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BERICHT/006: Karen Nölle, edition fünf, und Autorin Malin Schwerdtfeger in Hamburg (SB)


Frauenbefreiung ist kein Kaffeekränzchen

FrauenLiteratur und Kaffee in der Speicherstadt-Kaffeerösterei zum 100. Internationalen Frauentag

Lesung und Gespräch


Reiner "Zufall" oder höchste Zeit? Der 8. März 2011 - der von der deutschen Frauenrechtlerin und Sozialistin Clara Zetkin initiierte und nun zum 100. Mal sich jährende Weltfrauentag - regt an, sich auf weltweite und nahe Frauen-Initiativen zu besinnen, politisch wie kulturell. Denn das, wozu Frauen vor 100 Jahren aufbrachen, ist bis heute nicht realisiert.

Verkaufstresen der Speicherstadt-Kaffeerösterei - Foto: © 2011 by Schattenblick

Kaffee aus aller Welt
Foto: © 2011 by Schattenblick

Aufbruch! In Honduras, einem der ärmsten Länder Mittelamerikas, in dem 80% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt, wo Unter- und Mangelernährung, miserable medizinische Versorgung und Analphabetismus Alltag sind, und wo, wie in den meisten Ländern dieser Erde, der Machismo herrscht, haben sich Anfang der 90er Jahre sieben Frauen zusammengetan und eine Agrarkooperative gegründet, COMUCAP (Coordinadora de Mujeres Campesinas de La Paz), mit den Ziel, für sich und ihre Familien bessere Lebensbedingungen zu schaffen, ihre Rechte durchzusetzen und sich finanziell unabhängig zu machen. Allein die Verfügungsrechte über Land und Boden durchzusetzen, ist für diese Frauen die wohl wichtigste Voraussetzung, die Ernährung ihrer Familien sicherzustellen.

Im Laufe der Jahre wuchs die ausschließlich weibliche Mitgliederzahl und erkämpfte sich den Zugang zu Ressourcen wie Land und Saatgut. Heute besteht die COMUCAP-Kooperative aus ungefähr 300 Frauen, zwei Kaffeeplantagen, einer Kaffeetrocknungs- und Verarbeitungsanlage. Zudem werden auch Medizinalpflanzen, Früchte und biologisch erzeugtes Gemüse angebaut, Seminare über ökologischen Kaffeeanbau, Pflanzenpflege, Düngerproduktion und Finanzfragen gegeben sowie die Alphabetisierung vorangetrieben.

Nur ein Beispiel von vielen. Andere Fraueninitiativen auf der ganzen Welt nehmen sich inzwischen der Sache der Entrechteten an: "Frauen für Frieden", die mit internationaler Beteiligung aus über 30 Ländern auf öffentlichkeitswirksamen Solidaritätstouren mit dem Fahrrad in den Nahen Osten unterwegs sind, um auf die unerträgliche Situation der Palästinenser und die mehrfache Unterdrückung palästinensischer Frauen aufmerksam zu machen; die kurdische Frauenguerilla, die sich gegen die Dominanz ihrer männlichen Mitkämpfer absetzte und sich autonom organisierte; der doppelte Kampf der saharauischen Frauen für Gleichberechtigung und für die Befreiung ihres Volkes unter den harten Bedingungen des Exils. - Auf dem Weltsozialforum in Dakar am 8. Februar 2011 wurde die Bedeutung der gegenseitigen Unterstützung von Frauen in unterschiedlichen Lebensrealitäten hervorgehoben.

