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REZENSION/009: Christoph Hein - Glückskind mit Vater (Roman) (SB)


Christoph Hein

Glückskind mit Vater

von Christiane Baumann


Gespenster der Vergangenheit.
Zu Christoph Heins Roman Glückskind mit Vater

Christoph Heins Roman beginnt mit Irritationen: Dem Titel Glückskind mit Vater wurde die Genre-Bezeichnung "Roman" beigegeben, was auf die literarische Fiktion weist. Mit der sich anschließenden Feststellung, dass der Geschichte "authentische Vorkommnisse" zugrunde liegen und die Personen der Handlung "nicht frei erfunden" sind, wird diese Zuordnung brüchig und der Anspruch auf Authentizität erhoben. Dieses Schweben zwischen Fiktion und Wirklichkeit nimmt die Roman-Eröffnung auf. Der Ich-Erzähler erinnert ein Kindheitserlebnis, das in eine Traumsequenz mündet, die ein Mann in Uniform dominiert, der wie ein "Märchenprinz" (S. 9) wirkt, schließlich aber eine "Spur der Zerstörung" (S. 10) hinterlässt. Märchenhaftes wohnt auch dem Roman-Titel Glückskind mit Vater inne. An Hans im Glück aus den Grimm'schen Kinder- und Hausmärchen lässt sich denken, denn Konstantin Boggosch, die literarische Hauptfigur, wird mit seiner bevorstehenden Geburt in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges zum Lebensretter seiner Mutter, zu ihrem "Glückskind" (S. 47). Konstantin geht in die Welt und erlebt als Deutscher in Südfrankreich das Glück uneigennütziger Hilfe ehemaliger Résistance-Kämpfer. Als er 1961 in die DDR zurückkehrt, widerfährt ihm wieder Glück. Es ist nicht zufällig ein türkischer Marxist, der aus seiner Heimat fliehen musste und ihn zusammen mit seiner Frau, einer Deutschen, unterstützt. Und schließlich bringt ihn der Vater seiner großen Liebe Beate zum Lehrerberuf, der nicht sein Traumberuf ist, aber seine Berufung wird und ihm Halt gibt, als sein Lebensglück zerbricht. Wie im Märchen hat Konstantin auf seinem Weg drei Mal großes Glück, und er versucht wie Hans im Glück Leid und Enttäuschungen in sinnstiftendes Leben zu verwandeln. Er geht wie die Märchenfigur den Weg der Mutter und sucht sein Glück nicht in ererbtem Geld und Gut, sondern schafft sich mit beharrlicher Arbeit eine Existenz. Während der Märchen-Hans seinen Arbeitslohn durch Tauschgeschäfte verliert, klebt an Konstantin lebenslang der Vater "wie Pech" (S. 88) und zerstört mühsam Erworbenes. Wieder offenbart das Märchen- und Traumhafte seine zerstörerische Seite. Der Vater, den er nie kennengelernt hat, ist das "Gespenst" (S. 54), das auf der Familie lastet. Wie in Henrik Ibsens Familiendrama Gespenster holt die Vergangenheit Konstantin ein, wird das Familiengeheimnis, die Lebenslüge, sukzessive enthüllt. Eine Zeitungs-Praktikantin, die Konstantin um ein Interview bittet, wird zum "Boten aus der Fremde", der in Ibsens Dramen bekanntlich die Handlung und hier nun das Erinnern in Gang setzt.

