Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → REDAKTION


REZENSION/005: Klaus-Rüdiger Mai - Albrecht Dürer. Das Universalgenie der Deutschen (Biographie) (SB)


Klaus-Rüdiger Mai

Albrecht Dürer. Das Universalgenie der Deutschen

von Christiane Baumann


"Durchmalen zur Wahrheit" - Klaus-Rüdiger Mai's Dürer-Biographie

Wer war Albrecht Dürer, jener Künstler, der Werke wie "Die Apokalyptischen Reiter", den "Dresdner Altar" oder "Das erste Menschenpaar" schuf, was machte ihn aus und seine Kunst groß? Klaus-Rüdiger Mai spürt in seinem neuen Buch diesem ungewöhnlichen Menschen nach, dem der Anspruch auf Universalität zugewiesen wird. "Das Universalgenie der Deutschen" - so lautet der Untertitel der Biographie, der zugleich ihr Programm beschreibt. Wird zum einen Albrecht Dürer in seinem universellen Anspruch begreifbar, so nimmt sich Klaus-Rüdiger Mai diesen als Maßstab, um Dürers Spuren zu folgen.

Wie schon in seiner Luther-Biographie wählt Mai eine markante Begegnung als Ausgangspunkt seines Erzählens. Diese erzählt vom berühmten "Rosenkranzgemälde", das Dürer 1505 in Venedig schuf, angelangt auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Mai folgt dem Weg dieses Gemäldes im Jahr 1606 - also rund einhundert Jahre nach seiner Erschaffung - von Venedig in die Prager Burg, wohin es Rudolf II., der kunstbegeisterte Kaiser, nachdem er es erworben hatte, bringen ließ. Mit dem "Rosenkranzgemälde" zielt Mai in das Wesen des Dürer'schen Künstlertums, suchte der Maler doch in ihm die christlich-humanistische Idee zu malen, ihr in seinem Werk Ausdruck zu verleihen. Mit ihm erwarb sich Dürer den Ruf als "Humanist des Bildes". Dieses Gemälde verhalf ihm nicht zuletzt zum ersehnten Durchbruch in Italien. Es zeugt von seinem Streben, hinter das Äußere zu schauen, in das Wesen der Dinge vorzudringen, deren Schönheit die Wahrheit offenbart. Mai nennt es "zur Wahrheit durchmalen" und fasst damit pointiert das künstlerische Credo Dürers zusammen.

Klaus-Rüdiger Mai entwirft in seinen 22 Kapiteln eine faszinierende Künstlerbiographie. Da ist zunächst das besondere Verhältnis zum Vater, Albrecht Dürer dem Älteren, der ungarische Wurzeln hatte und dessen Migration sich im Nürnberg des 15. Jahrhunderts problemlos vollzog, "weil in Gestalt des Christentums ein einheitlicher Werte- und Verhaltenskanon" (S. 30) als Grundlage existierte. Albrechts Vater war ein "Edelhandwerker" (S. 17), denn der Goldschmied stand seinerzeit an der Spitze der Handwerkerberufe, was zu Wohlstand führte, auch wenn sich die Familie mit den Patriziern der Stadt nicht messen konnte. Von Ärmlichkeit, wie sie sich zuweilen - auch von Albrecht Dürer selbst kolportiert - in der Sekundärliteratur findet, war die Familie, wie Mai belegen kann, weit entfernt. Davon zeugen auch die Paten der Kinder. Bei Albrecht stand Anthoni Koberger Pate, der wie der Vater "für die Dynamik Nürnberger Unternehmertums in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts" (S. 58) stand.