Blick in die Kaffeerösterei - Foto: © 2011 by Schattenblick

Blick in die Kaffeerösterei
Foto: © 2011 by Schattenblick

Aufbruch! Betrifft das nur die Brennpunkte in der Welt? Auch in Deutschland hat sich die gesellschaftlich benachteiligte Situation der Frauen seit der "neuen Frauenbewegung" zu Beginn der 70er Jahre nicht wesentlich geändert. Die Unterdrückung hat sich lediglich qualifiziert, ist weniger greifbar und schwerer mitteilbar geworden. Anstelle der immerhin opponierenden Begriffe Ungleichheit, Unterdrückung, Unterwerfung hat das neutralisierende Wort "gender" seine Karriere angetreten. Solidarische Aktionen oder jene oben erwähnte gegenseitige Unterstützung wurden in staatlich überprüfbare Initiativen übergeleitet. Unter dem gesellschaftlichen Rationalisierungs- und Optimierungszwang kommt der Gedanke an Kritik und Auflehnung heute kaum noch auf. Die Vision von menschenwürdigeren Alltagsbedingungen, in denen die Bedürfnisse der Einzelnen Berücksichtigung finden, ist kaum noch vorhanden.

Dabei ist die offensichtliche Benachteiligung nicht zu übersehen. Die Ungleichheit bei der Bezahlung von Frauen und Männern ist in Deutschland nach Angaben der EU-Kommission europaweit mit am größten, der durchschnittliche Stundenlohn von Frauen liegt um 23 Prozent unter dem der Männer. Erst im Jahr 2000 wurde eine Frau erstmals auf einen Lehrstuhl für Gynäkologie berufen, 2007 erhielt die erste Frau eine Professur für Chirurgie. Nach wie vor fehlt es an bedarfsgerechten und qualifizierten Bildungs- und Betreuungseinrichtungen für alle Kinder, an flexiblen Arbeitszeitmodellen, unter denen sich Beruf, familiäre Verpflichtungen und private Interessen vereinbaren ließen. Es gibt noch viel zu tun...

Aufbruch? Die Spaltung des Menschen vom Menschen, die Isolation, die Fragmentierung sozialer Bezüge erweisen sich als zentrale und scheinbar erfolgreiche gesellschaftsstabilisierende Instrumente, ein kollektives Aufbegehren der Betroffenen nachhaltig zu verhindern. Wird so der Aufbruch schon im Keim erstickt? Müßte man, statt von Aufbruch zu sprechen, eher den Abgesang konstatieren?

Und doch: Wäre es denn so vermessen, das scheinbar Unmögliche nicht aufgeben zu wollen? Sollten sich nicht wenigstens ein paar Unbeugsame finden, die noch etwas sagen möchten, die Frauen dazu ermutigen, aufzubegehren, sich die Welt zu erobern? Den ersten Schritt über die Schwelle in die Zone vermeintlich verbotener Träume könnte man durchaus inmitten dampfender Kaffeetassen und anregender Gespräche stattfinden lassen, zumal wenn eine Initiative unter dem Titel "Aufbruch" dazu einlädt, einmal genauer hinzuschauen, zuzuhören...

Blick ins Publikum - Foto: © 2011 by Schattenblick

Doch eher ein Kaffeekränzchen?
Foto: © 2011 by Schattenblick

Wenn zum Beispiel mehr oder weniger "zufällig" am Abend des 8. März 2011 in der Speicherstadt-Kaffeerösterei in Hamburg die Herausgeberin Karen Nölle die "edition fünf" vorstellt, einen von Frauen gegründeten Verlag, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, "weibliche Traditionslinien" wiederzubeleben und fortzuführen. Wenn die Berliner Autorin Malin Schwerdtfeger, eine der Protagonistinnen der ersten Edition, aus ihrem Debütroman "Café Saratoga" liest, und wenn dazu solidarisch "COMUCAP"-Kaffee der Frauenkooperative aus Honduras ausgeschenkt und darüber berichtet wird.

