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REZENSION/049: Christoph Hein - Guldenberg (SB)


Christoph Hein

Guldenberg

von Christiane Baumann


Lackmustest in Guldenberg.
Christoph Heins aktueller Roman seziert messerscharf deutsches Kleinstadtmilieu

Das Gedächtnis ist die "stachlige Kehrseite unseres Lebens" (247), wie es in Heins neuem Roman heißt, denn die Erinnerungen bleiben. Bad Guldenberg fungiert im Schaffen des Autors als eine Art historisches Gedächtnis, als jener Ort, an dem die Schlacken der Geschichte exemplarisch freigelegt werden. Das begann 1985 mit Horns Ende und setzte sich 2004 mit dem Roman Landnahme fort. In Heins neuem Roman wird nun der Ort titelgebend. In der mitteldeutschen Dübener Heide gelegen, kann sich Bad Guldenberg inzwischen sehen lassen: sanierte Straßen, Fassaden und Dächer, eine zum Mulde-Heilbad gehörende Wellness-Anlage am Stadtrand - all das wurde mit Fördermitteln von Land, Bund und EU gebaut und schön hergerichtet. Farbe, Geschmack und Geruch der Stadt, wie es eingangs heißt, haben sich dadurch verändert. Doch hinter der Fassade ist alles beim Alten. Es gibt noch immer "die Gleichgültigkeit der Bewohner füreinander" (7), von der man bereits in den Vorgänger-Romanen lesen konnte. Neu ist eine "auffällige Verunsicherung" (7), die die Menschen der Stadt, die uns teils als frühere Romanfiguren bekannt sind, ergriffen hat. Der Grund sind die im Alten Seglerheim untergebrachten minderjährigen Migranten aus Syrien und Afghanistan. Sie sind "Fremde", die von den Guldenbergern nahezu unisono abgelehnt, ausgegrenzt, kriminalisiert und tätlich angegriffen werden.

Ähnliches erlebten in Horns Ende andere "Fremde", die Sinti und Roma, die aus der Stadt systematisch vertrieben wurden. In Landnahme richteten sich Ablehnung und Hass gegen schlesische Übersiedler, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die Stadt kamen und zu denen Bernhard Haber gehörte, dessen Lebensweg der Roman ausbreitete und dem wir in Guldenberg wiederbegegnen. Mit dem nun vorliegenden Band spannt Hein den zeitlichen Bogen von der Nazizeit bis in die deutsche Gegenwart des Jahres 2017. Das Einstiegskapitel nimmt explizit auf beide Vorgänger-Romane Bezug und betont die Kontinuität des Erzählten, das weder singulär noch zufällig ist, sondern strukturelle Ursachen hat. Dass es um diese Kontinuität geht, unterstreicht die Abwertung der Migranten durch Guldenberger Bürger, selbst durch den Vertreter der Ordnungsmacht, die jene als "Zigeuner" (30) und als "Neger" (66) bezeichnen. Das wirkt beim Lesen mitunter plakativ, weist aber in der Überhöhung auf das Symptomatische und Exemplarische der Vorgänge und auf ihre Historie. In einem Gespräch zu seinem Roman Horns Ende äußerte Hein 1991, dass es im Roman um die "Art" gehe, wie die Stadt auf die Sinti und Roma reagiere. Die "Ausländer" seien "wie Lackmuspapier", an ihnen könne man "den Zustand der Deutschen" erkennen. Sie seien gewissermaßen ein "Testfall" (Der Tagesspiegel, 12. Mai 1991).