Die Rahmenhandlung des Romans spielt im Jahr 2014 in einem Havel-"Städtchen", hinter dem Havelberg zu vermuten ist und in dem Boggosch, inzwischen 69 Jahre alt und pensioniert, mit seiner zweiten Frau Marianne lebt. Zwei Streiflichter erhellen prägnant die sozialen Koordinaten des Romans. Beim Einkauf trifft Boggosch einen früheren Schüler, dessen Umschulung geplatzt ist und der am Vormittag Bier trinkend vor einer Dönerbude Zeit totschlägt. Dann rast ein Mann mit seinem "dicken Auto" (S. 12) durch die Stadt und nimmt ihm die Vorfahrt. Die Armut ist noch immer in der Welt und der Reichtum bestimmt, wer Vorfahrt hat. Die "alten Gespenster" (S. 26), die Boggosch nicht wecken möchte, bekommen eine soziale Dimension und schließlich sogar behördliche Unterstützung. Die Kirchensteuerfahndung sucht nach einem Konstantin Müller, der wie Boggosch am 14. Mai 1945 geboren wurde, einen Vater Gerhard Müller und einen Bruder Gunthard hat. Marianne wird hellhörig, aber Konstantin schweigt. Er gibt auch kein Zeitungs-Interview. Die Erinnerungen allerdings wird er nicht mehr los. Mariannes Abreise zur Kur wird zur Zäsur. Die Erzählperspektive wechselt vom auktorialen zum Ich-Erzähler und Konstantin breitet sein Leben, das voller wundersamer Wendungen steckt, wie in einer Dokumentation aus.

Mit zehn Jahren erfährt Konstantin, dass sein Vater Gerhard Müller ein brutaler Kriegsverbrecher und Brigadeführer der SS im Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt war, dem bis zum Kriegsende die Vulcano-Werke gehörten und der 1945 in Polen wegen seiner Gräueltaten gehenkt wurde. Seine Mutter Erika, die nichts von den Machenschaften ihres Mannes ahnte, kommt aus großbürgerlichen, gebildeten Verhältnissen. Für ihren Vater, der nach der Machtübernahme der Nazis seine politischen Ämter verlor, war der aus einer reichen Familie stammende Müller ein Emporkömmling. Tatsächlich machte dieser als Besitzer der Vulcano-Gummiwerke mit den Häftlingen in den Konzentrationslagern ein Vermögen und plante sogar am Rande der sächsischen Kleinstadt G., in der Konstantin aufwächst, ein Arbeitslager für sein Werk. Die Mutter will nach dem Krieg diesen Mann aus ihrem Leben tilgen. Beschämt nimmt sie wieder ihren Mädchennamen Boggosch an und verheimlicht ihren Söhnen die Identität des Vaters, bis Gunthard diese aufdeckt. Als Sohn eines Kriegsverbrechers darf Konstantin, der fünf Sprachen spricht, trotz exzellenter schulischer Leistungen nicht zur Sportschule und auch kein Abitur machen. Er flüchtet mit 14 Jahren aus der DDR, geht nach Marseille, um sich dort der Fremdenlegion anzuschließen, was misslingt. Ein Antiquariat wird ihm zum Refugium und dessen Besitzer, Emanuel Duprais, ein Freund, der ihm gemeinsam mit drei ehemaligen Résistance-Kämpfern, welche Ironie des Schicksals, zu Arbeit und zur mittleren Reife verhilft. Als Konstantin entdeckt, dass vermutlich sein Vater diesen Duprais in einem deutschen KZ halbtot schlug, kann er nicht bleiben, verlässt Marseille und kehrt 1961 kurz nach dem Mauerbau nach Deutschland zurück. Mit Witz und Intelligenz schlägt er sich wie der brave Soldat Schwejk, der Name fällt im Roman an anderer Stelle, zur Mutter in die DDR durch. Schließlich landet er in Magdeburg. Wieder findet er Zuflucht und Hilfe in einem Antiquariat. Abends lernt er für das Abitur. Als Sohn eines Kriegsverbrechers wird er ausgemustert und für die Filmhochschule nicht zugelassen. Er ergreift den Lehrerberuf und geht mit der Perspektive, Schulleiter zu werden, in das Havel-Städtchen, bis ihm auch hier der Vater zum Verhängnis wird.

