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REZENSION/019: Jürgen Neffe - Marx. Der Unvollendete (SB)


Der Kampf um Marx
Annäherungen anlässlich einer Biographie zum 200. Geburtstag von Karl Marx (1818-1883)

von Christiane Baumann


"Ein Gespenst kehrt zurück" titelte Der Spiegel 2005 und sah zugleich ein Erstarken der Linken. DIE ZEIT griff 2017 zum Aufmacher "Hatte Marx doch recht?" und verkündete "Er ist wieder da", um im gleichen Atemzug deutlich zu machen, dass es um Marx' Kapitalismuskritik gehe, von der man lernen müsse. Nur so könne man Marx, den "Revolutionsprognostiker", Lügen strafen und mittels steuerndem Staat das leistungsstarke System des Kapitalismus "für alle nutzbar"(1) machen. Man feierte Marx, den "Analytiker" und "Weltökonomen", um das Ziel, die Vision seiner Denkbewegung, eine von Ausbeutung befreite Menschheit, verwerfen zu können. Der Kampf um die Deutungshoheit über Karl Marx ist inzwischen in vollem Gange, und das umso mehr, als man ihn 1989 mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus glaubte in die Mottenkiste der Geschichte verfrachtet zu haben und der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama den Untergang der Marx'schen Theorie und das "Ende der Geschichte" (1992) proklamierte. Nach Fukuyama hatte der Liberalismus politisch und ökonomisch gesiegt, womit das Endstadium der Geschichte erreicht war. Mit der Finanzkrise 2008 trat die Brüchigkeit dieses Denkens zutage, war die Fortsetzung der Geschichte nicht mehr zu leugnen. Marx' analytisch fundierte Theorie über das Wesen und die Wirkmechanismen kapitalistischer Wirtschaft erwies sich als aktueller denn je. Die als überwunden postulierten Widersprüche des Systems drängten nach einer Lösung. 2013 nahm die UNESCO den ersten Band vom Kapital und das Kommunistische Manifest in das Weltdokumentenerbe auf. Dass das allgemeine Interesse an Marx' Theorien enorm zugenommen hat, belegte jüngst die Ausstellung zum Kapital im Hamburger Museum der Arbeit, die zum Publikumsrenner avancierte und Marx kompakt für Einsteiger, auch in einer instruktiven Broschüre, bot. Die Ausstellungsmacher übersetzten den von Marx im Kapital prägnant beschriebenen "Reichtum der Gesellschaften" als "ungeheure Warensammlung", seine Theorie vom Mehrwert und der Akkumulation des Kapitals bis hin zu zyklischen Krisen in anschauliche Bilder und Installationen. Ohne Frage: Marx boomt, einmal mehr im Jahr seines 200. Geburtstages.