Doch dann ging das, was die abwechslungsreich gestaltete und von Veranstalter Michael Friederici hervorragend moderierte Veranstaltung zu sagen hatte, im allgemeinen Bedürfnis nach einem gemütlichen Kaffeetrinken fast unter. In der "Kafferösterei" der Hamburger Speicherstadt waren alle Tische besetzt. Ca. 60 Gäste, davon ca. die Hälfte männlich, ließen sich eher nebenbei unterhalten: Kurzweilig und humorvoll entwickelte Michael Friederici zwischen den Leseabschnitten ein Gespräch mit seinen weiblichen Gästen zu ihrer Lebensgeschichte, ihren aktuellen Aktivitäten, ihrem Selbstverständnis und zu persönlichen Zielen, die unter dem gemeinsamen Thema des Abends standen: AUFBRUCH.

Bücherfrau, Autorin, Übersetzerin, Lektorin und Seminarleiterin Karen Nölle beantwortete geduldig die Fragen zu dem neuen Verlagsprojekt, an dem sie maßgeblich beteiligt ist. Dieser im August 2010 zum ersten Mal auf dem Büchermarkt in Erscheinung getretene, kleine Verlag hat sich zum Ziel gesetzt, einmal im Jahr fünf Bücher mit bekannten und weniger bekannten Titeln herauszugeben,

die allzu schnell vom Markt verschwunden sind oder denen wir mehr Beachtung wünschen, Lieblingsbücher, die unbedingt lieferbar sein sollten: eigensinnige, sinnliche, kluge Bücher, Werke deutscher Autorinnen und deutsche Übersetzungen von Autorinnen aus aller Welt. Was uns interessiert, sind weibliche Traditionslinien. Wir wollen lesen, was und wie Frauen erzählen." [1]

Ein Selbstzeugnis, ein Band mit Erzählungen und drei Romane handeln davon, wie Frauen sich die Welt erobern. Frauen, die sich auf den Weg machen, sehen sich über die Jahrhunderte hinweg immer wieder vor die gleichen Probleme gestellt:

Kate Chopin schildert in »Das Erwachen« die Rebellion einer Ehefrau und Mutter im New Orleans des Fin de Siècle, in »Zaunköniginnen« erinnert sich Joyce Johnson an ihre Anfänge als Schriftstellerin im New York der fünfziger Jahre, Irmtraud Morgner unternimmt mit »Hochzeit in Konstantinopel« eine fantastische Reise an die Adria und Malin Schwerdtfegers Roman »Café Saratoga« handelt von den Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens zwischen Deutschland und Polen Ende der achtziger Jahre. [2]

Büchertisch - Foto: © 2011 by Schattenblick

Schöne Bücher aus der edition fünf
Foto: © 2011 by Schattenblick

Wert gelegt wird auch und sichtbar auf eine qualitativ hochwertige Aufmachung der Editionen in alter Buchmachertradition, Leineneinband statt Paperback, liebevolle Gestaltung statt Wegwerfliteratur, Bücher, die bleiben und erhalten werden wollen.

Drei Frauen aus der Branche gründeten den Verlag: Silke Weniger (Verlegerin), Karen Nölle und Christine Gräbe (Herausgeberinnen). Zwölf Jahre Altersunterschied (zwischen 1950 und 1974) liegen jeweils zwischen ihnen, aber "wir haben alle unsere Wurzeln in der Frauenbewegung", erklärte Silke Weniger dem Börsenblatt:

Aufgrund unserer Lebensalter sind wir unterschiedlich geprägt. Sicher kommen noch Strömungen aus den 70er bis 90er Jahren bei uns vor, aber wir hegen keinen nostalgischen Feminismus. Für uns steht die Literatur im Vordergrund. Und wir möchten einen Beitrag zur Wahrnehmung des literarischen Schaffens von Frauen leisten." [3]

Im Unterschied zu einem klassischen Männerverlag werde die Partnerschaftlichkeit stark betont und großer Wert auf den Inhalt und weniger auf den kaufmännischen Aspekt gelegt, erklärt Karen Nölle. Wichtig sei der Initiatorin und erfolgreichen Literaturagentin Silke Weniger gewesen, etwas nicht Mainstream-Konformes zu machen.