Soweit die Geschichte des Romans, dessen Titel keineswegs ein "merkwürdig beiläufiger" [1] ist, vielmehr sorgfältig gewählt wurde. Glückskind mit Vater erinnert nicht nur an Märchenhaftes, sondern auch an Heinrich Bölls Roman Gruppenbild mit Dame, der dem Autor 1972 den Nobelpreis verschaffte. Heins irritierender Hinweis zur Authentizität des Romans deutet auf Doppelbödigkeit und bestätigt den Bezug zu Böll, korrespondiert er doch auffällig mit einem Zusatz, den dieser seiner Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum voranstellte. Bei Böll heißt es, dass Personen und Handlung frei erfunden sind, doch "sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der Bild-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich." Schon in Heins Roman In seiner frühen Kindheit ein Garten (2005) gab es Hinweise auf Böll. Im intertextuellen Bezug auf Gruppenbild mit Dame schält sich in Heins Roman aus der märchenhaft anmutenden, abenteuerlichen Geschichte, die chronikartig daherkommt, ein Subtext, der das Erzählte in neue Zusammenhänge stellt. Der nüchterne Protokollstil, der auf Vorbilder wie Kleist, Johann Peter Hebel oder Kafka weist und von Sigrid Löffler als "glanzlos, uninspiriert", "staubtrocken" und "chronologisch herunter erzählt" [2] bezeichnet wurde, ist Teil eines ästhetischen Verfahrens, das den leichten und beifälligen Erzählstil mit der Ungeheuerlichkeit des Erzählten kontrastiert und in diesem Spannungsverhältnis die Deformationen der Gesellschaft bloßstellt. Und genau hierin ist er Bölls Roman wesensverwandt.

Beide Romane sind poetisch verdichtete Dokumentationen, deren Personen und Raum-Zeit-Koordinaten Authentizität erzeugen, die aber in der Fiktion verbleiben. Um Beispiele zu nennen: In den 1960er Jahren sahen sich amtierende DDR-Kulturminister, die das Exil im Westen verbracht hatten, tatsächlich Verdächtigungen ausgesetzt, aber keiner von ihnen war wie in Heins Roman im Exil in England. Konstantin wächst in der sächsischen Kleinstadt G. auf, einem fiktiven G., das an Bad Guldenberg in Heins Roman Horns Ende erinnert. Die Vulcano-Werke respektive Buna-Werke, auf die der Roman anspielt, wurden in den 1930er Jahren allerdings in Schkopau gegründet und profitierten dort von einem durch die Gestapo errichteten Arbeitslager. Das "betriebseigene Konzentrationslager" (S. 71) in Heins Roman wird nicht mehr fertiggestellt. Böll spielt in Gruppenbild mit Dame wie Hein mit Wirklichkeit und Fiktion. So blendet er Auszüge aus den Protokollen der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse ein, ohne diese explizit auszuweisen. Sie sind wiederum so ungeheuerlich, dass ihre Authentizität kaum vorstellbar ist. Unter den Dokumenten befindet sich ein Papier, das mit "gez. Müller" unterschrieben ist, hinter dem sich der berüchtigte Gestapo-Chef und NS-Kriegsverbrecher Heinrich Müller, einer der Hauptverantwortlichen für die Gräueltaten in den Konzentrations- und Arbeitslagern der Nazis, verbirgt. Nicht zufällig heißt Konstantins Vater Gerhard Müller. Es gab einen solchen Müller, nicht nur in Heins und Bölls Roman, es gab ihn tatsächlich. Sowohl Böll als auch Hein entwerfen in ihren Romanen ein gesellschaftliches Panorama, das mehrere Jahrzehnte deutscher Geschichte einfängt. Während Böll den Bogen vom Ersten Weltkrieg bis in bundesdeutsche Wirklichkeit des Jahres 1970 spannt, beginnt Heins Roman während des Nationalsozialismus, reicht über die DDR-Zeit bis zum wiedervereinten Deutschland des Jahres 2014. In beiden Romanen machen die Väter der Hauptfiguren während des Nationalsozialismus ein Vermögen. Lenis Vater verdient mit seiner Firma für Festungs- und Bunkerbau am Krieg, hintergeht jedoch das Naziregime und wird 1943 wegen Betruges zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Konstantins Vater identifiziert sich als SS-Offizier mit der Nazi-Ideologie und profitiert bis zum Schluss an der perfiden Ausbeutung von Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen.

