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REZENSION/003: Ulrich Peltzer - Das bessere Leben (Roman) (SB)


Ulrich Peltzer

Das bessere Leben

von Christiane Baumann


Zu den Anwärtern auf den Deutschen Buchpreis zählt in diesem Jahr Ulrich Peltzer, der neben Jenny Erpenbeck [1] Monique Schwitter [2] , Rolf Lappert ("Über den Winter"), Inger-Maria Mahlke ("Wie Ihr wollt") und Frank Witzel ("Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969") auf der Shortlist steht. Peltzer hat mit "Das bessere Leben" mittlerweile seinen sechsten Roman vorgelegt, ein streitbares und politisches Buch.

"Angefangen wird mittendrin" - unter diesem Titel hat Ulrich Peltzer 2011 seine Frankfurter Poetikvorlesungen veröffentlicht, die sich in besonderer Weise als programmatische Standortbestimmung zu seinem neuesten Roman lesen. Das ist kein Zufall, bekannte doch der 1956 geborene Autor, der in Berlin Philosophie und Psychologie studierte, gegenüber seiner Lektorin Petra Gropp (Hundertvierzehn/Interview), dass er sich in der letzten dieser Vorlesungen intensiv mit dem schon länger vorhandenen Roman-Material auseinandergesetzt habe. Wenn wir geboren werden und "anfangen", dann sind wir "mittendrin" in einem Geflecht aus Vergangenheit und Gegenwart einschließlich Anspruch auf Zukunft und bewegen uns in einem dichten Netz von gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen, ganz so wie die Figuren in Peltzers neuestem Roman "Das bessere Leben". Peltzer hat sich in seinen Poetikvorlesungen nachdrücklich die Frage gestellt, was es für das Erzählen bedeutet, wenn die Arbeitswelt durch Präkarisierung geprägt ist, wenn Brüche die Erwerbsbiografien bestimmen und das Leben zunehmend als fragmentarisiert und sprunghaft wahrgenommen wird. Was bedeutet das alles für den Romananfang, für die Erzählstruktur, für den Erzähler und den Plot?

Antworten finden sich in "Das bessere Leben", einem Roman, der keinen allwissenden Erzähler kennt, vielmehr drei Hauptfiguren und eine kaum überschaubare Anzahl von Nebenfiguren, die aber alle irgendwie miteinander zusammenhängen und vor allem auf der Suche nach dem "besseren Leben" sind. Der aus Krefeld, Peltzers Heimatstadt, stammende Jochen Brockmann, ein Sales Manager, der in Turin lebt und gerade dabei ist, seinen Job zu verlieren, Sylvester Lee Fleming, der in den USA ansässige Brite, der in dubiosen Geschäften in Brasilien unterwegs ist, und Angelika Volkhart, eine der DDR entstammende und in Amsterdam für eine große Reederei tätige Mittvierzigerin scheinen zunächst nichts miteinander zu tun zu haben und kennen sich doch oder lernen sich kennen. "Eins ergibt das andere": Ihre gemeinsame Geschichte setzt irgendwo ganz zufällig ein. Wie im Film folgt Blende auf Blende, Szene auf Szene und in diesem kinematographischen Verfahren schält sich ganz langsam und andeutungsweise eine Geschichte heraus. "Die Zeit besitzt nur eine Richtung, die Geschichte, und das Ende ist für jeden gleich, einfache Wahrheiten, die zu schlucken sind", eine Erkenntnis, die nicht nur Angelika Volkhardt kommt. Doch allen Figuren ist die "Chronologie", wie Fleming es nennt, in ihrem Leben abhanden gekommen. Peltzer setzt dies mit seinem filmischen Erzählstil um. Es ist ein Erzählen gegen jede Chronologie, das von Zeitsprüngen und Ortswechseln lebt, sich gegen jede herkömmliche Story sperrt und doch die Figuren in ihren sozialen, politischen und persönlichen Zusammenhängen, so genannten Dispositiven, um einen Begriff des französischen Philosophen Michel Foucault aufzugreifen, auf den sich Peltzer bezieht, zu verorten. Dabei tun sich ganz nebenher Parallelen im Leben von Brockmann, Fleming und Volkhart auf. Vor allem sind es Träume, die allen drei Protagonisten zu schaffen machen.

