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SPRÜNGE/003: Ein Handwerker verändert literarische Maßstäbe (SB)


Die Erfindung Johannes Gutenbergs

beeinflußt die Entwicklung der Literatur


Literarische Gewohnheiten und Maßstäbe veränderten sich in atemberaubender Geschwindigkeit und unerwarteter Richtung, als der Patriziersohn und Schreiber Johannes Gutenberg 1447 trotz diverser wirtschaftlicher Rückschläge mit Beharrlichkeit ein neues Handwerk marktfähig machte: den Buchdruck mit beweglichen Lettern. Zu seiner Zeit gab es nur von Hand kopierte Bücher, und keine europäische Bibliothek besaß mehr als 500 Werke, die oft mit Ketten an den Regalen befestigt waren, um sie vor Diebstahl zu schützen. Kein Wunder also, daß die Bücherproduktion und damit die Konservierung und Verbreitung von Literatur aller Art von nun an einen gewaltigen Sprung machen sollten.


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Das Werk Johannes Gutenbergs ist nicht zufällig, es ist vielmehr ein Beispiel für den typischen Werdegang eines städtischen Handwerkers seiner Zeit, der nicht nur im Zuge einer allgemeinen Aufbruchstimmung den Kopf frei hatte für technische Erfindungen und Neuerungen, sondern auch alle Konsequenzen einer neuen Wirtschaftsform tragen mußte, der Geldwirtschaft.


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Johannes Gutenberg - Leben und Werk

Der Mainzer Johannes Gensfleisch zur Laden, genannt Gutenberg, wurde in Mainz im Hofe "Zum Gutenberg" geboren. Er lebte in den 30er Jahren des 15. Jahrhunderts in Straßburg, wohin er nach Streitigkeiten um das Mitbestimmungsrecht zwischen Mainzer Patriziern und Zünften gegangen war. Sein Geld verdiente er als Goldschmied, Steinepolierer, Spiegelmacher und - man beachte diesen ausgestorbenen Beruf - als Schreiber, der in einem Verlag Bücher kopierte. Hier sah Gutenberg die ersten gedruckten Bücher, kleine sogenannte "Blockbücher", die von Holzschnitten auf Papier gedruckt wurden (Stempelverfahren) und meist Bilder mit wenigen spiegelbildlich geschnittenen Textzeilen enthielten (Einblattdruck). Durch sie kam er darauf, mit beweglichen Lettern zu arbeiten. Gutenberg stellte mit Blei Letterngießformen her und mußte deswegen große Schulden machen. 1437 gab er zusätzlich eine Druckerpresse an den Mainzer Drechsler Konrad Sasbach in Auftrag. Vorbild dafür waren die Keltern der Mainwinzer.

1446 kehrte Gutenberg nach Mainz zurück. Mit finanzieller Hilfe des Mainzer Anwaltes und Goldschmiedemeisters Johann Fust gelang ihm die Einrichtung einer Druckerwerkstätte. Bereits seit 1444 hatte Gutenberg seine Idee, mit metallenen Lettern zu drucken, technisch verfeinert, und nun konnte er Papier mit ebenfalls selbst verbesserter Druckerschwärze beidseitig bedrucken. Ein Jahr später arbeitete sein erstes Handgießinstrument für den Massenguß von Lettern, das stündlich mehr als 100 Buchstaben lieferte. Das Gießen der Lettern war ein gewaltiges wirtschaftliches Projekt: Das Material für die Lettern, die Anfertigung einer speziellen Druckerpresse und der anderen Druckgerätschaften, die Miete für die Arbeitsräume und das Gehalt der Mitarbeiter, die Beschaffung von Papier und Pergament verschlangen soviel wie zum Kauf von mehreren großen Bauernhöfen nötig gewesen wäre.

Von nun an trat Gutenberg zu den etablierten Verlagen in Straßburg und Mainz in Konkurrenz. Dort arbeiteten Tag und Nacht Dutzende von Schreibern, um mühselig mit der Hand Bücher zu kopieren. Für eine einzige Kopie benötigte ein guter Schreiber mehrere Monate, kalligraphisch wertvolle Ausgaben, mit Bildern geschmückt, forderten über ein Jahr Arbeit.

