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REZENSION/027: Isabelle Lehn, Sascha Macht, Katja Stopka - Schreiben lernen im Sozialismus (SB)


Isabelle Lehn, Sascha Macht, Katja Stopka

Schreiben lernen im Sozialismus


Das Institut für Literatur "Johannes R. Becher"

von Christiane Baumann


"Kaderschmiede" oder "Dichterschule"? So einfach ist es nicht! Studie beleuchtet DDR-Literaturinstitut "Johannes R. Becher"

Nur wenig ist heute noch in der Öffentlichkeit über die "kleinste Hochschule der Welt" (533) und das erste und lange Zeit einzige Literaturinstitut im deutschsprachigen Raum bekannt, die DDR-Kunsthochschule "Johannes R. Becher", an der Schreibende das Diplom erwerben konnten. Insofern ist der Band Schreiben lernen im Sozialismus, der sich der Geschichte dieses einzigartigen und bislang in der Forschung kaum beachteten Instituts unter Einbeziehung von Dokumenten, Aktenbeständen und Erinnerungen widmet, längst überfällig. Bedeutende Namen, sowohl den Lehrkörper als auch die Studentenschaft betreffend, ranken sich um das Literaturinstitut, das im September 1955 in Leipzig gegründet wurde. Unter den Lehrkräften finden sich der Lyriker Georg Maurer und der Begründer des Malik-Verlages, der Autor und Publizist Wieland Herzfelde. Zu den prominenten Gastdozenten zählten der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der Philosoph Ernst Bloch oder der mit seiner LTI bekannt gewordene Romanist Victor Klemperer. Mayer-Schüler wie Friedrich Albrecht, Horst Nalewski oder Kurt Kanzog bestimmten maßgeblich die Ausbildung, die interdisziplinär angelegt war und Dozierende wie den renommierten Neurowissenschaftler Armin Ermisch, den Sprachwissenschaftler Gerhard Helbig oder den Sexualwissenschaftler und Jugendforscher Kurt Starke einschloss. Die Liste der Studierenden ist ebenso bemerkenswert. Zu nennen sind Fred Wander, Erich Loest, Kurt Bartsch, Werner Bräunig, Adolf Endler, Heinz Czechowski, Rainer Kirsch, Sarah Kirsch, Gerti Tetzner, Dieter Mucke, Günter Görlich, Gerhart Holtz-Baumert, Angela Krauß, Thomas Rosenlöcher oder Kerstin Hensel, um einige Namen zu nennen, die das Bild der DDR-Literatur mitprägten.

Die Untersuchung, die den inzwischen im Kontext von Studien zur Literatur der DDR gängigen "Feld"-Begriff von Pierre Bourdieu zum Ausgangspunkt nimmt, ohne ihn allerdings zu vertiefen, nähert sich der Geschichte des Instituts für Literatur (IfL) in chronologischen, thematischen und biographischen Quer- und Längsschnitten. Ziel ist es, kulturpolitische Einflussfaktoren, Organisationsstrukturen, Ausbildungskonzepte, Curricula und literaturästhetische Aspekte zu erhellen, die die Einbettung des Instituts in den "machtpolitischen Raum der DDR" (21) transparent und Fragen nach "einer sozialistischen Literaturästhetik" (20) diskutabel machen. Die Autoren verstehen ihre Arbeit auch als einen "Beitrag zur Untersuchung literarischer Begabungsförderung in der DDR" und als Grundlage für "Vergleichsstudien zur literarischen Ausbildungspraxis im vereinten Deutschland" (20-21). Dabei werden (kultur)-politische Zäsuren wie die Geheimrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 zu den stalinistischen Verbrechen, die I. Bitterfelder Konferenz 1959, das "Kahlschlagplenum" des ZK der SED 1965, der politische Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker und die einsetzende "Tauwetterperiode" 1971, die Turbulenzen um die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 und der Mauerfall 1989 als folgenreich gesetzt. Der hier nicht explizit genannte Mauerbau 1961 erweist sich in der historischen Überschau als ebenso einschneidend, ging er doch mit einer Veränderung im politischen Selbstverständnis, einer "regelrechte(n) Aufbruchstimmung" (235) unter Kulturschaffenden einher, die auch im IfL nicht ohne Resonanz blieb (231 ff.) und sich in der "Ankunftliteratur" und maßstabsetzenden Werken wie Christa Wolfs Der geteilte Himmel niederschlug.