"Uns interessieren die Frauen und ihre Art, von sich zu erzählen", so Karin Nölle, die sich selbst vor allem "den Feinheiten von Satzbau, Wortwahl, Struktur, Ton und Inhalt verschrieben" hat. Sie ist Mitglied der vor 21 Jahren ins Leben gerufenen Seilschaft BücherFrauen e.V. und auch darüber beruflich mit vielen Kolleginnen in ständigem Austausch. Aber: "Man kann nicht sagen, daß es für Frauen heutzutage leichter geworden wäre".

Aufbruch! Die zunehmende Vernetzung der Welt trägt auch den "Aufbruch" über die Grenzen. Politisch oder rassistisch verfolgt, oft um ihr nacktes Leben zu retten, der Arbeitslosigkeit und dem Hunger zu entkommen oder um ihre Familien in der Heimat angesichts auch von den Industrienationen verursachter desaströser wirtschaftlicher Verhältnisse überhaupt ernähren zu können, brechen immer mehr Menschen auf, um in den reichen Ländern eine bessere Zukunft zu finden.

Autorin Malin Schwerdtfeger hatte als Kind in ihrer Geburtsstadt Bremen polnische Freundinnen, war oft bei ihnen zu Gast, hat die Kultur erlebt und gesehen, "wie vielschichtig die Biographien von Leuten sind, die keine so leicht zugängliche Heimat wie ich haben. Meine Freundinnen haben in jungen Jahren ihre Heimat schon aufgeben müssen, auch nicht mit der Option, jemals wieder zurückzukehren, weil der eiserne Vorhang noch vorhanden war."

Einen Eindruck, mit welchen Schwierigkeiten diese Mädchen in der Bundesrepublik zu tun bekamen und wie sie damit umgehen, vermittelt Malin Schwerdtfeger in "Café Saratoga", aus dem die Autorin an diesem Abend mit trockenem Humor vorlas und das Geschriebene auf höchst amüsante Weise kommentierte.

Malin Schwerdtfeger liest - Foto: © 2011 by Schattenblick

Malin Schwerdtfeger liest
Foto: © 2011 by Schattenblick

Der Roman erzählt vom Ende einer polnischen Kindheit, die quasi über Nacht zu einer deutschen Jugend wird: Die polnische Halbinsel Hel ist das Zuhause der pubertierenden Schwestern Sonja und Majka. Von dort wollen sie weg, dorthin, wovon alle träumen und raunen und es "Bundes"(republik) bezeichnen. Vor allem ihr verrückter Vater, Tata, kann nicht aufhören von "Bundes" davon zu sprechen. Obwohl: Eigentlich interessiert ihn nur das 'biznes', also das Café Saratoga auf Hel, das er von der steinalten Tante Apolonia übernommen hat -, die Frauen und das Erwachsenwerden seiner Töchter, ohne je selbst erwachsen zu werden. Eines Tages geht er tatsächlich, nach "Bundes", um Schrauber bei Mercedes in Bremen zu werden. Der Weg ins vermeintlich Goldene Bundes-Zeitalter wandelt das polnische Kinderparadies der pubertierenden Schwestern Sonja und Majka über Nacht in eine Welt aus Baumärkten und Discount-Läden, und in eine deutsche Jugend, in der es wichtiger ist, Niedersachsen fehlerfrei auszusprechen als Jungs auf Kuttern zu bezirzen... [4]

"Warum schreibst du?", wird die Autorin von Michael Friederici gefragt. Auch da gibt es Gemeinsamkeiten mit den Frauen der edition fünf: die Begeisterung an der Sprache. Von Aufbruch und Aufbegehren ist allerdings wenig zu spüren:

Jeder Schriftsteller, so sagt Malin Schwerdtfeger, kriegt seine Hausaufgabe mit auf den Weg.

