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REZENSION/025: Nino Haratischwili - Die Katze und der General (SB)


Nino Haratischwili

Die Katze und der General

von Christiane Baumann


Ein wenig "Dallas", aber eine große Geschichte.
Zu Nino Haratischwilis Roman Die Katze und der General

Nino Haratischwili ist schon lange keine Unbekannte mehr. Die gebürtige Georgierin lebt in Hamburg und hat sich sowohl mit ihren Romanen als auch als Theaterautorin sowie Regisseurin einen Namen gemacht. Mit ihrem 2014 erschienenen Familienepos Das achte Leben (Für Brilka) landete sie einen Publikumserfolg. Bereits ihr Debütroman Juja schaffte es 2010 auf Anhieb auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. In diesem Jahr wurde ihr aktueller Roman Die Katze und der General auf die Shortlist, die Liste der letzten sechs Favoriten, gesetzt. Das 700 Seiten umfassende Werk ist alles andere als leichte Kost.

Die Katze und der General handelt vom Ersten Tschetschenien-Krieg, der 1994 begann, und führt den Leser zunächst in ein entlegenes Dorf im Nordkaukasus, in dem Nura, ein siebzehnjähriges Mädchen vom Aufbruch in ein neues Leben träumt. Sie will wie ihr Vater die engen Grenzen ihres Auls, in dem noch das "jahrhundertealte Gesetz der Wainachen" (27) gilt, durchbrechen. Die emanzipierte Russin Natalia, eine Lehrerin, die mit ihrem Mann durch die Kaukasus-Dörfer zieht und dort die Kinder unterrichtet, um "'Denkanstöße jenseits der herrschenden Norm'" (26) zu geben, hat sie "infiziert". Nura will Natalias Vermächtnis erfüllen und "unbeirrt ihrem Selbst" (56) folgen. Sie begehrt gegen die Adat-Gesetze auf, gegen jenes uralte ungeschriebene Recht, das neben der staatlichen Gesetzgebung das Zusammenleben in den abgeschiedenen Kaukasus-Dörfern regelt. In diesem Kosmos gilt noch das Recht auf Blutrache und junge Mädchen werden nach wirtschaftlichen Erwägungen verheiratet. Nura lehnt das obligatorische Kopftuch ab und will schon gar nicht heiraten. Doch der Krieg macht ihre Träume zunichte. Nura wird durch russische Soldaten brutal vergewaltigt und getötet. Das ist der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, um den das Erzählen kreist.

Einer der Beteiligten an diesem Verbrechen ist "der General", der einst auch von einem anderen Leben träumte, aber von seiner Mutter in die militärischen Fußstapfen seines Vaters getrieben wurde. Der Traum vom Literatur- und Kunststudium zerplatzte. Stattdessen landete er im Nordkaukasus, im Tschetschenienkrieg. Dieser Krieg verändert alles. Zurückgekehrt baut sich der General ein Wirtschaftsimperium auf, das ihm erlaubt, nach eigenen Gesetzen zu leben und dabei über Leichen zu gehen. Dem General und der Russenmafia auf der Spur ist der deutsche Journalist Onno Bender, der als "die Krähe" firmiert, was mit dem griechischen Koronis-Mythos erklärt wird, in dem sich mit der Krähe das Motiv des Verrats verbindet. Onno hat sich mit seiner investigativen Kriegsberichterstattung einen Namen gemacht. Seit er 1998 erstmals in Russland war und die Ablösung des "Homo sovieticus" durch den "Homo oligarchus" erlebte, wurde das russische Chaos nach der Perestroika zu seinem "Goldfieber" (131). Er will die Machenschaften des Generals, seine Verstrickung in den Mord an Nura, enthüllen und sucht nach dessen Achillesferse. Diese findet er in dessen blutjunger und schöner Tochter Ada, die sich in ihn verliebt, aber schließlich, überzeugt von seinem Verrat und der Schuld ihres Vaters, aus dem Leben geht. Adas Tod wird zum Auslöser der Abrechnung des Generals mit dem Ziel der "Wiederherstellung der Gerechtigkeit" (115).

Wie in einem Drama werden die Rollen verteilt. Die wichtigsten Figuren sind der General und die Schauspielerin Siselia, die aus Georgien stammt, die psychische Zerstörung ihres Vaters im Abchasien-Krieg erlebte und zur "Katze" wurde, "mit der Fähigkeit ausgestattet, auch bedrohliche Situationen zu überleben." (152) "Die Katze", die Nuras Zwillingsschwester sein könnte, soll deren Rolle in einem Video des Generals übernehmen. Katze braucht Geld für ihre nach Deutschland geflüchtete Familie und befindet sich zudem aufgrund der Trennung von ihrem Geliebten "R." in einer Identitätskrise. Somit kommt ihr das Angebot des Generals gelegen. Es bedeutet Aufbruch ins Ungewisse, doch die lukrative Rolle weckt ihr Misstrauen, denn es ist ein "Spiel, dessen Regeln sie nicht kannte" (304). Es wird zu einem Spiel um Leben und Tod. Der "Prolog" des Romans erinnert an die griechische Tragödie, deren bedeutendster Dichter Sophokles mit seiner Antigone zum Zitatengeber wird. Die sich dem Prolog anschließenden "Splitter" ähneln den antiken "Epeisodia", den Schauspielerszenen, die vom General/Malisch, der Katze und der Krähe bestritten werden. Die Figuren erleben den Krieg als schicksalhaft. Es geht um Schuld und Sühne und um die Verantwortung des Einzelnen, sich dieser im Konflikt mit der Gesellschaft zu stellen.

Schon die dem Roman vorangestellten Verse von Michail Lermontow aus dem Kosakischen Wiegenlied weisen auf das das zentrale Thema, den Krieg. Erzählt wird vom Geborenwerden, um im Krieg zu sterben. Lermontow, der Sänger des Kaukasus, wird in mehrfacher Hinsicht im Roman zum Bezugspunkt. Der aus dem russischen Adel stammende, 1814 in Moskau geborene Lermontow studierte zunächst, entschied sich dann aber für eine Militär-Karriere. Doch Angepasstheit war Lermontows Sache nicht, weshalb er immer wieder in Konflikt mit der Obrigkeit geriet. Er stritt für Recht und Wahrheit und wurde von Zeitgenossen für die Wahrhaftigkeit seiner Dichtungen und seine "außerordentliche Naturtreue", wie Friedrich Bodenstedt, einer seiner deutschen Übersetzer, 1852 formulierte, gerühmt. Bekannt war Lermontow nicht nur für seine zahlreichen Affären, weswegen er immer wieder strafversetzt wurde. 1837 sorgte sein Gedicht auf den Duell-Tod Puschkins für Furore. In diesen Versen geißelte er Puschkins Tod als "Mord" und forderte vom Zaren Gerechtigkeit gegenüber der "Schlangenbrut", die diesen "Mord" feiern würde, womit er die Gesellschaft für die Tat verantwortlich machte. Lermontow wurde daraufhin in den Kaukasus verbannt, wo er in den ersten Kaukasischen Krieg geriet, aber zugleich das Thema seiner Dichtungen fand: die Landschaft und Menschen des Kaukasus. Auch sein Roman Ein Held unserer Zeit, auf den Haratischwili weist (238), spielt dort. Ihre opulenten Landschaftsbilder als Spiegel der inneren Verfassung der Figuren sind ebenso von Lermontow inspiriert wie die erzählerische Konstruktion ihres Romans. Lermontows Ein Held unserer Zeit liefert ihr gewissermaßen die Blaupause. In diesem Roman wird das Geschehen in fünf Novellen aufgerollt, die sich um den Helden Petschorin ranken, dessen Geheimnis und Persönlichkeit aus dem Blickwinkel verschiedener Figuren beleuchtet werden, wobei auch die Innenschau des Helden einbezogen wird. In dieser mehrfachen Spiegelung entsteht ein Puzzle aus Sichtweisen auf den Helden, das zudem die zeitliche Chronologie sprengt. Ganz ähnlich ist Haratischwilis Roman angelegt, der um das Geheimnis des Generals kreist und die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven rekonstruiert, wobei das Erzählen der Figuren immer wieder abrupt abbricht und der Faden an anderer Stelle, die Chronologie zerstörend, neu aufgenommen wird. Zu den wechselnden personalen Erzählern treten die beiden Zeitebenen des Romans, der Tschetschenien-Krieg 1994/95 und die Abrechnung im Jahr 2016, auf die die Kapitelüberschriften weisen. Durch das erzählerische Konstrukt verschränkt sich die Innenschau der Figuren wie ein Regulativ mit den unterschiedlichen Außensichten. Dieses Erzählen verlangt in seiner Verquickung und Verschränkung vom Leser aber auch einen langen Atem, da es erst in der Mitte des Romans Fahrt aufnimmt, wenn sich die losen Fäden sukzessive miteinander verknüpfen.

