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LITERATURBETRIEB/009: Schule und Bildung 1 (SB)


Rolf Hochhuts Pseudodisput ...

Wozu der Lärm oder: Der Heuchelrebell ...


Am Donnerstag, den 26.10.2000 debattierte der Stuttgarter Landtag selten heftig. Der Tagesordnungspunkt des Anstoßes war das mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnete Werk "Liebe in Deutschland" des Schriftstellers Rolf Hochhut, der seit den 60er Jahren wie kaum ein anderer seines Metiers mit Rückgriffen auf die NS-Zeit, die Vergessenes und Verdrängtes aufdecken, Aufklärungsarbeit geleistet hat.

Beamte des Stuttgarter Kultusministeriums hatten diese Erzählung gerade erst auf die Pflichtlektüreliste für die Abiturprüfung an den beruflichen Gymnasien Baden-Württembergs an Stelle des bis dahin verbindlichen Pflichtromans "Das Parfüm" von Patrick Süskind und neben Goethes "Faust" gesetzt. Nun entschied die gegenwärtige Kultusministerin Annette Schavan wieder die Streichung des Werks aus dem Pflichtprogramm, was ausschließlich den verbindlichen Literaturkatalog an Beruflichen Gymnasien, und zwar im Grundkurs Deutsch für das Abitur 2002 betrifft. Im Deutschunterricht kann die Erzählung weiterhin behandelt werden.

Sie basiert auf einer wahren Begebenheit in einem badischen Dorf. Es geht um den menschenunwürdigen Umgang mit dem polnischen Zwangsarbeiter Stasiek Zasada und der Deutschen Pauline Kropp, die 1941 ein Paar wurden, was ein Verbrechen war. Niemanden hatte die Wahrheit über das Schicksal der Liebenden interessiert, ergab Hochhuths Recherche. Laut dem Erlaß zur Vernichtung der "slawischen Untermenschen" wurde Zasada verurteilt und im Steinbruch von Brombach an einem Galgen ermordet. Pauline Kropp wurde in das Frauen-KZ Ravensbrück verbannt.

Hochhuths Buch von 1978 ist heute wieder vor dem Hintergrund der jüngsten Diskussionen über die Entschädigung für ehemalige Zwangsarbeiter aktuell. Entsprechend wurde es auch für die Vorbereitung der Landtagswahlen im kommenden Frühjahr genutzt, so daß Frau Schavan mit harten Angriffen zu kämpfen hat, denn sie ist stellvertretende CDU-Vorsitzende. Der sozialdemokratische Redner Peter Reinelt wollte die Erzählung nicht zu einer Zeit zurückgezogen haben, in der die demokratischen Parteien den Rechtsradikalismus bekämpften. Die Erzählung sei nicht wegzudenken aus der jüngsten Geschichte Baden-Württembergs. Eben das aber werde nun versucht. Reinelt machte die CDU-Ministerin verantwortlich "für diese Verneigung nach rechts". SPD- Fraktionschef im Stuttgarter Landtag, Ulrich Maurer, sprach von einem "beispiellosen Fall von Geschichtsunterdrückung" und zweifelte die Eignung von Annette Schavan an, ein Ministerium zu führen.

Inzwischen ist die Debatte in die öffentliche Diskussion geraten. Hochhut selbst, von fortschrittlichen Deutschlehrern alarmiert, sieht die Entscheidung gegen sein Werk als politischen Eingriff. Der gekränkte Autor vertrat in der "Welt am Sonntag" die These, daß sich der Rechtsradikalismus hierzulande bereits "in den Spitzen der Ministerialbürokratie" austobe, und die Stuttgarter Ministerin auf einer Welle des Neonazismus schwimme. Gegen diese "ungeheuerlichen" Vorwürfe nahm der oberschwäbische Grünen- Abgeordnete Winfried Kretschmann die Ministerin in Schutz. Annette Schavan meinte dann, Herr Hochhuth täte gut daran, sich zu entschuldigen. Auf die Erzählung solle nach dem Einspruch von Fachlehrern wieder verzichtet werden, weil ein Mangel an Lektürehilfen für die Schüler bestehe und für die Lehrer zu wenig wissenschaftliche Sekundärliteratur vorhanden sei. Das Werk sei nicht durch einen unpolitischen Roman ersetzt worden, sondern durch den Roman von Ingeborg Drewitz "Gestern war Heute", ebenfalls ein politischer Text.