Das ist meine Hausaufgabe als Schriftsteller: etwas zu schreiben über das Leben zwischen den Kulturen. Auch 'Heimat' ist immer eine wichtige Motivation für Schriftsteller, aber ich neige dazu, mich mit fremden Federn zu schmücken: Ich reise gerne und mag es, andere Kulturen kennenzulernen und etwas darüber zu sammeln. Und ich mag es auch gerne, das in Geschichten oder Romane zu packen, was ich da erfahre. Es geht einfach um Welterfahrung, was mich interessiert. Das ist ein Teil meiner Motivation.

Die andere Sache, die mich motiviert, ist Sprache, und da hauptsächlich, fremde Sprachen zu erarbeiten und zu entschlüsseln, Sprachen, die auch eine andere Schrift haben - das ist so eine Entdeckungsreise, auf die ich gerne gehe.

Malin Schwerdtfeger - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

Malin Schwerdtfeger, Jahrgang 1972, wuchs "bürgerlich behütet" in Bremen auf. Sie liest früh und viel, unternimmt bereits in jungen Jahren erste literarische Versuche, veröffentlicht seit 1998. Ab 1992 studiert sie Judaistik und Islamwissenschaft - "Es ist totaler Irrsinn, sowas zu studieren" -, aber es hat ihr Spaß gemacht. Heute lebt und arbeitet sie als freie Schriftstellerin und Buchhändlerin zusammen mit ihrem italienischen Mann, den sie auf einer China-Reise kennengelernt hat und der ebenfalls Autor ist, und ihrem kleinen Kind in Berlin. Im Jahr 2000 erhielt sie den Förderpreis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs in Klagenfurt. Ihr Romandebut "Café Saratoga" (2001) wurde auch ins Polnische übersetzt und 2010 in der ersten "edition fünf" neu präsentiert. Selbst wenn Kritiker ihr bescheinigen, ihr Erzählstil sei nicht neu, gelingt es ihr auf eine fast sparsame und nüchterne Weise, Tragisches, aber auch Komisches in den Handlungen aufscheinen zu lassen und von der häufig bei jungen Autoren und Autorinnen anzutreffenden Selbstbeschau abzusehen. Prädikat: absolut lesenswert.

Wagnis! Das ist das Thema der nächsten edition fünf, die im August 2011 herauskommt: "Wir haben uns gesagt: Man bricht auf, die Heldin geht los, dann kommt sie in den dunklen Wald und weiß nicht mehr weiter, na, und dann muß sie etwas wagen", sagt Karen Nölle dazu. "Wagnis" könnte die Steigerung des Aufbruchs mit offenem Ende werden.

An diesem Abend des 8. März 2011 in der Speicherstadt wurde leider wenig gewagt. Es blieb ein, wenngleich gelungener, so doch eher konventioneller Literaturabend bei wirklich vorzüglichem Kaffee und guter Unterhaltung, bei dem das Risiko einer anregenden Debatte zum Thema über die Grenze des eigenen Tisches hinaus weitgehend ausgespart blieb.

Blick in die Kaffeerösterei - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

Im Anschluß an die Veranstaltung hatte der Schattenblick die Gelegenheit, trotz hör- und fühlbarer "Aufbruch"stimmung in der Kaffeerösterei - diesmal gen Feierabend - noch ein paar Fragen an die Herausgeberin der edition fünf, Karen Nölle, und an die Autorin des Abends, Malin Schwerdtfeger, zu stellen.

Schattenblick: "Aufbruch" heißt Ihr erstes Programm mit fünf wieder beziehungsweise neu aufgelegten Büchern. Einen schöneren und, emanzipatorischeren Titel, präzise und offen zugleich, kann man sich für eine Buchedition für Schriftstellerinnen nicht vorstellen. Was verbinden Sie damit?

