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REZENSION/001: Monique Schwitter - Eins im Andern (Roman) (Christiane Baumann)


Monique Schwitter

Eins im Andern

von Christiane Baumann


Am Abgrund - federleicht. Zu Monique Schwitters neuestem Roman "Eins im Andern", nominiert für den Deutschen Buchpreis 2015


Eine Frau und Schriftstellerin in der Krise: ihr Mann entpuppt sich als Spieler, der nicht nur das Geld der Familie verzockt, sondern exorbitante Schulden angehäuft hat. Ihr Buch ist in der Krise. Worüber und wie schreiben angesichts solch erdrückender Verhältnisse? Was ist überhaupt noch erzählbar und wie? Was bleibt, wenn das Vertrauen zerstört ist und die Liebe verloren zu gehen droht? Das Leben gerät aus den Fugen, denn "Eins" steckt "im Andern", die Dinge des Lebens sind nicht voneinander zu trennen.

In Monique Schwitters neuestem Roman "Eins im Andern" wird diese Krise für die Ich-Erzählerin, eine Frau um die 40, zum Auslöser, den Männern in ihrem Leben, die sie geliebt, mit denen sie gelebt hat oder die sie ein Stück auf ihrem Lebensweg begleitet haben, nachzufragen. Doch bereits die Suche nach ihrer ersten großen Liebe endet mit einem Schock, denn Petrus ist tot, beging vier Jahre zuvor Selbstmord. Die Frage nach dem Warum wird für die Erzählerin immer drängender, auch wenn es um die Liebe ihres Lebens, ihren Mann Philipp geht, der sie enttäuscht und verraten hat, der spielsüchtig ist, mit dem sie aber die Verantwortung für zwei gemeinsame Kinder teilt und mit dem sie eine Wirtschaftsgemeinschaft verbindet, die für jeden die Existenzgrundlage bildet. "Die Liebe, mein Herz, sucht man sich nicht aus" - der Lieblingssatz ihrer Großmutter ankert im Unterbewusstsein. Immer wieder versichert sich die Erzählerin dieses Satzes, um zu verstehen, was nicht zu verstehen ist: die Liebe, und warum man liebt, was man doch eigentlich nicht mehr lieben kann. Der Roman variiert "Die Liebe liebt das Wandern" aus Wilhelm Müllers "Winterreise", spielt mit dessen "fremd eingezogen", das - zum "Fremd ausgezogen" verwandelt - den Grundton anschlägt: Fremdsein und Einsamkeit in einer Welt der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten, in der die Ich-Erzählerin von Geldnot und Zukunftsangst getrieben sehr schnell an psychische und physische Grenzen stößt. Als sie ausbricht und sich auf eine Reise von Hamburg in ihre Heimatstadt Zürich begibt, wird dies zu einer Reise in ihre Vergangenheit und zu sich selbst.

Die Geschichte klingt alltäglich, doch die 1972 in Zürich geborene Monique Schwitter, die in diesem Jahr zum Bewerberkreis für den Ingeborg-Bachmann-Preis gehörte, hat nach zwei Erzählbänden und einem Theaterstück mit ihrem zweiten Roman ein Werk vorgelegt, das genau gelesen werden will und das auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2015 gelandet ist. Das Erzählte steht in auffälligem Widerspruch zum Erzählen, das geradezu leichtfüßig und unprätentiös daherkommt. "Eins im Andern" findet sich an: Die Vergangenheit lebt in der Gegenwart, die ohne das Vergangene nicht erzählbar ist. Jeder der Männer ist ohne die vorherige Liebe undenkbar. Eins greift ins Andere, ist verknüpft, verwoben und ehe sich der Leser versieht, ist er in einem Netz von Beziehungen, Verstrickungen und literarischen Bezügen gefangen, mit denen die Autorin ihre Koordinaten bestimmt: Lessing, Büchner und Goethe gehören dazu, aber vor allem sind es Texte von Samuel Beckett, die den Roman durchziehen. Becketts Einakter "Endgame" liefert auch das Motto zum Roman: "Clov: What is there to keep me here? Hamm. The dialogue." Das Einzige, was der Erzählerin bleibt und noch trägt, ist das Gespräch, das Zwiegespräch, das Schreiben. Dieses Gespräch wird zu einem "Kommen und Gehen" der Personen. Das gleichnamige Beckett-Stück erlebt seine Aufführung im Roman und antizipiert den Lauf des Lebens zwischen Geburt und Tod. Damit ist die Geschichte bei den Grundfragen menschlicher Existenz angekommen.