Betrachtet man den dritten "Lackmustest" in Guldenberg so sind dessen Befunde ebenso ernüchternd, wie die der vorausgegangenen Romane. Fremdenfeindliche Übergriffe werden durch Behördenvertreter ignoriert und heruntergespielt, da sie die kleinbürgerliche Gemütlichkeit stören und schlimmstenfalls der Karriere schaden. Es funktionieren die gleichen Mechanismen der Ignoranz, des Schweigens und der Verdrängung, die schon Jahrzehnte zuvor den Nährboden für Intoleranz und Ausländerfeindlichkeit bildeten und in die Gaskammern der Nazis führten beziehungsweise in Überfälle, Brandanschläge und - in Landnahme - in einen Mord mündeten. Jene, die sich für die Migranten engagieren, die menschlich handeln und den traumatisierten Jugendlichen helfen wie der Bürgermeister, der Pfarrer und die Betreuer im Seglerheim, werden selbst zur Zielscheibe fremdenfeindlicher Attacken, denen der Staat und seine Behörden tatenlos zusehen. Dem Pfarrer Guldenbergs, der den "Weg des Zerwürfnisses und der Zwietracht" offenlegt und eine "brüderliche Gesinnung" (52) anmahnt, wird unmissverständlich die Versetzung nahegelegt. Bernhard Haber, einst ein Übersiedlerkind, das Ablehnung und Hass in allen Spielarten zu spüren bekam, hat Denkart und - strukturen, denen er einst als Opfer ausgesetzt war, verinnerlicht, so dass er problemlos in die Täterrolle wechseln kann. Inzwischen in Guldenberg zu Geld und Macht gekommen, folgt sein Handeln der repressiven Denkweise seiner einstigen Peiniger. Waren es im Roman Horns Ende, der in der DDR der 1950er Jahre spielte, die Perversionen stalinistischer Ideologie und Machtausübung, die Horn in den Selbstmord trieben, so wird in Guldenberg die Diktatur des Geldes in all ihren Auswüchsen durchgespielt. Der in Landnahme gegründete Karnevalsverein Grün-Gold, eine Kaste der Wirtschaftsmagnaten Guldenbergs, deren Präsident Bernhard Haber wurde, hat seinen Einfluss weiter ausgebaut und den Staffelstab bereits an die Erben weitergegeben. Kunst und Kultur spielen nur insoweit eine Rolle, als sie in Marketingstrategien eingebunden werden können und somit profitabel werden. Korruption und Vetternwirtschaft sind an der Tagesordnung. Es sind die "Donnerstag-Skatbrüder", die in Guldenberg das Sagen haben und mit denen auch eine ganze Generation Frauenemanzipation auf dem Müllberg der Geschichte gelandet ist. Zu ihnen gehört Sigurd Kitzerow, der die Guldenberger Ablehnung gegenüber den schlesischen Vertriebenen in Landnahme auf den Punkt brachte: "Sie besaßen nichts und ließen sich alles von der Stadt schenken, sie lebten auf unsere Kosten." Wie sich Bilder und Parolen gleichen.

Hein hat in seinem neuen Roman diese Bilder wie Film-Szenen in einer fast durchgängig dialogischen Struktur aneinandergereiht. Das Gesamtbild muss der Leser aus der Vielfalt der Perspektiven und Standpunkte gewinnen. Dabei sind in einzelnen Szenen, zum Beispiel in der Kneipe, die Personen den Dialogen mitunter kaum zuzuordnen. Er verzichtet auf Nachnamen ebenso wie darauf, Figuren aus früheren Romanen, wie Sigurd Kitzerow einzuordnen. Wer sie aus den Vorgänger-Romanen kennt, dem eröffnen sich tiefere Zusammenhänge, die Entwicklung der Figur und die Fortsetzung ihrer Lebensgeschichte. Doch auch bei nicht eingeweihten Lesern dürften diese Szenen "funktionieren", weil sie Charakteristisches wiedergeben beziehungsweise einen bestimmten Typus, den des Durchschnitts-Kleinbürgers, repräsentieren.

Mit Sigurd Kitzerow begegnen wir in Guldenberg einem der Erzähler aus dem Roman Landnahme. Mit Gertrude Fischlinger greift Hein auf eine der fünf Erzählerfiguren aus Horns Ende zurück. Mit ihren 98 Jahren hat Gertrude nunmehr ein biblisches Alter erreicht. Sie ist Zeugin und Gedächtnis eines Jahrhunderts und erscheint ins Mythische überhöht. Gertrude Fischlinger redet mit den Toten, die keine Ruhe finden, weil "ihnen die Stadt auf der Seele liegt. Guldenberg quält sie über den Tod hinaus" (74). Es ist das von den Guldenbergern verübte Unrecht, das sie nicht zur Ruhe kommen lässt. Es ist ihr Denken, das sich aus Sicht Gertrudes in ihren Häusern "niedrig und geduckt" (74) widerspiegelt. Gertrude ist nun eine "Schwester" Marlenes aus Horns Ende, jener psychisch Kranken, die denunziert wurde, den Hitlerfaschismus durch das Opfer ihrer Mutter überlebte und die unverstellt auf den Wahnsinn der Welt blickt. Gertrude ist Mahnerin wider das Vergessen. Das Leugnen und Verdrängen von sozialen Demütigungen, Erfahrungen und Fakten führt im Privaten wie im Sozialen zu Albträumen und in die Katastrophe oder wie im zitierten Film La Habanera in den Tod.

