch in Mainz an. Wobei mit dem ZDF-Intendanten ein Moratorium vereinbart wurde - alle Quartett-Teilnehmer sollten sich in der Zwischenzeit mit Medien-Äußerungen zurückhalten. Erst als die Bunte das Tonband- Protokoll des Ranicki-Gesprächs ins Internet stellte, wurde klar: das Gespräch war weder erfunden noch gefälscht - es war nur unvollständig. In der unredigierten Form las es sich womöglich noch ärger als in der redigierten. [...] (BUNTE-Gesprächspartner war Paul Sahner. Statt auf die Frage, wie es zu den Angriffen gekommen sei, zu antworten, bezeichnete Reich-Ranicki die Zusammenarbeit mit Sigrid Löffler als "Qual".)

Ich verabschiede mich aus diesem wüsten Spektakel. Die Sendung ist kaputt - und auf Seiten der Kaputtmacher ist keinerlei Wille erkennbar, zu zivilen Umgangsformen zurückzukehren. Zivile Umgangsformen wären aber unabdingbar, um ein Gespräch über Literatur überhaupt zu ermöglichen. In diesem Klima ist mir eine Zusammenarbeit mit den beiden anderen nicht mehr vorstellbar.
(aus Süddeutsche Zeitung, vom 29.07.2000)

Am Freitag, den 7. Juli wurde Reich-Ranicki in der NDR-Talkshow "Drei nach neun" vom Moderator Giovanni di Lorenzo die Szene aus dem Quartett vorgespielt. Auf die Frage, ob das in Ordnung gewesen sei, wie man dort mit Sigrid Löffler umgesprungen sei, beschuldigte Reich-Ranicki Sigrid Löffler des schlechten Benehmens. Der Redaktionsleiter Manfred Eichel war allerdings der Ansicht, Reich-Ranicki habe sich hier "außerordentlich schmeichelhaft" über Sigrid Löffler geäußert.

Marcel Reich-Ranicki hat vom ZDF die Zusage, die Sendung so lange fortzusetzen, wie er will, obwohl sie zunächst nur noch zweimal, bis Ende 2000, geplant war. Nun soll das Literarische Quartett auch im Jahr 2001 stattfinden.


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Ab 18. August 2000 wird nun Iris Radisch, Literaturkritikerin der Wochenzeitung "Die Zeit", den Platz von Sigrid Löffler einnehmen. Als Gastkritikerin konnte Elke Heidenreich gewonnen werden.

In einem NDR-Interview äußerte Iris Radisch die Ansicht, die Sendung das Literarische Quartett werde zur Literatur zurückfinden. Auf die Frage, ob sie es nicht an "weiblicher Solidarität" mit Sigrid Löffler fehlen lasse, meinte sie, sie sei zu dem Schluß gekommen, daß sich das, was sich ereignet habe, nicht wiederholen werde. Sie habe einige Stunden lang überlegt,um zu ihrer Entscheidung zu gelangen und gehe davon aus, daß das Konzept der Sendung nicht geändert werde. Das literarische Quartett lebe vom lebendigen Streit, sei eine Sendung des Wortes. Die Beteiligten seien bereit, sich anzustrengen, um dem Quartett den alten Glanz wiederzuverschaffen und Impulse mit weniger Selbstdarstellung zu geben. Am 18. August werde sie sich ausschließlich um Bücher streiten, nicht persönlich und nicht verletzend: "Ich kämpfe um Bücher".

Dem wird sich wohl auch Elke Heidenreich anschließen, die sich im Spiegel von Sigrid Löffler mit folgenden Worten distanzierte: "Ich hätte noch schlimmer mit ihr abgerechnet - dem Buch zuliebe!"

Allerdings vergessen die Beteiligten, daß das Literarische Quartett nur in dieser altvertrauen Personen-Konstellation funktionieren konnte, denn seine häufig beklagten Schwächen waren immer seine eigentlichen Stärken.


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Anmerkung:

[1] An Marcel Reich-Ranicki und seinem Urteil führt in der deutschen Literatur kein Weg vorbei: Er gilt als 'der Literaturpapst' in Deutschland. Mit dem "Literarischen Quartett" im ZDF gelang es ihm, Literatur populär zu machen. Seitdem gilt er als Entertainer und Schulmeister der Nation.

Bereits in den sechziger Jahren richtete Reich-Ranicki ein "Literarisches Café" beim Norddeutschen Rundfunk ein, plauderte mit Walter Jens und Hans Mayer über die neuesten Tendenzen und Bücher.

Geboren wurde er als Marcel Reich am 2. Juni 1920 in Wloclawek an der Weichsel als Kind jüdischer Eltern. Am 2. Juni ist er 80 Jahre alt geworden. Er arbeitet in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo er beispielsweise seit 26 Jahren die allwöchentlich erscheinende "Frankfurter Anthologie" redigiert.

"An die große, unmittelbare gesellschaftliche Wirkung der Literatur habe ich nie geglaubt. Aber ich bildete mir ein, die Literatur dürfe eine solche Wirkung nicht aus dem Auge verlieren. Aber ich weiß es längst: Wer mit der Literatur die Welt verändern möchte, der muß wenigstens teilweise auf seine künstlerischen Ambitionen verzichten und eine möglichst populäre Literatur anstreben und billige Effekte nicht meiden."


Erstveröffentlichung am 18. August 2000

5. Januar 2007