Schon die Persönlichkeit des jungen Marx muss von ungewöhnlicher Strahlkraft gewesen sein. Als er sich 1841 den Gründern der Rheinischen Zeitung, einem oppositionellen Blatt, vorstellte, sah der Frühsozialist Moses Hess in ihm "Rousseau, Voltaire, Holbach, Lessing, Heine und Hegel in einer Person vereint"(2). Diese Genialität einzufangen und zugleich das Denkmal zu zerstören, bemüht sich der Naturwissenschaftler und Publizist Jürgen Neffe, der sich mit Biographien über Einstein und Darwin einen Namen machte, und nun auf mehr als 600 Seiten Marx als "multiplen" Menschen (S. 261) zu beschreiben sucht. Neffe zieht alle Register, um der Persönlichkeit und dem bisher vernachlässigten "Selbstbild des Rebellen" (S. 594) auf die Spur zu kommen. Dabei gerät Marx unter der Hand zum hochbegabten Kleingeist, den Eitelkeit, Neid und Missgunst trieben und über dessen Befindlichkeiten trefflich spekuliert wird: "Wie viel Neid mag im Spiel gewesen sein, wie viel Frust, wenn er mit ansehen muss, mit welchem Erfolg Arbeiterführer und Freiheitskämpfer vom Schlage Lassalles oder Garibaldis die Herzen der Menschen erobern?" (S. 594) Wenngleich Marx "Genialität" (S. 264) attestiert wird, so nehmen Passagen, die ihn als Hypochonder, Schnorrer und im Umgang mit politischen Weggefährten als schwierigen Zeitgenossen zeigen, ihn als "asozial" (S. 594) beschreiben, unverhältnismäßig breiten Raum ein. Hier wird nicht allein die Zerstörung einer "Kultfigur" (S. 388) der Linken betrieben, sondern Marx' Wirken in den politischen Kämpfen der Zeit, sein lebenslanges Anliegen, "der Arbeiterbewegung mit seinem Werk eine theoretische Grundlage bereit zu stellen"(3), wie es der Philosoph und Marx-Forscher Michael Quante in seinem aktuellen Band Der unversöhnte Marx formuliert, diskreditiert. Im Geflecht der Herabsetzungen und Spekulationen gehen nicht nur zutreffende und gelungene Ausführungen unter, es werden vielmehr widersprüchliche Positionen produziert. Wird zunächst postuliert, dass Marx Bausteine aus dem "Steinbruch der Geistesgeschichte" zum "fundamental Neuen" (S. 126) zusammenfügt, so in anderem Kontext das Neue dem "Vorwurf des geistigen Diebstahls" (S. 162) ausgesetzt, so als würde man der eigenen Feststellung nicht trauen. Gerade an dieser Stelle verschenkt Neffe die Chance, die Marx'sche "Gedankenwelt" (S. 124), konsequent aus dem Elend der Philosophie (1847) seiner Zeit, aus der kritischen Auseinandersetzung mit Hegel, den Junghegelianern und Feuerbach als Hinwendung zum realen Leben zu entfalten sowie die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte mit ihrer Konzeption der Entfremdung als Ergebnis dieser Denkbewegung herauszustellen. Es gelingt Neffe nicht, diesen Bogen zu spannen. Marx bleibt ein "Theoretiker mit Praxisbezug" (S. 168).

Das Widersprüchliche zeigt sich insbesondere in der Frage "War Marx ein Antisemit?" (S. 346), die angesichts von dessen "heikel und verächtlich" daherkommenden "Haltungen zum Judentum" (S. 347) nicht fehlen darf. Es folgt nicht, wie man erwarten könnte, eine Auseinandersetzung mit Marx' Schrift Zur Judenfrage, in der diese als "die Frage von dem Verhältnis der Religion zum Staat, von dem Widerspruch der religiösen Befangenheit und der politischen Emanzipation"(4) nicht als ethnische oder biologische, sondern als politisch-soziale Frage gestellt wird. Neffe, der die "gesellschaftliche Rolle" (S. 156) des Judentums bei Marx an anderer Stelle anerkennt, bezeichnet es nun zwar als "knifflig" (S. 347), Marx als Sohn jüdischer Eltern, die zum Christentum konvertierten, über solche begriffliche "Leisten zu schlagen", tut es aber dennoch: Marx sei "genauso Antisemit wie Macho oder Frauenausbeuter: aus heutiger Sicht ein klarer Fall, in seiner Zeit ein Mann des Mainstreams" (S. 347). Damit wird auch Marx nach deutschen Geistesgrößen wie Martin Luther und Johann Sebastian Bach im Handstreich das Stigma des Antisemitismus angeheftet.