Da ist die Mutter Barbara, die mit 14 Jahren dem 40-jährigen Albrecht Dürer, dem Älteren, angetraut wurde, diesem 18 Kinder gebar und in ihre Aufgaben im Familienbetrieb hineinwuchs. Mai zeigt eindrucksvoll auf, dass die Rolle der Frau im Familienbetrieb des Mittelalters aufgrund fehlender Quellen und in späteren Jahrhunderten geprägten Klischees heute völlig unterschätzt ist. Das trifft auch für Agnes Dürer zu, die Frau Albrecht des Jüngeren, die in der kinderlosen Ehe offenbar als selbstbewusste Geschäftsfrau den Vertrieb der Werke ihres Mannes in die Hand nahm. Albrechts Vater erkannte die künstlerische Begabung des Sohnes frühzeitig, förderte ihn und machte sich berechtigte Hoffnungen, ihn zu seinem Nachfolger in der angesehenen Goldschmiedewerkstatt heranzubilden. Doch als der Sohn nach der Lehrlingszeit sich entschließt, Maler zu werden, wird der Vater schließlich auch hier zum Unterstützer. Mai beschreibt für das Nürnberg des 15. Jahrhunderts ein geistiges Klima, das sich in Wirtschaft und Kunst wie Kunsthandwerk in Vielfalt und Lebendigkeit auslebte und Dürer nachhaltig prägen sollte. Dürer wuchs in einer "bilderreichen Welt auf, die aus unterschiedlichen Stilen bestand" (S. 89). Man agierte unorthodox und zeigte sich Neuem gegenüber aufgeschlossen. Ein wichtiger Motor war Dürers Pate, der erfolgreiche Verleger Anthoni Koberger, der mit seinen Projekten immer wieder zur Weiterentwicklung des Holzschnitts anregte. Dürer, zunächst als Lehrling in der Malerwerkstatt von Michael Wolgemut, erlebte in Nürnberg als einem Zentrum des einsetzenden professionellen Buchdrucks hautnah den Beginn einer neuen Ära der Mediengeschichte, die, da die Kirche als Institution zunehmend versagte, mit der Suche nach einer neuen Frömmigkeit, einer Neubestimmung des Individuums und einem gestiegenen nationalen Selbstbewusstsein einherging. Erbauungsbücher wie "Der Schatzbehalter", der auf Deutsch Lehrbeispiele für ein christliches Leben bot, wurden in Nürnberg gedruckt und stellten das Bild wirkungsästhetisch auf eine Stufe mit dem Text. Diese neue Bedeutung des Bildes, das nicht dadurch Bild wird, "dass es bildet, sondern es bildet, weil es Bild ist" (S. 97), wurde zur Basis für Dürers Ästhetik. Albrecht Dürer befand sich somit im Zentrum eines wirtschaftlichen Aufbruchs, der künstlerisch völlig neue Gestaltungsräume eröffnete und zugleich mit einem geistigen Aufbruch einherging: der Geburt des deutschen Humanismus, jener Bildungsbewegung, die den christlichen Glauben "durch die Entdeckung der verlorenen Schönheit und Weisheit der antiken Welt, die als Gottes Signatur verstanden wurde" (S. 103), erneuern wollte. Nürnberg profilierte sich als Zentrum des deutschen Humanismus, in dem sich humanistische Ziele und christlicher Glauben verbanden und für den der "Schatzbehalter" ebenso beispielhaft als Dokument gelten kann wie die "Weltchronik" des Nürnbergers Hartmann von Schedel, die 1493 bei Koberger erstmals gedruckt wurde. Zu dieser Zeit war Albrecht Dürer bereits auf Gesellenreise, die ihn nicht zufällig nach Basel, einem ebenso bedeutenden Zentrum des Buchdrucks wie Nürnberg, führen sollte. Dort lernte er wie ein "Zeichner in den Studios von Walt Disney" (S. 126) das industrielle Produzieren, begegnete und porträtierte Sebastian Brant, dessen "Narrenschiff" 1494 erschien und das dessen Ruhm als deutscher Humanist begründen sollte. Mit seiner Lehrzeit und Gesellenreise hatte Dürer, der illiterat, d.h. wissenschaftlich nicht gebildet und damit der Sprachen Latein und Griechisch nicht mächtig war, sich Voraussetzungen geschaffen, um sich im Kreis der Nürnberger Humanisten um Willibald Pirckheimer und Sebald Schreyer bewegen und nicht zuletzt auch mit Conrad Celtis, dem deutschen "Erzhumanisten" und Wegbereiter eines deutschen Nationalbewusstseins, in geistigen Austausch treten zu können. Über sie erschloss er sich die Welt der Antike, die antike Mythologie, die er in Holzschnitten, bald aber auch in Kupferstichen neu erzählen und immer wieder neu erfinden sollte. Während seiner ersten Venedig-Reise, die Mai mit guten Argumenten erst in die Jahre 1496/1497 datiert, holte sich Dürer das technische Rüstzeug für seine Kupferstiche, waren doch die Italiener zu diesem Zeitpunkt auf diesem Gebiet führend. Anders als beim Holzschnitt ritzte der Maler beim Kupferstich seinen Entwurf selbst in die Kupferplatte, was Dürer in seinem Streben nach Perfektion gereizt haben dürfte. Zugleich hatte er erkannt, wie wichtig das Studium der modernen italienischen Malerei für ihn sein würde und nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit der Antike, wollte er als Deutscher eine der italienischen ebenbürtige Kunst schaffen, was letztlich ganz im Sinne des Humanisten Conrad Celtis vom Streben nach einer eigenen deutschen kulturellen Identität inspiriert war.