Karen Nölle: Eines unserer Anliegen ist, Weiblichkeit auszuloten. Deswegen haben wir ganz bewußt ein Schlagwort genommen, das auch in den 70er Jahren in der Frauenbewegung schon wichtig gewesen ist - wir wollten ja aus der traditionellen Gesellschaft ausbrechen. Damals war mir das zu dogmatisch, jetzt haben wir die Chance gesehen, das einmal anders zu beleuchten: Was sind das für Kleinigkeiten, die oft für Frauen schon etwas bedeuten. Zum Beispiel Kate Chopin: Das Buch ist ja so toll, weil es einmal den Aufbruch hat, wie man ihn sich gängigerweise bei Frauen vorstellt - es kommt ein Neuer, man verliebt sich und es ändert sich was im Leben - aber bei ihr ist es viel mehr. Und so haben wir beschlossen, lauter Bücher zu nehmen, wo eine Feinbeleuchtung von Bewegung von Frauen stattfindet. Richtig glücklich wurden wir, als uns dann die Idee mit der Anthologie kam, in der man ganz verschiedene Facetten von Aufbruch beleuchten kann, der ja auch nicht immer glücken muß.

SB: In Ihrem Team kommen drei Generationen bewegter Frauen zusammen: Silke Weniger als Verlegerin, Christine Gräbe und Sie als Herausgeberinnen. Sie selbst haben den Aufbruch der 70er Jahre hautnah miterlebt. Wie sehen Sie die Veränderungen seitdem? Worum geht es Frauen heute?

Bücherfrau Karen Nölle - Foto: © 2011 by Schattenblick

Bücherfrau Karen Nölle
Foto: © 2011 by Schattenblick

KN: Es hat sich einerseits viel verändert und andererseits gar nicht viel. Das ist auch eine der Komplikationen der Frauenbewegung, weil mit Schlagworten so wenig geschafft ist und sie immer ähnlich bleiben - und man ermüdet so daran. Wir können mit den Thesen von früher kaum noch kommen, obwohl die Situation sich gar nicht so stark verändert hat. Das heißt, Frauen müssen ganz anders von sich und ihren Zielen sprechen als früher. Aber ich glaube, es sind noch vielfach dieselben. Mir tun die jungen Frauen im Moment beinahe leid, wie sie so vieles vereinigen müssen. Meine Generation hat noch darum gekämpft: Wir wollten arbeiten, wir wollten unser Geld verdienen, wollten unseren Beitrag zum Haushalt leisten und dann auch was zu sagen haben. Das tun die Frauen heute, und sie vereinbaren das mit Kind und Hauspflege und einer perfekten Freizeit - und leben schier atemlos. Da ist noch nicht viel Erleichterung passiert.

SB: Nicht unbedingt ein Zugewinn an Selbstbestimmung?

KN: Nein, es ist weiterhin eine hohe Kunst, zur Selbstbestimmung zu kommen.

SB: Nur, daß die jungen Frauen es nicht mehr äußern können.

KN: Genau. Sie wissen ja alle schon lange, was das Ziel ist. Sie sind auch empfindlich, und mit Recht empfindlich, gegen diese Generalaussagen, weil die auf das einzelne Leben nie so zutreffen. Was zum Beispiel nicht viel anders geworden ist, finde ich, ist, daß die Frauen immer noch 23 oder 24 Prozent weniger als die Männer verdienen. So viel größer war der Abstand nicht, als ich darum gekämpft habe, im Gegenteil. Ich habe an der Uni gearbeitet, da kriegten wir natürlich den gleichen Lohn für die gleiche Arbeit.

Wenn ich einmal von meiner Generation in der Edition sprechen darf, finde ich schon, daß die Frauen heute selbstbewußter ihre Hälfte des Himmels verlangen. Aber sie müssen noch Riesenanstrengungen unternehmen, um sie zu bekommen. Sie haben mehr Ziele im Kopf, als wir sie hatten, eine größere Selbstverständlichkeit.

