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LITERATURBETRIEB/027: Profil 3 (SB)


Intellektuell unverbindlich -

zum Tod des Literaturwissenschaftlers,

Kritikers und Essayisten Hans Mayer


Zwei Monate nach seinem 94. Geburtstag starb in Tübingen der Literaturhistoriker, Kritiker und Essayist Hans Mayer (1907 - 2001).

Es gibt wohl kaum ein Germanistikstudium, in dem sich die Studenten nicht mit Hans Mayers Methode der dialektisch- materialistischen und soziologischen Literaturbetrachtung auseinandergesetzt haben, die von Georg Lukács mitgeprägt wird; was nichts anderes heißt, als daß die Untersuchung von Literatur um den konzentrierten Blick auf das Zusammenspiel der politischen, sozialen und kulturgeschichtlichen Bedingungen nicht herumkommt. Zu den in dieser Hinsicht bedeutendsten Werken Hans Mayers gehören seine Monographien zu Bertolt Brecht, Thomas Mann und Georg Büchner, die mittlerweile Standardwerke der Literaturwissenschaft geworden sind. Er gilt zudem mit seinen Erinnerungen "Ein Deutscher auf Widerruf" und vor allem mit "Außenseiter" als der große Gelehrte der deutschen Literatur.

"Der Tod des Schriftstellers und Gelehrten Hans Mayer markiert das Ende [...] der Zeit des universal gebildeten, hauptberuflichen Intellektuellen", meint Fritz J. Raddatz [in DIE ZEIT 22/2001]. Was den Intellektuellen dieser Zeit ausmachte, wird beispielhaft an Lebensweg und Werken Hans Mayers deutlich.

Am 19.3.1907 wurde er in Köln in eine großbürgerliche jüdische Familie geboren. Dort studierte er auch - Jura, Geschichte und Philosophie - und promovierte 1931 zum Dr. Jur. Während dieser Zeit wurde er von sozialistischen Werken der Weimarer Republik geprägt und von Georg Lukács' "Geschichte und Klassenbewußtsein".

Als Jude und Marxist wurde Hans Mayer 1933 aus dem Staatsdienst entlassen und emigrierte zunächst nach Frankreich, dann in die Schweiz. 1935 erhielt er ein Stipendium des aus Frankfurt am Main vertriebenen Instituts für Sozialforschung, 1938 wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. In Genf entschloß er sich, Schriftsteller zu werden und kehrte schließlich 1945 mit seiner epochemachenden Studie über Georg Büchner und den Vormärz nach Deutschland zurück.

Noch 1945 wurde Hans Mayer Chefredakteur des Frankfurter Rundfunks. 1947 wurde er abgelöst - die CIA habe bei ihm "niemals eine Chance gehabt", erklärte er später - und arbeitete zunächst als Dozent an der Frankfurter "Akademie der Arbeit". 1948 nahm er eine Professur für Kunstsoziologie und Vergleichende Literaturgeschichte an der Universität Leipzig an, wo er auch Direktor des Instituts für Deutsche Literaturgeschichte wurde.

Seit 1959 war Hans Mayer einer der wichtigsten Kritiker auf den Tagungen der Gruppe 47.

Sein libertärer Marxismus brachte ihn zunehmend in Konflikt mit der Kulturpolitik der DDR. Sie bedeutete für ihn eine von vielen vergebenen deutschen Chancen, die ihre emanzipatorischen Potenzen nie richtig genutzt hätten. Er gehörte als einer der letzten noch zu den Intellektuellen, die sich wie Arthur Baumgarten, Ernst Bloch, Bertolt Brecht, Werner Krauss, Anna Seghers, Arnold Zweig und viele andere nach 1945 bewußt für die Arbeit in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR entschieden hatten. Die Jahre von 1949 und 1956 in Leipzig bezeichnete Hans Mayer selbst als "große, produktive Jahre, in denen die DDR turmhoch über der geistigen Entwicklung der damaligen BRD gestanden" habe. Seiner Meinung nach änderte sich diese Entwicklung jedoch nach 1956. Er ließ sich nicht auf den sogenannten bürgerlichen Realismus zwischen Balzac und Thomas Mann verpflichten. Ihm galt die in der DDR verpönte Moderne mit Kafka und Proust, Musil und Joyce, Faulkner und Beckett ebenfalls viel. So geriet er in Verruf.

1963 übersiedelte Hans Mayer schließlich in die Bundesrepublik, wo er ab 1965 an dem neugeschaffenen Germanistik-Lehrstuhl der TH Hannover lehrte und zu einem einflußreichen Universitätslehrer aufstieg, der als Autor und Redner, als Debattenteilnehmer und Literaturkritiker im gesamten Kulturbetrieb präsent war, wobei er die unterschiedlichsten, wissenschaftlichen Disziplinen miteinander verband. 1973 lehrte er in Madison (Wisconsin) und 1976 als Honorarprofessor an der Universität Tübingen. Hier lebten die zuvor bereits übergesiedelten Blochs.

Seine Studien befaßten sich schwerpunktmäßig mit Thomas Mann, Bertolt Brecht, Heinrich v. Kleist, Georg Büchner, Gerhard Hauptmann und Goethe. In dem umfangreichen Essay "Außenseiter" (1975) untersuchte er das Scheitern der bürgerlichen Aufklärung. Daneben schrieb er Monographien zur Musik- und Kunstgeschichte, war Herausgeber und Übersetzer. Absichtlich hielt er sich bei der Literaturrezeption an das Original und nicht an Sekundärliteratur, um sich nicht der "Unmittelbarkeit des Kennenlernens" zu entziehen. In diesem Zusammenhang sprach er auch von "gelebter Literatur", ein kaum noch nachvollziehbarer Begriff.

Hans Mayer hat sich zuletzt dem linken Flügel der SPD zugeordnet. Willy Brandt widmete er sein letztes, gerade erschienenes Buch. Einen kämpferischen Umgang mit dem aktuellen Weltgeschehen pflegte er allerdings sehr verhalten. Mit dem reflektierten Abstand eines Intellektuellen lag die Verbindlichkeit seiner Aussagen eher in der Einschätzung der Klassiker. Er versuchte im enzyklopädischen Wissen über Kunst, Musik und Dichtung Möglichkeiten zur Befreiung des Individuums aus gesellschaftlichen und politischen Zwängen zu finden. Seine politische Stellungnahme hieß Ästhetik.

Auf eigenen Wunsch wurde Hans Mayer nicht in Tübingen beigesetzt, ebensowenig in Leipzig oder Köln, seiner Geburtsstadt, sondern auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin, nicht weit von Brecht. Auf seiner Beerdigung nahmen Hunderte von Trauergästen teil, darunter Bundespräsident Johannes Rau, Mayers Schriftstellerkollegen Walter Jens, Christa Wolf, Christoph Hein und Literaturnobelpreisträger Günter Grass sowie einige Verleger.


Erstveröffentlichung am 30. Mai 2001

29. Dezember 2006