Mit einem besonderen Zauber, geradezu mit allen Sinnen, schildert Mai Dürers Ankunft in Venedig, seine erste Begegnung mit der Serenissima und - vor allem - mit dem Meer. Nicht zuletzt trat Dürer nun Auge in Auge der italienischen Malerei gegenüber, um sie aufzunehmen und für das eigene Schaffen produktiv zu machen. Zurückgekehrt nach Nürnberg entstanden in rascher Folge Kupferstiche, mit denen Dürer in Deutschland nahezu konkurrenzlos war. Mit seinen weltberühmten 15 Holzschnitten, darunter die "Apokalyptischen Reiter", schuf er sein erstes "Bilder-Buch", das die Offenbarung des Johannes thematisierte und mit dem er sich den Ruf als Meister der Druckgraphik erwarb. Eindrucksvoll entwirft Klaus-Rüdiger Mai ein Bild vom Künstlertum Dürers, der als einer der ersten Künstler gelten kann, der aus sich selbst heraus, ohne Auftrag, Werke schuf. Die zahlreichen Selbstporträts Dürers werden als Ausdruck der künstlerischen Identitätsfindung begreifbar, die mit dem berühmten Porträt von 1500, mit dem er sein Bekenntnis zum Humanismus ablegte, abgeschlossen war. Nunmehr drängte es Dürer, beseelt von den humanistischen Idealen und auf der Suche nach Gott im Menschen, mehr und mehr zu "Gottes Proportionsschlüssel" (S. 265) vorzudringen. War er Leonardo da Vinci in seinem künstlerischen Selbstverständnis geistesverwandt, so begann er wie dieser, die Proportionen des menschlichen Körpers zu erforschen und mit Adam und Eva die "idealen" Menschen zu malen. Doch es trieb ihn weiter, denn es galt, die Gesetzmäßigkeiten zu erforschen, um den "universellen Konstruktionsschlüssel des Kosmos" (S. 288) zu finden. Mit diesem steten Streben nach Wissen und Erkenntnis der Natur, in der es Gott zu entdecken galt und das Mai ins Zentrum seiner Biographie rückt, geriet Dürer zunehmend in Konflikt mit der Kirche als Institution, was ihn mehr und mehr zwischen Glauben und Kirche unterscheiden ließ. Damit war der Boden bereitet, der ihn an die Seite Martin Luthers führen sollte, der mit seinem Thesenanschlag 1517 in Wittenberg die Reformation einläutete. Nach seinem Bekenntnisbild "Melencolia I", das Mai als Ausdruck "großer Ratlosigkeit" und innerer Zerrissenheit des Künstlers interpretiert, bot sich ihm Luther als Erlösung an, da dieser den Weg freimachte, von einem strafenden zu einem liebenden Gott zu finden, kurz: für die Erlösung durch Liebe. Die Berührung von Dürer und Luther bildet in der Biographie Klaus-Rüdiger Mai's auch deshalb einen Höhepunkt, da zwei Biographien aus der Feder des Autors aufeinandertreffen und sich ineinander verschränken. Mit Dürers theoretischen Schriften, die ab 1525 bis zu seinem Tode entstanden, runden sich das Werk und die Biographie eines Künstlers, der sich auch der Architektur, der Mathematik und der Astrologie widmete und seine Erkenntnisse, sein Wissen der Nachwelt übereignen wollte.

Damit schließt sich der Kreis zum Hier und Heute. Nicht zufällig plädierte der Autor Klaus-Rüdiger Mai erst kürzlich für eine "neue Universalität" [*] und bekannte sich damit zu einer geistigen Haltung, die mit den deutschen Humanisten ihren Anfang nahm und für deren grenzüberschreitendes Denken Albrecht Dürer als beispielhaft gelten kann. So entsteht neben einer äußerst plastischen Lebensbeschreibung ein ausgesprochen beziehungsreiches Buch, in dem sich Alltag, Kunstgeschichte und Geschichte des Mittelalters durchdrungen von der Philosophie und Theologie der Zeit begegnen - und das alles wird von Mai lebendig und spannend erzählt. Der Leser begreift, dass er den von Dürer bezogenen Motti, die der Autor seiner Biographie beigab und die den Forscherdrang und das Streben nach Erkenntnis priorisieren, ernst nehmen muss, um in die Tiefen dieses Buches ebenso wie in die des erzählten Künstlerlebens eindringen zu können. Material- und Geistesfülle bestechen auch deshalb, weil sie trotz weitreichender Exkurse den Kern nicht aus dem Blick verlieren.