Konstantin Boggosch erweist sich als Gegenentwurf und zugleich als Geistesverwandter Leni Pfeiffers, der weiblichen Hauptfigur in Bölls Roman, deren Leben ein "Verfasser" aus Dokumenten und Zeugenaussagen rekonstruiert, dabei seine Rolle als kommentarloser "Rechercheur" hervorhebend. Während sich hier aus dem gesellschaftlichen "Gruppenbild" sukzessive das Individuum, Lenis Persönlichkeit, herauskristallisiert, ohne dass sie selbst als Handelnde in Erscheinung tritt, geht Glückskind mit Vater den umgekehrten Weg. Boggosch selbst berichtet sein Leben lakonisch und kommentarlos und liefert dabei ein subtiles Abbild der Gesellschaft. Konstantin ist intelligent, ein Sprachgenie, und schlägt sich bereits als 14-Jähriger gewitzt durch halb Europa. Er kämpft um Schulbildung und verschafft sich Abschlüsse. Er nimmt Gefahren wahr, agiert aber nach dem Prinzip Hoffnung. Leni hingegen tritt als "Genie der Sinnlichkeit" in Erscheinung, dem Bildungsangebote unterbreitet werden, die sie nicht erreichen. Sie bleibt ungebildet und naiv, geradezu unbekümmert. Konstantin und Leni lieben beide Kinobesuche. Doch während Leni Kitsch- und NS-Propaganda-Filme wie Kameraden auf See, Achtung, Feind hört mit oder Heißes Blut sieht, konsumiert Konstantin Meilensteine der Filmgeschichte wie Die Kinder des Olymp von Marcel Carné oder Sergej Eisensteins Revolutionsfilm Panzerkreuzer Potemkin, der 1925 in Moskau zur Jubiläumsfeier der Revolution von 1905 aufgeführt wurde. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.

So gegensätzlich Leni und Konstantin sind, im Geiste sind sie einander verwandt. Leni wird, und darauf weist der "Verfasser" ausdrücklich hin, als "fast" vollkommen dargestellt. Geld und Besitz bedeuten ihr nichts. Sie bewahrt sich gegenüber dem russischen Kriegsgefangenen Boris, der ihr Geliebter wird, und gegenüber der Jüdin Rahel Menschlichkeit, ist in ihrer Naivität nahezu unantastbar. Mit dieser Haltung wird sie während der Zeit des Naziregimes und später in einer Gesellschaft, in der der mentale Bodensatz fortlebt, der in den Nazis und ihren Parteigängern seine schärfste Ausprägung fand, zum Widerpart. Sie wird von Profithaien übervorteilt und als Russenhure gebrandmarkt, doch sie bleibt moralisch integer. Auch Konstantin mutet an wie ein Wesen aus einer anderen Welt, das unbeirrt, unbestechlich und pflichtbewusst seinen Weg geht, anders aber als Leni soziale Verantwortung übernimmt. Er empfindet die Schuld zweier Weltkriege, vor der seine "und weitere Generationen gerade zu stehen haben oder krumm" [3], wie Hein einmal schrieb. Seine moralische Integrität lässt ihn letztlich ein Millionenerbe ausschlagen, das sich auf der Ausbeutung und Ermordung unschuldiger Menschen gründet. Doch während Leni das Leben geschehen lässt, ihrer Intuition und ihrem Gefühl wie einem Kompass folgt und dem Schicksal wie einer Naturgewalt ausgeliefert zu sein scheint, strebt Konstantin danach, dem Schicksal zu trotzen und sein Leben bewusst zu gestalten. Konstantin und Leni können die historischen Koordinaten ihres Lebens nicht beeinflussen, aber sie setzen einer inhumanen Welt ihre Menschlichkeit entgegen und nehmen sich die Freiheit, gegen die Opportunisten aller Couleur anzutreten, die sich um sie herum tummeln. Beide Romane loten somit Möglichkeiten und Chancen des Individuums aus, sich den gesellschaftlichen Normen und Zwängen zu widersetzen. Konstantin findet in seinem Bruder einen Gegenspieler, der zeigt, wie man sich in der DDR ausgezeichnet mit dem Kriegsverbrecher als Vater arrangieren konnte. Nach dem Scheitern seiner Flucht in den Westen, wird Gunthard SED-Mitglied und gelangt zu Wohlstand. Nach der Wende tritt er nahtlos das blutbefleckte Millionenerbe seines Vaters an, wird wie dieser zum größten Arbeitgeber des Städtchens und weiß sich damit in guter Gesellschaft. Der Antiquar Duprais bezeichnete Menschen wie ihn als die "Duponds" (S. 200) und meinte damit jene Kollaborateure, die in Frankreich nach der Nazizeit zu erbitterten Feinden der Deutschen mutierten sowie jene Résistance-Mitglieder, die als Zuträger des Vichy-Regimes der deutschen Sicherheitspolizei treue Dienste leisteten. Opportunismus kennt keine Grenzen.