Schwitters Figuren sind zerbrechlich wie Giacomettis "Taumelnder Mann", den die Ich-Erzählerin vergeblich in der Züricher Ausstellung sucht, weil er "entliehen" wurde. Nichts bleibt wie es ist oder wo es ist, alles verändert sich. Doch der Giacometti-Bezug greift weiter. Das einstige Weihnachtsgeschenk, das die Erzählerin von Petrus, ihrer ersten großen Liebe bekam, ist "Dialogue in the void", ein Buch von Matti Megged über Beckett und Giacometti, in dem den Werken dieser beiden miteinander befreundeten Künstler nachgegangen und das gleich im ersten Romankapitel erwähnt wird. Dieses Buch war verschwunden und findet sich im Schreib- und Rechercheprozess der Ich-Erzählerin plötzlich wieder an. Neben den intertextuellen Bezügen, die den Blick für die existenzielle Grenzsituation der Erzählerin schärfen, werden mit diesem Hinweis ästhetische Diskurslinien sichtbar, die zur künstlerische Methode Schwitters führen und sich im Verhältnis der Ich-Erzählerin zur Welt und in der Romanstruktur widerspiegeln. Es ist eine Art erzählerischer Schwebezustand, jene von dem Philosophen Walter Schulz als "Metaphysik des Schwebens" bezeichnete Ästhetik, die sich im Hin- und Hergerissensein zwischen Welt und Ich zeigt, die beide keine Sicherheit mehr bieten. Das Denken gerät im Schreibprozess in eine Art schwebende Reflexion über die Dinge des Lebens: Geburt, Sterben, Leiden, Tod und die Endlichkeit menschlicher Existenz. Vertrauensverlust und Unsicherheit führen zu jenem "Fremd ausgezogen" als Lebensgefühl, in dem sich Heimatlosigkeit und Verlorensein des Ichs in der Welt ausdrücken: "Aber vielleicht bin ich, hinsichtlich des Grauen, im Grauen, Opfer einer Täuschung?", zitiert die Ich-Erzählerin am Ende des Romans aus "Dialogue in the void" einen Satz, der eigentlich Becketts Roman "Der Namenlose" entstammt. Auch Schwitters Ich-Erzählerin ist eine Namenlose, die sich die Namen ihrer zwölf Männer erfindet - bis auf einen, den toten, ebenfalls namenlosen Bruder, dessen Sterben mit dem Verlust der ersten großen Liebe zusammenfiel und den Moment markiert, an dem das Fremdsein in der Welt und das "Bühnendeutsch", "eine Sprache, die nirgendwo herkommt und überall zuhause ist, die nicht anheimelt und nicht befremdet", und das Schreiben der Erzählerin begann.

Ohne Zweifel trägt die Ich-Erzählerin autobiografische Merkmale der Autorin: Sie ist etwa gleich alt, lebt in Hamburg, war als Schauspielerin und Regisseurin tätig, hat Schweizer Wurzeln, eine Hündin und liest im Roman während einer Lesung das erste Kapitel aus dem Roman "Eins im Andern". Die Widmung des Romans "Für dich von mir" findet sich als Zueignung im Exemplar der Ich-Erzählerin von "Dialogue in the void". Autorin und Erzählerin sind sich nah, aber dennoch nicht identisch. Wirkt das Erzählen einerseits authentisch, indem genaue Datumsangaben und Orte eingeflochten werden, so wird diese scheinbare Authentizität andererseits im Erzählvorgang immer wieder durch das Ausstellen des Fiktiven und Stilisierungen in Frage gestellt. Es sind zwölf Kapitel und es ist "zwölfmal Herbst", es waren zwölf Jahre mit Jakob, sieben Ehejahre und die schicksalhafte Tram Nr. 13 fährt nahezu geisterhaft durch den Roman, um nur einige Beispiele für das Spiel mit mythischen Zahlen und Bezügen zu nennen. Träume, Tagträume und Visionen durchbrechen das dokumentarisch anmutende Erzählen. Die Hündin wird zur wichtigsten Vertrauten der Erzählerin, so wie eine Farbratte die ständige Begleiterin von Simon war, als dieser mit ihr und Petrus eine Dreierbeziehung führte. Ein Pinguin, eigentlich flugunfähig, fliegt durch das Leben der Ich-Erzählerin und symbolisiert ihre Sehnsucht nach Freiheit ebenso wie erotische Wünsche, denn er ist eng mit Petrus, ihrer ersten Liebe verbunden. Die Ich-Erzählerin "nennt" den Bruder von Petrus Andreas, "weil Andreas passt", so wie alle anderen Namen der zwölf Apostel von Petrus bis Simon auf ihre Männer passen. Allerdings: Judas, der Verräter, fehlt. Dafür steht der namenlose Bruder, dessen frühes Sterben von der Erzählerin als Verrat empfunden wurde. "Am Anfang war das Wort. An meinem Anfang stehst du", schreibt sie. Der durch das Beckett-Motto in den Fokus gerückte Dialog erweist sich plötzlich als Gespräch von Schwester und Bruder. Becketts Monolog im Roman "Der Namenlose" wird der Dialog zweier Namenloser entgegengestellt. Doch der Identitätsverlust, der in der Namenlosigkeit der Erzählerin seinen Ausdruck findet, mündet nicht wie bei Beckett in zunehmende Sprachlosigkeit, sondern in den aufrechten Gang, denn "These boots are made for walking" - Nancy Sinatras weltbekannter Song am Schluss wirkt wie eine Kampfansage. Der Roman ist geschrieben.