1450 bis 1455 druckte Gutenberg schließlich in Mainz eine 1282 Seiten umfassende Bibel, nachdem er einige kleinere Werke zur Probe gedruckt hatte, darunter 1447 einen Kalender und 1451 eine lateinische Schulgrammatik. Ein Setzer konnte pro Tag höchstens eine Seite der Bibel setzen, farbige Illustrationen wurden von Hand gemalt.

Die verbilligte, schnellere und unbeschränkte Vervielfältigungsmöglichkeit gestattete die breitere Ausdehnung der Druckschriften in alle Volksschichten. Um 1500 war die Ausgestaltung des Buches in seiner typischen Form mit Titelblatt, Illustration und Register vollzogen, und bis 1570 hatte man allgemein von der Handschrift auf den Druck umgestellt.

Am 3. Februar 1468, im Alter von 71 Jahren, starb Johannes Gutenberg in Mainz, enttäuscht und verarmt.

Sein Nachlaß an Typen, Werkzeugen und Druckbögen war längst verpfändet und fiel an seinen Gläubiger, denn sein ehemaliger Finanzier Fust hatte es darauf abgesehen gehabt, Gutenbergs Fachwissen und seine Gerätschaften nach und nach zu vereinnahmen. Dazu hatte Fust sich einen Spion eingekauft, den engen Mitarbeiter Gutenbergs, Peter Schöffer. Als die Bibel fertig vorlag, aber noch keine Verkaufserlöse brachte, verklagte Fust Gutenberg auf sofortige Rückzahlung eines Darlehens von 2026 Gulden. Das Gericht sprach Gutenbergs gesamten Besitz, die komplette Bibelauflage, alle Typen und Gießgeräte, dem Kläger zu.

Aber der damals 60jährige Gutenberg gab nicht auf. Im Syndikus Humery fand er einen neuen Finanzier und richtete eine neue Werkstatt ein, mit der er jedoch durch Verarmung von den Überfällen auf die Stadt Mainz ebenfalls kein Glück hatte.

Indessen verbesserte der Spion Peter Schöffer den Matrizendruck durch dauerhafte Matrizen aus Kupfer oder Messing statt Holz. Initialen und Randzierungen druckte er mit, und der Buchschmuck war in Metall geschnitten.

1462 wurde Mainz geplündert und gebrandschatzt. Bei Nacht und Nebel flohen auch die Drucker der Schöffer-Fustschen Werkstatt. Bald danach errichteten sie eigene Werkstätten überall in Europa und lösten damit nahezu eine Lawine der technischen Weiterentwicklungen auf diesem Gebiet aus.


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Eine Generation später spricht Leonardo Fioravanti ein "Lob der Druckkunst" aus und beschreibt die Folgen, die das neue Handwerk für das Leben der Menschen schon nach so kurzer Zeit hatte:

Zum Wohlgefallen all jener, die sich an der Schrift erfreuen, hat es wohl nie eine schönere Erfindung gegeben als die der Druckkunst. Eine Kunst, die ohne Zweifel aufgrund ihrer Schönheit, aber auch ihres Nutzens, den sie hervorgebracht hat, indem sie die Unwissenheit der Welt von ihrem Ruhekissen aufstört, eine hervorragende Stellung einnimmt. Bald nachdem diese gesegnete Erfindung ins Leben trat, lernten die meisten Leute lesen; und was noch viel wichtiger ist als die Philosophie und die Medizin und all die anderen Wissenschaften, ist die Tatsache, daß sie sich nun mitteilen, in unserer Muttersprache drucken konnten, auf daß jeder von uns sich das Wissen aneignen kann, was er benötigt. Das verdanken wir der Druckkunst."
(aus den Materialien zum Besuch des Gutenberg Museums in Mainz)

Um diese Vorzüge des Handwerks kurz mit seinem zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Hintergrund zu füllen, wird an dieser Stelle in die Zeit eingeführt, in der die Buchdruckkunst entstand.