Christoph Heins Roman weist über die Kapitalismuskritik Heinrich Bölls hinaus, dessen Roman aus dem Geist der politischen Proteste in der Bundesrepublik der 1960er Jahre entstand. Das Ende der Wirtschaftswunder-Ära führte zu einer Verschärfung der sozialen Widersprüche sowie zum Aufstand der jungen Generation gegen den Staat und seinen skandalösen Umgang mit früheren Nazi-Bonzen, die nach wie vor in Amt und Würden waren. Glückskind mit Vater verabschiedet den Traum, dass "es nirgends mehr auf der Welt einen kriegerischen Konflikt" geben könnte, da nach dem Sieg über den Faschismus und dem Ende des Zweiten Weltkriegs "kein Volk mehr für einen Krieg zu gewinnen" sei (S. 245-246). Krieg und Ausgrenzung, vom Algerien-Krieg über die September-Pogrome 1955 in der Türkei bis zum Prager-Frühling 1968 bestimmen die Welt, zu deren Wirklichkeit Flüchtlinge und Aufnahmelager immer gehörten und nach wie vor gehören. Die Ursachensuche führt zurück bis zur Antike, in der man kein Land kaufen oder verkaufen konnte. Erst "als das Land privater Besitz werden konnte, kam der Streit in die Welt und der Krieg" (S. 193). Damit werden Krieg, Flucht und Vertreibung auf den Kampf um Macht und Besitz und somit auf ihre sozialen Ursachen zurückgeführt. In Heins Roman erweist sich zudem die von Skrupellosigkeit, Gewinnsucht und Opportunismus geprägte Mentalität der "Müller" als ein systemunabhängiges Phänomen, das in der DDR genauso überleben konnte wie in der Bundesrepublik oder in Frankreich und das den Nährboden für den Faschismus bildet, der sich, wie der Antiquar Duprais feststellt, "in Europa noch lange nicht erledigt hat", denn "die deutschen Nazis haben ihren Krieg verloren, gewiss, aber nicht der Faschismus, dafür war er für gewisse Herrschaften viel zu erfolgreich. Er lebt und wird wiederkommen, und vielleicht schneller, als wir es uns in den schlimmsten Albträumen vorstellen können." (S. 203). Die aktuellen Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien in ganz Europa, auch in Deutschland, scheinen diese Prognose zu bestätigen. Flüchtet sich Heinrich Böll in Gruppenbild mit Dame in ein märchenhaft-paradiesisches Happy-End, so beschließt Heins Roman ein Albtraum Konstantins, der mit dem Ranenwäldchen, in dem sein Vater das Arbeitslager errichten ließ, und seinem triumphierenden Bruder endet und den Bogen zur Roman-Eröffnung schlägt. Die Gespenster der Vergangenheit sind nicht zu bannen und, wie Hein im Mai 1989 vor dem Mauerfall schrieb, "die Vergangenheit, der wir uns nicht stellen, wird nicht nur nicht vergehen, sie droht zurückzukehren. Die neuen Juden sind bereits ausgemacht, und auch in meinem Land sind es die Ausländer. Den Bodensatz einer nationalistischen Ideologie gibt es noch immer [...]" [4]