Wenn Monique Schwitters Motto auf den Dialog abstellt, so zielt das auch auf die Romanstruktur. Schwitter entwickelt aus den pointierten Dialogen und Selbstgesprächen sukzessive und ganz nebenher eine Geschichte, deren Konturen erst am Ende erkennbar werden. Ihre Schreibmethode erinnert an Theaterdramaturgie, lebt vom Situativen und vom Augenblick. Wie im analytischen Drama werden Schritt für Schritt Zusammenhänge und Hintergründe enthüllt. Dabei sind die wie zufällig hingeworfenen Dialog-Passagen von einer ungeheuren Dichte und Intensität. Dagegen wirken die erklärenden Passagen mitunter aufgesetzt. So wird der heilige Christophorus, der den Selbstmord von Petrus und den Tod des Bruders, aber auch die Reise der Erzählerin flankiert, ausführlich als der "Schutzgott der Reisenden" beschrieben, dass man meinen könnte, die Autorin traut ihren eigenen Bildern nicht. Daneben steht manches Klischeehafte, vor allem, wenn es um die eine oder andere "Apostel-Geschichte" geht. Da gibt es Nathanel, den immer hilfsbereiten Homosexuellen oder Mathieu vom "Volk Ewe aus Togo", der der einst abgetriebene Sohn der Erzählerin sein könnte und der sich nun in sie verliebt. Da ist der Onkel ihres Mannes Philipp, ein ehemaliger KZ-Aufseher aus Bergen-Belsen, den die Familie nach 1945 deckte oder Tadeusz, der Theaterregisseur und Professor, Vaterersatz und Geliebter, dessen Vater als Kommunist im KZ war und der am stalinistischen System zerbrach. Tadeusz, ein alter Achtundsechziger, verließ nach den Studentenprotesten enttäuscht und desillusioniert seine polnische Heimat und fing in Westdeutschland neu an. Fragen nach individueller Schuld, sozialer Mitverantwortung und nach den Möglichkeiten sozialer Veränderung klingen an. Doch die Welthaltigkeit des Romans kratzt nur an der Oberfläche. Schwitters Figuren sind verbürgt und bleiben zugleich merkwürdig schemenhaft, wie in einer Art Schwebe. Allerdings wirft die Autorin mit ihrem Roman weit mehr als einen "Röntgenblick in die weibliche Seele von heute" ("Die Zeit"). Sie wagt vielmehr einen Blick in die Abgründe einer Gesellschaft, denen sich die menschliche Vernunft zu widersetzen versucht. Vorsichtig bewegt sich die Erzählerin am Abgrund, "Eins im Andern" prüfend, auf der Suche nach einem Halt in der Welt und macht sich federleicht, denn jeder Fehltritt könnte das Ende bedeuten.

Monique Schwitter
Eins im Andern
Roman
Literaturverlag Droschl, Wien/Graz, 2015
232 Seiten
19,00 Euro
ISBN: 978-3-85420-947-8

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Quelle:
© 2015 by Dr. Christiane Baumann
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2015

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