Mai's Dürer-Biographie bietet dem Leser eine Expedition ins Mittelalter, die zum deutschen Humanismus und zu dessen Vertretern um Conrad Celtis führt und die immer wieder einlädt, sich in die zahlreichen, subtil interpretierten Holzschnitte, Kupferstiche, Gemälde und Altäre Dürers zu vertiefen. Denn - und auch hier bewegt sich Mai in Analogie zu seinem Gegenstand - Dürers Biographie wird parallel zum Bild entwickelt, was mindestens dreierlei umfasst: Exkurse in die Geschichte der bildenden Kunst, Forschungsreisen zur Entstehung der Dürer'schen Werke und Angebote zur Interpretation des Einzelwerkes. Dabei verfolgt Mai konsequent den Ansatz, Dürers Biographie aus dem Geist der Zeit heraus zu schreiben und ihn mit den Augen seiner Zeit als Ausnahmekünstler begreifbar werden zu lassen. So eröffnet das Buch ganz nebenher Einblicke in die Stadtgeschichte Nürnbergs als Metropole des 15. Jahrhunderts, in die Geschichte des Goldschmiedehandwerks, des Buchdrucks und damit in die Mediengeschichte oder in Techniken des Holzschnitts und Kupferstichs, um nur einige markante Aspekte herauszugreifen, ohne die man Dürers Lebensweg nicht verstehen kann. Eindrucksvoll schält sich sukzessive die Verflechtung von Leben und Werk, das als verdichteter Reflex auf Lebenswirklichkeit verstanden wird, heraus. Dabei sieht sich der Leser immer wieder damit konfrontiert, dass unser heutiges Wissen, unsere "Brille", durch die wir das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit anzusehen geneigt sind, einer Überprüfung bedarf. Neben Verfälschungen und Umdeutungen zu Leben und Werk Dürers gilt es auch zur Kenntnis zu nehmen, dass strenge Wissenschaftlichkeit mitunter nicht zum Ziel führt, sondern - und damit ist ein weiterer Ansatz Mai's benannt - die "Logik des Lebens" (S. 114), der man, wenn Fakten und wissenschaftliche Studien enden, anhand von Indizien vertrauen muss. Auch wenn Mai für seine Dürer-Biographie keine Genre-Bezeichnung gewählt hat, wird erkennbar, dass er den mit seiner Romanbiographie über Martin Luther eingeschlagenen Weg weiter ausgeschritten und Spielräume zwischen Fiktion und Authentizität neu ausgelotet hat. Nicht nur die ausgebreitete Sekundärliteratur, in der allerdings der Dürer-Band Heinrich Wölfflins fehlt, sondern insbesondere seine subtilen Kommentare, die dem Anhang beigefügt wurden, belegen eindrucksvoll, dass ohne solide wissenschaftliche Fundierung eine solche Biographie nicht gelingen kann. Sie ist der Ausgangspunkt für Universalität, Bildbezug und Zeitverständnis, die die Säulen dieser Dürer-Biographie bilden und ihr nicht zuletzt auch mit ihrer aufwendigen Ausstattung den Stempel des Außergewöhnlichen aufdrücken.

Aber vor allem ist Klaus-Rüdiger Mai's Dürer-Biographie ein Bekenntnis zum deutschen Humanismus. Dürer wird zur Bezugsfigur, da er mit den deutschen Humanisten am Anfang einer Epoche stand, die auf einem gemeinsamen christlichen Wertekanon basierte und eine nationale kulturelle Identität begründete, die nunmehr auseinanderzufallen scheint. Sich mit Albrecht Dürer heute auseinanderzusetzen bedeutet deshalb auch und vor allem, im grenzüberschreitenden Denken sich dieser kulturellen Identität zu vergewissern und sie zu bewahren.

Klaus-Rüdiger Mai:
Albrecht Dürer. Das Universalgenie der Deutschen.
Propyläen Verlag, Berlin, 2015.
400 Seiten,
28,00 Euro,
ISBN: 978-3-549-07454-1


Anmerkung:

[*] Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT
INTERVIEW/031: Dürer und seine Zeit - im Aufbruch muß kein Abbruch liegen ...    Klaus-Rüdiger Mai im Gespräch (SB)
vom 23.11.2015
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0031.html

3. Dezember 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang