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LITERATURBETRIEB/045: Medien 8 (SB)


Eine Vorlesung wird zum Medienereignis -

seit 55 Jahren Frankfurter Poetikvorlesungen


Der Wunsch, als "freier Schriftsteller" zu wirken, der sich zurückgezogen seinem Werk und seiner gesellschaftlichen Verantwortung widmet, hat mit der gegenwärtigen Realität eines Autors nichts gemein. Nur wenige können vom Ertrag ihres Schreibens leben, die meisten sind entweder auf zusätzliche Einkünfte angewiesen oder schreiben sowieso nur neben einer anderen beruflichen Tätigkeit in der Freizeit.

Sich als Schriftsteller einen Namen zu machen, ist schwer. Will er sein literarisches Prestige heben, muß er laut werden, die leise und kontinuierliche Arbeit bringt in dem Sinne nichts ein. So müssen Großereignisse her, ob sie nun mit den Bedürfnissen des Autors übereinstimmen oder nicht.

Die Poetikvorlesung an der Universität Frankfurt/Main ist inzwischen zu einem dieser "Großereignisse" geworden, ganz im Trend, daß Autorenlesungen in Literaturhäusern oder auch Schriftsteller-Vorlesungen und -Gastseminare an den Universitäten beliebter und besuchter sind als Theatervorführungen.

Die Veranstaltung ist altbewährt. Die Gastdozentur für Poetik wurde von der Frankfurter Universität schon 1949 eingerichtet. Sie hatte sofort mit der ersten Autorin, Ingeborg Bachmann, großen Erfolg, die Fragen der zeitgenössischen Dichtung nach dem zweiten Weltkrieg ansprach. Ihr folgten weitere namhafte Schriftsteller wie Martin Walser, Günter Grass, Christa Wolf, Friedrich Dürrenmatt. Die Liste setzt sich fort mit den Bekannten der jüngeren deutschen Literaturgeschichte, unter den letzten sind Robert Gernhard, Monika Maron im Januar dieses Jahres ("Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche"), Robert Menasse im April ("Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung").

Das Publikum besteht zu einer Minderheit aus Studenten der Literaturwissenschaft. Der weitaus größere Teil setzt sich aus dem Frankfurter Kulturpublikum, den Feuilletonisten und Vertretern des Verlagswesens zusammen. Der riesige Hörsaal VI der Frankfurter Goethe-Universität ist regelmäßig überfüllt. In der Stadt wirbt die Uni mit Plakaten. Die Veranstaltung soll laut Volker Bohn, dem Dekan des Fachbereichs Neuere Philologien, den "intellektualisierten Literaturbetrieb der Hochschule" bürgernahe machen. Natürlich geht es mit dieser erfolgreichsten Veranstaltung wohl auch weit über die Stadtgrenzen Frankfurts hinaus um Werbung für die Universität und um ihren Ruf. In den Tageszeitungen und den Verlagen, in Rundfunk und Fernsehen ist sie schon längst zum Medienereignis geworden. Für die Autoren schließt die Gastdozentur traditionsgemäß mit einer Lesung im Literaturhaus Frankfurt und mit einer Buch- und CD-Ausgabe des Vorlesungstextes.

Die Vorlesung wird zum größten Teil vom Suhrkamp Verlag finanziert, zum anderen Teil von den Freunden und Förderern der Goethe-Universität. Suhrkamp bezahlt seit 1963 die Autorenhonorare, weil hier gegenwärtige und zukünftige Lesertrends erforscht werden können und möglicherweise Autorinnen und Autoren lesen, die erst in einigen Jahren Erfolg haben werden.

Übrigens haben auch andere Universitäten wie Tübingen, Leipzig, Essen oder Zürich Poetik-Dozenturen eingerichtet, was jedoch dem Renommee der Frankfurter Vorlesung als erste dieser Art und als traditionellste keinen Abbruch tut.

Ob allerdings Prestige und Vermarktung der Kern und der attraktive Teil der Auseinandersetzung mit Literatur sind? Die Abwesenheit der Literaturstudenten von diesen öffentlichen Ereignissen spricht eine andere Sprache. Erfolgreiche Vermarktung hinterläßt vielleicht Spuren im Literaturbetrieb, aber nicht in der Literatur selbst. Der Druck, anläßlich der Sparprogamme der Universitäten die Literaturwissenschaft in eine medienwirksame, länderübergreifende, fremdsprachenoffene Kulturwissenschaft zu verwandeln, läuft in Wirklichkeit auf eine drastische Qualitätsminderung des Studienfaches und auch der literarischen Produkte hinaus. Denn für die sogenannten "neuen Zentren literarischen Lebens" reichen die Autoren bald nicht mehr aus.


Erstveröffentlichung am 15. Juli 2005

29. Dezember 2006