Bei der salopp formulierten Antisemitismus-Frage geht es allerdings weniger um deren Beantwortung als vielmehr um die Intention, Kommunismus als "ein religiös motiviertes Projekt" (S. 346) zu beschreiben und die Gemeinsamkeit von Marxismus und Christentum, "erst von Nachfahren geschaffen" (S. 353) worden zu sein, zu konstatieren. Marx' Biografie bietet sich plötzlich als "biblische Erlösergeschichte" (S. 350) an, brachte doch der Porträtierte "der Menschheit das Narrativ zur Selbstbefreiung [...] inklusive Erlösung von Not, Ungerechtigkeit, Staat und Religion" (S. 350). Das Manifest der Kommunistischen Partei, im Revolutionsjahr 1848 veröffentlicht und das Zittern "der herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution"(5) antizipierend, ein "Narrativ zur Selbstbefreiung"? Man wundert sich! Neffes Biographie setzt deshalb in Marx' Brüsseler Exil im Revolutionsjahr 1848 als "archimedischem Punkt" (S. 35) ein, um herauszustellen, dass man von Marx am wenigsten lernen könne, "wie man Revolutionen macht" (S. 23). Er nimmt Marx' berühmtes Zitat von Revolutionen als "Lokomotiven der Geschichte", wertet es als revolutionierten Revolutionsbegriff (S. 147), reduziert es aber tatsächlich in seinem Fokus, der im ursprünglichen Kontext den Menschen in den Klassenkämpfen seiner Zeit, konkret in Frankreich 1848/50, als Subjekt der Geschichte betrachtete.

Was die Lektüre des materialreichen Bandes, abgesehen von seinem denunzierenden Ansatz, zu einem schwer verdaulichen Akt macht, ist der reißerische Umgang mit Marx' Werk, die effektheischende Auslegung seiner Gedanken ("Das Kapital - eine Schauergeschichte" usw.), der überbordende Hang zur Aktualisierung, selbst dort, wo man keinen Wink mit dem Zaunpfahl brauchte, und die das Schreiben bestimmende Intention, Marx "sozialistischen Menschen" oder "irgendwelchen Linken im Westen" (S. 388) abspenstig zu machen. Neffe wird nicht müde, Marx als "Freiheitsverfechter" zu feiern und ihn gegen sozialistische "Freiheitsverächter" (S. 88) auszuspielen. Der Anspruch, Marx zu entideologisieren, produziert neue Ideologeme. Da ist vom "Gehirntraining im Großprojekt der sozialistischen Volksbildung" die Rede, dessen "Kopfbeton" "Betonköpfe" erzeugte oder vom "sozialistischen Kaderdogmatismus" (S. 143), in dem Marx' Frühschriften aufgrund fehlender ideologischer Passgenauigkeit keinen Platz hatten. Es wird auf die DDR-Ausgabe der "Marx-Engels-Werke" (MEW) als faktisch jahrzehntelang einzigem Zugang zu Marx' Werk verwiesen, die ein verfälschtes Bild bot und nun von der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), "die sich um wissenschaftliche Unbestechlichkeit bemüht" (S. 88), abgelöst werde. Ist die Notwendigkeit einer historisch-kritischen Ausgabe unbestritten, so erweist sich diese Passage als vertrackt, stützt sich doch Neffes Biographie in weiten Teilen auf die in der DDR verlegten MEW. Neffe bedient alle gängigen Sozialismus-Klischees und übersieht, dass viele Menschen dort nach dem Zweiten Weltkrieg an das Sozialismus-Projekt als Alternative zur "Inhumanität der kapitalistischen Lebensform"(6) glaubten und der Alltag wie die Auseinandersetzung mit Marx im real existierenden Sozialismus widersprüchlicher und vielschichtiger verliefen.

Wenn Neffe allerdings Marx' Mehrwerttheorie ausbreitet, um zu konstatieren, "Gewinner und Verlierer der heutigen internationalen Weltordnung" seien in der Gegenwart "kaum als Gruppen festzumachen" (S. 146), dann bleibt angesichts der namentlich bekannten Top-20-Milliardäre der Welt, angesichts der Verelendung in der Dritten Welt, der nicht abreißenden Flüchtlingsströme, der Zahl der Hartz-IV-Bezieher im eigenen Land, Kinderarmut und -arbeit - wenngleich letztere in Bangladesch oder Indien geleistet wird - nur Unverständnis. Das Marx'sche Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, nach dem "die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol" zugleich "Akkumulation von Elend [...] auf dem Gegenpol"(7) bedeutet, ist keineswegs außer Kraft.