Ein geschickter Kunstgriff ist die Aufspaltung der Figur des Generals in den jugendlichen Malisch, der erst im Krieg zum "General", zu einer anderen Persönlichkeit wird. Der sensible, kunst- und literaturversessene Malisch wandelt sich zum knallharten Geschäftsmann Alexander Orlow, zu einem der reichsten Männer Russlands, der skrupellos seine Interessen durchsetzt. Erst nach und nach erschließt sich dem Leser die gemeinsame Identität der beiden Figuren, die quasi nebeneinanderstehen. Der Identitätswandel ist somit im Figuren-Tableaus verankert, allerdings nicht in der erzählerischen Gestaltung. Das wird insofern zum Problem, als Orlows Persönlichkeitsveränderung nach dem Mord an Nura gewissermaßen per Knopfdruck geschieht, was wenig glaubwürdig erscheint. Er mutiert zum J.R. Ewing-Verschnitt, der am Ende Gerechtigkeit einfordert. Die Figur Orlows weist auf Grundsätzliches im Schreiben Haratischwilis. Figuren werden gern mal als "á la Lermontow" (237) mit einem "Stempel" versehen, ein typisches Kennzeichen trivialer Literatur. Historische Fakten zum Tschetschenien-Krieg sind nicht gestaltet, sondern werden wie aus einem Lexikon referiert. Gelungene Milieustudien wie die aus der Berliner Migrantenszene stehen neben Plakativem. So scheint die Schilderung der Grunewald-Villa Orlows einer Dallas-Folge zu entstammen. Neben packenden Landschaftsbildern ("Der Nebel zog sich in Windeseile über der Schlucht zusammen. Schwer und leise war er in die Dörfer gekrochen und hatte mit seinem endlosen Maul alle und alles verschluckt." S. 9) findet sich sprachlich aufgesetzt, deplatziert, ja störend Wirkendes, so, wenn ein Mädchen im Liebesakt "geschmeidig und gelenkig" ist, "als wäre sie aus Knetmasse" (125), Ada als "extrem kulturaffin" (236) bezeichnet wird, obwohl ihre Interessen das bereits deutlich machen, oder Katze ihrem Großvater zuschreibt, "die hedonistischen Seiten des Lebens" (251) geliebt zu haben, was seinem geschilderten Lebenswandel unschwer zu entnehmen ist. Alles wird auf eine griffige Formel gebracht. Die Sprache eröffnet keine poetischen Räume, in die der Leser eintauchen kann. Es wird, bis in die mythischen Bezüge hinein, zu viel konstruiert, gesagt und nicht gestaltet.

Aber trotz aller Einwände ist es eine große Geschichte, die keinen Moment vergessen lässt, worum es geht: um die Brutalität und Sinnlosigkeit des Krieges, der Menschen vernichtet, physisch und psychisch, der nichts übrig lässt an Menschlichkeit, in dem die Liebe keinen Platz hat und der selbst als Vergangenheit niemals vergangen ist, weil er "in den Köpfen und Körpern der Menschen weiterging" (128). In dieser Welt, "in der man vor die Wahl gestellt wurde, entweder zum Mörder zu werden oder sich selbst eine Kugel in den Kopf zu jagen, in einer Welt, in der man vergewaltigte, weil sich die Möglichkeit ergab, gab es kein Richtig mehr" (538). Es sind die Kriege in Kroatien, Afghanistan, Abchasien und Tschetschenien, von denen der Roman erzählt und die die Überlebenden nie wieder loslassen.

Die Katze und der General ist zugleich ein bewegender Roman über die Nach-Perestroika-Ära, die die frühere Sowjetunion ins Chaos stürzte: "die Freiheit kam, und sie war blutig, roch rostig und war etwas, was die Menschen überforderte. Denn sie war teuer erkauft und kostete die meisten alles, was sie besaßen, und nicht wenige auch das Leben." (254) Statt Freiheit zu erleben, sind die Menschen im Roman an ihr Schicksal gekettet, wie Prometheus an den Kaukasus. Sie sind Getriebene, die Staaten entstehen und zerfallen, Kriege kommen und gehen sehen und als Flüchtlinge, "Fremde, Exilanten, Migranten" (309) heimatlos bleiben. Nach dem "verhassten Sozialismus" sorgt das "kapitalistische Glück" schnell für "Ernüchterung" (309).

Im Rückgriff auf die griechische Antike, in der der Krieg ein alltägliches Geschäft war, ist dem Erzählen Haratischwilis über den omnipräsenten Krieg in unserer Zeit eine Art Mantra eingewoben, das sich auf den Satz Willy Brandts bringen lässt: "Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts." Insofern ist ihr Roman eine wichtige Wortmeldung in einer Zeit, in der Präsidenten wie Trump nicht nur verbal aufrüsten und das größte Nato-Manöver seit dem Zweiten Weltkrieg wie Säbelrasseln klingt.

Nino Haratischwili
Die Katze und der General
Roman
Frankfurt a. Main, Frankfurter Verlagsanstalt 2018
764 Seiten,
30,00 Euro,
ISBN: 978-3-627-00254-1


7. November 2018


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