Die Studie beschreibt die Anfänge des Instituts, das sich zunächst gegen Vorbehalte zu behaupten hatte. Dass es hierbei nicht nur um die "Lehrbarkeit der literarischen Meisterschaft" (31) ging, wie die Autoren herausstellen, sondern dass man ein Experiment wagte, für das es, abgesehen vom Moskauer Gorki-Institut, keine Vorbilder gab, ist nicht zu unterschätzen. Im Übrigen gehörte die Forderung Johannes R. Bechers, der als DDR-Kulturminister als einer der Skeptiker ins Feld geführt wird, nach einer abgeschlossenen Berufsausbildung letztlich zu den Zulassungsbedingungen. Schließlich ging es auch um Geld, denn man alimentierte die Ausbildung mit einem Stipendium von 500-600 Mark großzügig, was nicht zuletzt manchen Schreibenden bewog, sich zu bewerben.[1] Der Band entwirft ein differenziertes Porträt des Gründungsdirektors Alfred Kurella, dessen Agieren als "janusköpfig" (97) beschrieben wird, weil er klassenkämpferische Haltung mit Toleranz verband. Immerhin zeichnete er für die, wie nicht nur Adolf Endler betonte, "großartigste Bibliothek moderner Literatur" (143) verantwortlich. Kurellas konstatierte Orientierung auf bürgerlich-humanistische und proletarisch-revolutionäre Schriftsteller dürfte jedoch weniger seinem "bürgerlichen Bildungsideal" (96) als der offiziellen kulturpolitischen Linie geschuldet gewesen sein, die im Prozess der demokratischen Erneuerung nach dem Zweiten Weltkrieg auf das humanistische deutsche Kulturerbe rekurrierte, wie man im Manifest des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands (1945) nachlesen kann. In diesem Zusammenhang ist die im Band eingangs formulierte Behauptung, es sei in der Sowjetischen Besatzungszone um den Aufbau eines "sozialistischen Staat(es) der Arbeiter und Bauern" (11) gegangen, zu korrigieren. Hier schließt letztlich auch das Statut des Institutes von 1955 nahtlos an, das die "Entwicklung der zeitgenössischen deutschen Literatur im Geiste der fortschrittlichen Traditionen und Errungenschaften der deutschen und der Weltliteratur" (476) auf die Agenda setzte. Es ging nicht um sozialistischen Realismus oder um das retortemäßige Produzieren von Autoren aus den Reihen der Arbeiterklasse und Bauernschaft, wie der Band suggeriert, sondern um die Fortbildung von Schriftstellern und Literaturkritikern. Wird dieses Statut am Ende von den Autoren selbst als "weitgehend unideologisch" (476) bewertet, so erscheint es im Eingangskapitel ideologisch verbrämt, wenn vom "Vorhaben, junge Schriftsteller ausgerechnet an einem Literaturinstitut [...] in der Methode des sozialistischen Realismus zu schulen" (32), die Rede ist.

Schreiben lernen im Sozialismus - der Titel irritiert, weil er das Arbeitsfeld des IfL auf das dichterische Schreiben einengt und jene Aspekte, die das Volkskunstschaffen, die Volksbildung und Begabtenförderung betreffen, ausspart. Er ist letztlich konsequent, weil er auf die entscheidende Leerstelle des Bandes aufmerksam macht, die nur hätte geschlossen werden können, wenn die zahlreichen Fernstudiengänge sowie Förder- und Bildungsmaßnahmen des Instituts für Nicht-Berufsschriftsteller in die Überlegungen einbezogen worden wären. Dann wäre die Verankerung des IfL im Volkskunstschaffen, seine Vernetzung mit den Bezirkskabinetten für Kulturarbeit, mit den Arbeitsgemeinschaften junger Autoren des Schriftstellerverbandes und den Zirkeln schreibender Arbeiter bis zum DDR-Verlagswesen in den Fokus gerückt und damit ein Netzwerk zur Talentsichtung und Begabungsförderung, die der Band trotz erklärter Absicht nur bedingt erhellt. Dazu hätte es eines breiteren Ansatzes bedurft, der auch angenommene Positionen in Frage gestellt hätte. Zu nennen ist die Feststellung vom "Scheitern des Bitterfelder Weges" (243), der angeblich "ausgerufen" (219) wurde und aus Arbeitern und Bauern "große Schriftsteller" (56) machen wollte, wie unter Berufung auf Wolfgang Emmerich wiederholt konstatiert wird, eine Position, die inzwischen durch wissenschaftlich fundierte Publikationen widerlegt ist. [2] Bereits in den 1950er Jahren hatten sich Zirkel schreibender Arbeiter als Bewegung "von unten" formiert, was Anthologien belegen. Der Bitterfelder Weg als Programm nahm 1959 diese Entwicklung auf und zielte darauf, Werktätige aus bildungsfernen Schichten an Kunst und Literatur heranzuführen, zur Bildung und Persönlichkeitsentwicklung beizutragen und das bürgerliche Bildungsmonopol zu brechen. Die Losung "Greif zur Feder Kumpel! Die sozialistische Nationalkultur braucht dich!", die vom Schriftsteller und Institutsabsolventen sowie späteren Dozenten Werner Bräunig stammt, stellte bewusst nicht auf eine sozialistische Nationalliteratur ab. Die in der Studie konstruierte Verschränkung von Bitterfelder Programm und Ästhetik des sozialistischen Realismus unterstellt einen literar-ästhetischen Anspruch, der sich mit dieser Bewegung primär nicht verband, deren Wirkungsmächtigkeit die bis zur Wende rund 300 aktiven Zirkel schreibender Arbeiter jedoch bezeugen. Dass zur Durchsetzung des Bitterfelder Weges erstmals gesonderte Lehrgänge für schreibende Arbeiter und Zirkelleiter angeboten wurden und sich das Institut als "Förderstätte für schreibende Arbeiter im öffentlichen Bewusstsein" (219) zu etablieren suchte, ist folgerichtig. Es überrascht nicht, dass sich, wie die Autoren, feststellen, in der Geschichte dieser Institution wie in einem "Mikrokosmos" (186) gesellschaftliche, kulturpolitische und literarische Prozesse in der DDR widerspiegeln.