Eine Heimat findet Konstantin letztlich nur in den Sprachen, denn Sprachen sind "unabhängig von Ideologien und Staatsgebilden" (S. 485). Sprache "transportiert Literatur, Sprache ist selbst Material der Literatur, sie ist Literatur" [5], wie Hein einmal zu einem Satz von Anna Seghers formulierte oder wie es Böll in seinen Frankfurter Vorlesungen 1964 ausdrückte, als er von der "Suche nach einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land" sprach. So kommt antiquarischen Büchern und Antiquariaten in beiden Romanen nicht zufällig eine tragende Rolle zu. Werden Konstantin Antiquariate zum Refugium, so erschließen Leni Bücher von Brecht, Hölderlin, Trakl, Kafka, Kleist und Tolstoi eine neue Welt. Konstantin bezieht vor allem aus Goethes Faust Wissen und die Kraft, jenem "Teufelspakt", den sein Vater einging und für den er "die Zeche zu zahlen hatte" (S. 467), moralische Integrität entgegenzusetzen.

In Heins Roman heißt es an einer Stelle hintergründig, ein Kritiker, der nur lobt, habe "nichts von seinem Handwerk begriffen, genauso wenig wie einer, der nicht fähig ist, etwas zu sehen und hervorzuheben (S. 378). Es gibt viel zu sehen und aus der Fülle dieses Romans hervorzuheben. Es ist ein Roman, der einem deutschen Schicksal eine europäische Dimension verleiht, sich engagiert einmischt, indem er die gesellschaftlichen Trugbilder entlarvt und der geradezu meisterhaft beginnt. Wie in früheren Hein-Texten ist es ein Traum, der aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche drängt. Die Metaphern der Romaneröffnung wecken Assoziationen zu Stephan Hermlins Gedicht Die Asche von Birkenau und setzen die in den Ruinen des Arbeitslagers latent schlummernde Bedrohung in ein gespenstisches Bild.


Anmerkungen:

[1] Eger, Christian: Das Leben des Anderen. Mitteldeutsche Zeitung, 15. März 2016.

[2] Löffler, Sigrid im Gespräch mit Carsten Otte: Christoph Hein "Glückskind mit Vater". SWR 28. Februar 2016.
http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/buchkritik/christoph-hein-glueckskind-mit-vater/-/id=658730/did=17015720/nid=658730/314sck/index.html (abgerufen am 29. März 2016).

[3] Hein, Christoph: Öffentlich arbeiten. In: Öffentlich arbeiten. Essais und Gespräche. Berlin und Weimar 1987, S. 35.

[4] Hein, Christoph: Die Zeit, die nicht vergehen kann oder Das Dilemma des Chronisten. In: Ders.: Als Kind hab ich Stalin gesehen. Essais und Reden. Berlin und Weimar 1990, S. 136.

[5] Hein, Christoph: Worüber man nicht reden kann, davon kann die Kunst ein Lied singen. In: Ders.: Öffentlich arbeiten. A.a.O., S. 53.

Christoph Hein:
Glückskind mit Vater
Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin, 2016,
817 Seiten, 527 S.
22,95 Euro,
ISBN: 978-3-518-42517-6

4. April 2016


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