Fleming wird von Albträumen aus seiner Studentenzeit heimgesucht. Er erlebte das Kent-State-Massaker am 4. Mai 1970, bei dem vier Studenten, die sich an den Protesten Tausender gegen den Vietnam-Krieg und gegen den Einmarsch von US-Truppen in Kambodscha beteiligt hatten, erschossen wurden, darunter Allison Krause, der auch Jochen Brockmann im Roman durch Renée Greens Kunst-Installationen begegnet. Es ist ein traumatisches Ereignis der amerikanischen Friedens- und Bürgerrechts-Bewegung, das nie gesühnt wurde und das Neil Young in seinem Song "Ohio", der auch hinter dem Eisernen Vorhang zu einer Hymne wurde, verewigte. Dieses Ereignis verfolgt Fleming, der Allisons Tod "neunzehn Jahre und elf Tage" später noch immer nicht begreifen kann: "stop this war, hallte ihre Stimme durch seinen Kopf". Was war aus den Idealen von einst geworden? Hatte er Allison verraten?

"Träumen Sie?", fragt Fleming Jochen Brockmann, dessen Alltag gerade zum Albtraum wird, weil es ihm nicht gelingt, einen "dicken Fisch" an Land zu ziehen, um im Geschäft zu bleiben. Er sieht sich geradewegs in die Katastrophe schlittern, unfähig etwas dagegen zu tun. Verdrängt hat er die Zeit mit seinem Freund Peps, Peter Möhle, dem Marxisten und "alten Revolutionär", verdrängt auch die Diskussionen um den "wahren Weg zur Revolution", gewaltsame Proteste und Anarchie. Ausgeträumt ist der Traum, die Welt ein wenig zu verbessern. Brockmann hat das gemacht, was er immer wollte: gut verdienen, geschäftlich unterwegs sein in den Hotels der Welt. Er versichert sich seines Kapitals: Geld, Eigentumswohnung, eine Sammlung mit Zeichnungen, eine Tochter - immerhin. Was wäre ein besseres Leben? Zumindest ein Leben mit Liebe. Und diese späte Liebe begegnet Brockmann in Angelika Volkhart: "Wann denn zuletzt, wie oft erlebt man das, in fünfzig oder achtzig Jahren?" Angelika, Gelegenheitsgeliebte von Sylvester Lee Fleming, die nach dem Fall der Mauer nach Holland ging, setzen wiederum Träume von ihrer Lehrerin Frau Gerlach zu, deren Eltern sich auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus als systemtreue Kommunisten der Stalinschen Verfolgung im Moskau der 1930er Jahre ausgesetzt sahen. Plötzlich tauchen Namen wie Hugo Huppert, Johannes R. Becher, Alfred Kurella und Georg Lukács auf, erzeugen Authentizität, Geschichte und Fiktion verschwimmen. Was wäre "das bessere Leben"?

Vom Titel des Romans spannt sich ein Bogen über die wie zufällig wirkenden Bilder und Szenenfolgen und führt von der Gegenwart, die in Splittern und Geschichten der Figuren schillernd aufleuchtet, immer wieder zurück in die Geschichte. Dabei wird die Französische Revolution, und damit Werte und Ideen der Aufklärung, zum Bezugspunkt, denn das erste Motto des Romans stammt von Louis Antoine de Saint-Just. Saint-Just, Anhänger und Freund Robespierres, gilt als Revolutionär und Vordenker der Revolution. Als Mitglied des Wohlfahrtsausschusses war er 1793 wesentlich an der Ausarbeitung der Verfassung "im Jahre I der Republik" beteiligt, die eine "Tafel der Menschenrechte" eröffnete, in der neben Freiheit und Gleichheit aller Menschen das "allgemeine Glück" als gesellschaftliches Ziel festgeschrieben wurden. Saint-Just, der zusammen mit Robespierre hingerichtet wurde, sah den Terror als legitimes Mittel an, um seinen Traum von einer Republik der Gleichheit zu verwirklichen. Das Motto, das den Selbstbehauptungsanspruch Saint-Justs vor dem Wohlfahrtsausschuss, aber vor allem vor der Geschichte ("niemals werdet Ihr das freie Leben mir nehmen, das ich mir erkämpft habe unter den Sternen und im Angesicht der Jahrhunderte") betont, wird mit einem zweiten Motto von Friedrich Nietzsche aus dessen "Fröhlicher Wissenschaft" kontrastiert und damit teilweise in Frage gestellt: "Ich würde mich nicht vermissen, wenn ich fehlte. Entbehrlich sind wir Alle!" Die Verbindung ist schnell hergestellt, denn es war Nietzsche, der 1862 dem "teuflischen Saint-Just" in einem Gedicht ein Denkmal setzte. Der Roman schreibt gegen beide Motti an und wirft zugleich die Frage nach der Tauglichkeit von gesellschaftsutopischen Entwürfen im digitalen Zeitalter und in einer Welt der permanenten Kriege und Bürgerkriege auf. Krieg, Polizeigewalt und Linksterrorismus werden immer wieder aufgerufen, in Bildern erinnert. Ziemlich in der Mitte des Romans taucht in einem eigenständigen Kapitel und als "Atempause" deklariert, ein Erzähler auf und bietet unter Hinweis auf Pierre Clastres' "Archäologie der Gewalt" und in kritischer Auseinandersetzung mit Marx und Engels eine neue Denk-Perspektive, indem Kriege "primitiver" Gesellschaften "in ihrer Positivität" gedacht werden, das heißt als Mechanismus, um Staat und Staatsbildung zu verhindern, denn in diesen "schriftlosen Gesellschaften" seien zunächst "alle Menschen im eigenen Bereich" gleich gewesen. Damit wird die "Idee des Paradieses, die der Kern aller Utopien ist", als "Schlaraffenland" verabschiedet.

Peltzer kann und will mit seinem Roman keine fertigen Antworten geben. Er versteht seinen Text vielmehr als "Werkzeug für ein Außen", wie er es formulieren würde, und zwar den Leser, der damit arbeiten, denken, sich auseinandersetzen kann. "Maschine machen", nennt das Peltzer und liefert im Roman neben einem unverwechselbaren Sound aus der Musik- und Kinogeschichte auch wichtige literarische "Fürsprecher" für seine ästhetische Methode: den US-Amerikaner Thomas Pynchon, aus dessen Roman "Die Enden der Parabel" er den schönen Satz "auch EINE ARMEE VON LIEBENDEN KANN GESCHLAGEN WERDEN" zitiert und der für sein ausuferndes Erzählen bekannt ist, dessen Roman aber vor allem auf den zweiten Weltkrieg verweist. Aber auch Kipling und Koeppen spielen hinein.

Dass der Roman so unvermittelt endet, wie er begann, kann nicht verwundern. Ebenso nicht, dass der von Peter Möhle, dem linken Journalisten und einstigen Revolutionär, geschriebene schöne Anfang für ein Booklet zu Bellocchios Film "Buongiorno, notte" eben nicht am Anfang steht: "Die Geschichte kennt nur eine Richtung, kaum etwas ist schwerer hinzunehmen. Man kann Erklärungen suchen, aber die stellen keine Beruhigung dar. Nicht das Gedächtnis schützt uns vor blamablen Wiederholungen, sondern allein die Imagination, die dem Möglichkeitssinn Raum (Räume) eröffnet, sich zu entfalten. So ließe sich anfangen, warum nicht ..."

Weil ..., könnte der Leser nun anfangen und wäre mittendrin in der Geschichte.


Anmerkungen:

[1] Jenny Erpenbeck: "Gehen, Ging, Gegangen", siehe
Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT
BERICHT/029: Vorgelesen, zugehört ... (SB)
Autorenlesung mit Jenny Erpenbeck am 29.09.2015 im Literaturhaus Magdeburg
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0029.html

[2] Monique Schwitter: "Eins im Andern", siehe
Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → REDAKTION
REZENSION/001: Monique Schwitter - Eins im Andern (Roman) (Christiane Baumann)
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/redakt/dbrr0001.html


Ulrich Peltzer
Das bessere Leben
Roman
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2015
446 Seiten
22,99 Euro
ISBN: 978-3-10-060805-5

9. Oktober 2015


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