Dem widerspricht Hochhut: "Keine andere Arbeit von mir außer dem 'Stellvertreter' ist so heftig kommentiert worden." Das Buch habe seinerzeit mit zum Sturz des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger beigetragen. Damals, 1978, brachte sich der von Hochhuth in einem Theaterstück zum "furchtbaren Juristen" ernannte Ministerpräsident und ehemalige Marinerichter Hans Filbinger durch eine Strafanzeige um Amt und Würden. Filbinger verlor nämlich seine Klage gegen Hochhut und konnte nicht verhindern, daß mehrere Todesurteile bekannt wurden, an denen er als Marinerichter schon in britischer Gefangenschaft und Monate nach Kriegsende in Norwegen beteiligt gewesen war. Unter diesem Druck konnte selbst Kohl ihn nicht mehr schützen, und Filbinger trat zurück.

Schon seit Beginn der 60er Jahre hat Rolf Hochhut mit seinen Werken öffentliches Aufsehen erregt. Seine Dramen und Aufsätze, Interviews, Reden und Briefe, Gedichte und Erzählungen hatten außer dem Sturz des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger zum Teil weitere unmittelbare politische Folgen wie die Abschaffung der englischen Theaterzensur oder die Verbesserung der Wohnverhältnisse Obdachloser und mehreren deutschen Städten. Durch Hochhut wurde die Bühne zum politischen Tribunal. Er insistiert auf der Verpflichtung jedes einzelnen, nach seinen Möglichkeiten und seiner ethischen Einsicht in die Verhältnisse einzugreifen. Hochhut rührt an Tabus und spürt geschichtliche Dunkelräume auf. Er solidarisiert sich mit den Namenlosen und engagiert sich für die Opfer politischer Entscheidungen und Entwicklungen. Er ist aber auch ein Einzelgägner, der an der Moral Politik und Politiker mißt und damit über die Stränge schlägt. Entsprechend ist die öffentliche Reaktion. In Bonn wurde er als "Pinscher" (Vorwurf des Bundeskanzlers Ludwig Erhard 1965 auf einer Wahlveranstaltung gegen Rolf Hochhut) beschimpft und zu den "Ratten und Schmeißfliegen" gerechnet.

Die Interessen der Beteiligten an diesem neuerlichen öffentlichen Schlagabtausch sind deutlich zu erkennen, einschließlich der Bequemlichkeit der Deutschlehrer, denen die Unterrichtsmaterialien, d.h. didaktischen Anleitungen und auf die Schulpraxis bezogene Erläuterungen zu Hochhuts "Liebe in Deutschland" fehlen, so daß eine Planung der Unterrichtsstunden arbeitsaufwendig wäre. Es liegt der Verdacht nahe, daß ihre bedenklich unpolitische Stellungnahme zu dem ganzen Eklat geführt haben könnte.

Da hätte dann der Gerechtigkeitssinn des Vergangenheitsbewältigers Hochhut mit seinem rebellischen Anspruch voll daneben gegriffen, und die Unaufrichtigkeit des sozialen Moralapostels kommt ans Licht, der hinter künstlerischer Geschichtsbewältigung die Vermeidung gegenwartsbezogenen Engagements zu verschleiern sucht. Somit findet Hochhut sich eigentlich in der großen Gesellschaft wieder, denen er glaubt, mit seiner hochgestapelten Moral und infantilem Donnerhall entgegentreten zu müssen.


Erstveröffentlichung am 30. Oktober 2000

29. Dezember 2006