Dass die "Kunstautonomie" im sich wandelnden sozialen Gefüge der DDR, unter sich verändernden Produktions-, Vermittlungs- und Rezeptionsbedingungen, sich immer wieder neu zu behaupten hatte und behauptete, belegen die Untersuchungen des Bandes zu literarischen und kunsttheoretischen Abschlussarbeiten der knapp 1000 Absolventen, die als eigentliche Entdeckung gelten können. Sie offenbaren die Spannbreite im politischen und poetologischen Selbstverständnis der Studierenden, das von Systemkonformität aus Überzeugung über Angepasstheit bis zu offenem Widerspruch und zur Verweigerung reichte und von ästhetischem Pluralismus zeugt, was die Autoren zu der Feststellung führt, dass sich die "staatlich verordnete Konformität in der Unterrichtspraxis nicht aufrechterhalten ließ" (403). Damit wird einem in westdeutscher Geschichtsschreibung immer wieder reproduzierten Klischee widersprochen. Auch die Erkenntnis, dass sich die Institutsgeschichte nicht auf eine "kulturpolitische Konfliktgeschichte" (547) reduzieren lässt, eröffnet eine differenzierte Sicht auf das Literaturinstitut, das Zeiten der Zwangsexmatrikulationen, nicht nur, aber vor allem aus politischen Gründen wie bei Helga M. Novak oder Andreas Reimann, erlebte, aber seinen besonderen "Wert" als "Begegnungsstätte und Ausgangspunkt für zahlreiche dauerhafte literarische Beziehungen, Freundschaften und Netzwerke unter DDR-Autoren" (76) erhielt. Manch Exmatrikulierter, wie Reimann, aber auch Dieter Mucke und Martin Stade, kehrte später an das Institut zurück. Wenn schließlich in der Studie konstatiert wird, dass Lehrverfahren und künstlerische Ausbildungsziele des IfL sich von heutiger Ausbildungspraxis nicht unterscheiden würden, dann lässt das die Schlussfolgerung zu, dass das erste Literaturinstitut im deutschsprachigen Raum qualitative Maßstäbe setzte, die noch heute Gültigkeit haben. Dieses Institut, dass auf nichts Bewährtes zurückgreifen konnte, fand offenkundig in einem Lern- und Lehrprozess zu seinem fachlichen Profil, das sich in der Auseinandersetzung mit normativen und ideologischen Zwängen formte und zu behaupten wusste.

Die Frage "Kaderschmiede" oder "ambitionierte Dichterschule" (549) können die Autoren am Ende nicht beantworten, weil die gesellschaftliche Realität in der DDR und damit auch am Literaturinstitut komplexer und vielschichtiger war als landläufig dargestellt und sich nicht in plakative Termini und Klischees pressen lässt. Die im Band dokumentierte Geschichte der "Abwicklung" des Instituts kann als westdeutscher Musterfall ideologischer Kahlschlagpolitik gelten, wie sie in der Nachwendezeit an DDR-Universitäten und Hochschulen an der Tagesordnung war, was letztlich eine produktive, kritische Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit ebenso verhinderte wie eine Wiedervereinigung auf Augenhöhe. Wer dazu im Literarischen nach Aufschlussreichem sucht, lese den jüngst erschienenen Roman Verwirrnis von Christoph Hein, der sich übrigens 1991 mit anderen prominenten Schriftstellern und Intellektuellen, darunter Elfriede Jelinek, Volker Braun, Lutz Seiler oder Adolf Muschg, um den Erhalt des Becher-Instituts bemühte. Die materialreiche, 600 Seiten umfassende Studie Schreiben lernen im Sozialismus ist dort, wo sie sich unvoreingenommen auf das gesichtete Material einlässt, ein Gewinn, wenngleich ein erster Baustein zur Geschichte des Instituts.


Anmerkungen:
[1] Ein einkommensunabhängiges Grundstipendium von 200 Mark wurde in der DDR erst Ende der 1970er Jahre eingeführt.
[2] Vgl. Anne Sokoll, Die Zirkel schreibender Arbeiter in der DDR. Geschichte, Ästhetik und Kulturpraxis einer Bewegung. (Diss.) Düsseldorf 2016; Rüdiger Bernhardt: Vom Schreiben auf dem Bitterfelder Weg. Die Bewegung schreibender Arbeiter - Betrachtungen und Erfahrungen. Essen 2016.


Isabelle Lehn, Sascha Macht, Katja Stopka
Schreiben lernen im Sozialismus
Das Institut für Literatur "Johannes R. Becher"
Wallstein Verlag, Göttingen 2018
429 Seiten
34,90 Euro
ISBN: 978-3-8353-3232-4

14. Dezember 2018


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