Von Neffes "Narrativ zur Selbstbefreiung" ist es schließlich nur ein Schritt, Marx als "Künstler" (S. 566) und sein Leben als "Künstlerbiografie" (S. 478) zu etablieren. Das erklärt zwar die "Schauergeschichte" vom Kapital, geht aber an Marx' Lebensleistung, seiner akribischen wissenschaftlichen Arbeit, der - wie Quante richtig bemerkt - bereits eine "interdisziplinäre Forschungsstrategie"(8) eingeschrieben war, vorbei und nimmt ihr die revolutionäre Sprengkraft, die Marx lange vor der Zeit des real existierenden Sozialismus im restaurativen Preußen zur unerwünschten Person und zu einem staatenlosen Flüchtling werden ließ. Quante weist in seinem Band darauf, dass Marx in Preußen eine akademische Karriere aus politischen Gründen versagt war. Er warnt vor einem übertrieben "aktualisierenden Zugriff" (S. 12) auf Marx' Werk und setzt "kritisches Bewusstsein, Bildung und Solidarität" (S. 11) dagegen. Sein Ansatz, Marx' Kritik der politischen Ökonomie als philosophische Konzeption und seine Kapitalismuskritik als "philosophische Anthropologie" zu interpretieren, die "implizit die Grundzüge einer Ethik des für Menschen angemessenen Lebens enthält" (S. 85), wendet das Marx'sche Theorem von der "Geschichte aller bisherigen Gesellschaft" als einer "Geschichte von Klassenkämpfen"(9) in ein Reformmodell, in dem es letztlich "um Mindeststandards" geht, "von denen aus die Menschen ein autonomes und gutes Leben führen können."(S. 102/103) Angesichts der Tatsache, dass derzeit eine Auswanderung der Erdbewohner in Richtung Mars vielen Menschen als Zukunftsszenario realistischer erscheint als eine Revolution, ist Quantes aus Marx' Philosophie gewonnene Idee eines gelingenden solidarischen Miteinanders ein Angebot, das den "Traum einer solidarischen Gesellschaftsordnung" (S. 100) fortschreibt. Wenn Karl Marx 1880 in seinem Interview mit John Swinton von The Sun auf die Frage "Was ist" als Antwort gab: "Kampf", dann konnte er wohl keine kürzere Quintessenz seines Lebens ziehen. Sie stimmt einmal mehr mit dem Blick auf seine theoretische Hinterlassenschaft.


Anmerkungen:

(1) Nienhaus, Lisa: Er ist wieder da. In: DIE ZEIT, 2017, Nr. 5, S. 19.
(2) Zit. n. Neffe, Jürgen: Marx. Der Unvollendete. München 2017, S. 86.
(3) Quante, Michael: Der unversöhnte Marx. Die Welt im Aufruhr. Münster 2017, S. 21.
(4) MEW. Bd. 1. Berlin 1976, S. 349.
(5) MEW. Bd. 4. Berlin6 1972, S. 493.
(6) Quante, a.a.O., S. 94.
(7) MEW. Bd. 23, Berlin 1968, S. 675.
(8) Quante, a.a.O., S. 106.
(9) MEW. Bd. 4. Berlin6 1972, S. 462.


Jürgen Neffe
Marx. Der Unvollendete
C. Bertelsmann Verlag
München 2017
ISBN: 978-3-570-10273-2
656 Seiten
28,00 Euro

Michael Quante
Der unversöhnte Marx. Die Welt in Aufruhr
mentis Verlag
Münster 2018
ISBN: 978-3-95743-120-2 (Print)
ISBN: 978-3-95743-765-5 (E-Book)
115 Seiten
12,90 Euro

Karl Marx. Das Kapital
Hg. v. Rita Müller/Mario Bäumer
Verlag der Stiftung Historische Museen Hamburg
Hamburg 2017
ISBN: 978-3-947178-02-5
160 Seiten
19,90 Euro

26. April 2018


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