Mythologisches ist nicht nur in der Figur Gertrude Fischlingers angelegt. Die mythologischen Bezüge des Romans erinnern immer wieder Menschlichkeit. In der Mitte des Romans kulminiert diese Ebene in der Konfrontation des Pfarrers mit Walter Lichtenberger, der als Stadt- und Pfarrgemeinderat gegen die Unterbringung der minderjährigen Migranten in Guldenberg massiv Front macht. Als Lichtenberger mit dem Hinweis auf den Propheten Habakuk auf das vermeintliche Unrecht weist, das den Guldenbergern durch die Migranten entsteht, beruft sich der Pfarrer auf die Apostelgeschichte und mahnt zu Toleranz und Versöhnlichkeit gegenüber Menschen in Not und anderer Glaubensgemeinschaften. Nicht zufällig wird in diesem zentralen Kapitel die Geschichte der Jüdin Malka Goldt eingeflochten, die 1939 mit ihren Eltern aus Nazideutschland floh, sich aber später ebenso weigerte, nach Israel, das den palästinensischen Nachbarn "brutal unterdrücke, rechtlos mache und ihm völkerrechtswidrig sein Land raube" (149), auszuwandern. Mythische Züge trägt auch das Opferfestessen der zwölf Migranten im Seglerheim, das abrupt endet, weil die Jugendlichen wegen haltloser Vorwürfe mit Polizeigewalt zu einer Gegenüberstellung auf das Revier gebracht werden. Dass diese jungen Menschen, die ihre Heimat, ihre Eltern und damit ihre Wurzeln verloren haben, untereinander verfeindet sind, und ihre teils unrealistischen Wünsche und Ansprüche, die ausgebliebene Integration, Perspektivlosigkeit und Langeweile zu Aggressivität und Gewalt führen, gehört ebenso zur Wahrheit des Romans und unterstreicht dessen Komplexität. Am Ende, nach der Abreise der Migranten und der Schließung des Seglerheims, werden es die fünf Betreuerinnen und Betreuer sein, die ihre Arbeit mit einem letzten gemeinsamen Essen des syrischen Gerichts "Maqclube" beschließen. Sie, die zur untersten sozialen Schicht unserer Gesellschaft gehören, erwartet aufgrund ihrer Arbeit mit den unbegleiteten minderjährigen Syrern und Afghanen nicht nur Ausgrenzung, sie gehen in eine ungewisse Zukunft, i n Arbeitslosigkeit oder schlecht bezahlte Jobs, womit Hein nachdrücklich auf die sozialen Ursachen, die hinter dem Erzählten stehen, weist.

Heins Roman ist ein nachdrückliches Plädoyer, sich bequemem Vergessen entgegenzustellen. Der Roman-Titel unterstreicht das Exemplarische der Vorgänge, die sich in anderen deutschen Kleinstädten in ähnlicher Form wiederfinden ließen. Guldenberg ist eine beeindruckende Milieustudie, die auch im Sprachlichen in ihrer Differenziertheit mit Kneipenjargon, Bürokratendeutsch und mythischem Erzählgestus überzeugt. Ihre Tiefgründigkeit erschließt sich insbesondere im Kontext mit den Vorgänger-Romanen. Gnadenlos werden die Mechanismen kapitalistischer Profitmaximierung seziert, die, gestützt von Politik und Staat, alle Lebensbereiche, Kultur, Bildung, das Gesundheitswesen bis zur Pflege, durchdrungen haben. Das ist keine freundliche Lektüre, aber es lohnt sich.

Christoph Hein
Guldenberg
Roman
Berlin, Suhrkamp Verlag 2021
285 Seiten
ISBN 978-3-518-42985-3

13. September 2021


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