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Über die Sozialgeschichte des ausgehenden Mittelalters

Das Spätmittelalter ist geprägt von innenpolitischen Auseinandersetzungen. Durch zahlreiche kleine Kriege im Reich und durch den Erwerb der hohen Gerichtsbarkeit (Fehderecht) hatte sich Anfang des 15. Jahrhunderts der politische Einfluß der Fürstentümer verstärkt. Die Erbfolge blieb nun im Haus, es gab ein eigenes Steuersystem und eigene Beamte. Das bedeutete das Ende des Lehensrechts.

Der niedere und mittlere Adel verlor seine wirtschaftliche Existenzgrundlage. Seine agrarisch strukturierten Lehen basierten zudem auf Naturalienabgaben, die von einer sich in den Städten rasch entwickelnden Geldwirtschaft abgelöst wurden. Diese neue Wirtschaftsform erfaßte von Italien aus über Süddeutschland und Frankreich ganz Europa.

In den Städten blühten Handwerk und Handel. Bei innerstädtischen Auseinandersetzungen gewannen bürgerliche Kreise zunehmend an Einfluß. Die neue Geldaristokratie (Hanseaten und Fugger) gründete sich auf Begabung und Leistung und nicht mehr auf Herkunft. Viele technische Erfindungen hatten zu Produktionssteigerungen geführt. Wissenschaftliches Denken begann sich durchzusetzen.


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Die Veränderung literarischer Werte

Der Veränderung der städtischen Werte und Wirtschaftsform entsprach das wachsende Bedürfnis nach Beherrschung des Lesens und Schreibens zur sichereren Verwaltung der Reichtümer. So gründeten die Städte gegen den Widerstand der Kirche (Monopolstellung) die ersten weltlichen Schulen. Diese Tendenz wurde Mitte des 15. Jahrhunderts gefördert durch die Erfindung der Buchdruckerkunst von Johannes Gutenberg. Literatur aller Art wurde jetzt allen Kreisen zugänglich, wenn auch der Erwerb von Büchern zunächst privat begrenzt blieb und erst im 19. Jahrhundert durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht weiter verbreitet werden sollte.

Dichtung, bisher dem Adel vorbehalten, wurde für den Bürger zum Nachweis seiner geistigen Ebenbürtigkeit, die sich allerdings noch lange an den adeligen Werten orientierte. Literatur hatte in der Stadt eine andere Funktion, sie diente nicht mehr der Repräsentation, sondern Unterhaltung und Lehrdichtung überwog. Neben Spruchdichtung waren Schwank, Fabeln und Legenden beliebt und auch Fach- und Gebrauchsliteratur. Wissensvermittlung und Lebenshilfe wurden zu neuen Schwerpunkten. Die ersten Rechtsbücher erschienen, Chroniken, Arznei- und Kochbücher und naturkundliche Enzyklopädien. Im 15. Jahrhundert setzte sich die Prosaform des Romans für ein immer größeres Publikum durch. Dem Bedürfnis nach Trost und Lebensorientierung entsprechend nahmen auch religiöse Schriften in Form von Predigten, Gebeten und Heiligenlegenden einen großen Teil der volkssprachigen Literatur ein. Zahlreiche Übersetzungen aus dem Lateinischen und dem Griechischen festigten den Einfluß der Antike und führten zur Begründung der Geschichtswissenschaft (Quellenforschung).


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"Literatur" war also nicht mehr "vergeistigt" oder "höfisch", sondern umfaßte seit der Möglichkeit, Bücher billig und schnell herzustellen, ein weitgefächertes Gebiet. Die Definition von Literatur - hier aus dem Sachwörterbuch der Literatur - findet von nun an eigentlich erst ihren Anfang:

Literatur (lat. literatura = Buchstabenschrift), "Schrifttum", dem Wortsinn nach der gesamte Bestand an Schriftwerken jeder Art einschließlich wissenschaftlicher Arbeiten über alle Gebiete vom Brief bis zum Wörterbuch und von der juristischen, philosophischen, geschichtlichen oder religiösen Abhandlung bis zur politischen Zeitungsnotiz."
(aus Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1969, S. 440)

1997

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