SB: Mit Ihrem Verlagsprojekt erfüllen Sie sich einen lang gehegten Wunsch. Sie betreiben die Buch-Macherei aus Leidenschaft. Schöne Bücher, schöne Inhalte, auch das Handwerkliche kommt zum Zuge. Ist das eine Frage des "Sich-Leisten-Könnens", weil das ja auch Geld kostet, oder ist es vielleicht auch ein politisches Programm, in einer fast vollständig ökonomisierten Welt zu sagen: Ich mache das, was ich für sinnvoll erachte, was mir Spaß macht - vielleicht eine Aufforderung, nicht alles unter Verwertungsgesichtspunkten zu tun?

Karen Nölle im Gespräch mit SB-Redakteurin - Foto: © 2011 by Schattenblick

Im Gespräch
Foto: © 2011 by Schattenblick

KN: Das ist ganz sicher ein Teil des Programms. So schöne Ziele muß man sich wahrscheinlich eines Tages auch leisten können, im Moment ist ein Puffer da, daß wir uns erstmal im Markt finden können. Aber die Aussage ist uns ganz, ganz wichtig, daß wir Bücher machen wollen, die bleiben, die lesenswert sind. Daß wir so jemanden wie Irmtraud Morgner wieder herausbringen mit einem Buch, das zugänglicher ist als die ganz großen Bücher von ihr, daß wir so etwas wecken wie ein Gefühl dafür, was zu entdecken ist, wenn wir uns um eine weibliche Sicht kümmern.

SB: Sie haben vorhin gesagt, Sie wollen "weibliche Tradition im kleinen vorführen", die sei nicht so kaufmännisch.

KN: Ja, das Kaufmännische ist nicht das Primäre. Wenn wir allerdings bleiben wollen, muß sich das nach einer Weile auch ein bißchen auszahlen.

SB: Ursprünglich war Frauenliteratur ja als Literatur des Widerstandes von Frauen für Frauen gedacht, richtete sich gegen Gewalt und Entmündigung, heute ist sie in der Regel eher zum verkaufsfördernden Verlagskonzept geworden. Von Irmtraud Morgner stammt das schöne Zitat: "Literatur braucht Zukunftsgewißheit wie der Mensch selber. Wer heute Literatur macht, fördert, liest, ist bemüht, bösen Ahnungen (man könnte heute sagen: Wirklichkeiten) zum Trotz Optimist zu bleiben, ist einer, der glaubt, daß die Zukunft doch bewahrt wird." Wie ordnen Sie sich da ein?

KN: Uns ist, glaube ich, das Literarische wichtiger als das Politische: zu entdecken, was Frauen alles geschrieben haben, wie sie das, was sie denken, in Geschichten und Bilder packen. Bei mir kommt das aus dem Übersetzen. Ich habe zehn Jahre lang als Toleranzschulung zwischendurch auch Männer übersetzt und hatte früher schon den Verdacht, der sich dann im Laufe dieser zehn Jahre erhärtete, daß mich die Detailwelten von Frauen einfach viel mehr interessieren.

SB: Also eine inhaltliche Bestimmung, weniger eine sprachliche?

KN: Gar nicht. Ich würde nicht darauf schwören, daß ich erkennen kann, ob irgendwas von einer Frau geschrieben ist, ich merke nur, da blühe ich auf, das interessiert mich. Ich denke, daß Frauen, die eine Chance haben, tatsächlich diese Welt zu entdecken, sich auch Denkmöglichkeiten ins Hirn und in die Gefühle pflanzen. Das ist vielleicht eher eine Form von subversiver Arbeit und nicht so sehr politisch motiviert.

SB: Gibt es denn ein frauenspezifisches Verhältnis zur Sprache, andere Ausdrucksmöglichkeiten?

Karen Nölle mit SB-Redakteurin - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

KN: Was wir suchen, sind Autorinnen mit einem bewußten Verhältnis zur Sprache, die spielen. Das muß nicht unbedingt eine besonders komplexe Sprache sein. Ich denke da zum Beispiel an Annie Dillard, die ich übersetzt habe, die schreibt einfach so präzise, daß man die Welt durch die weibliche Brille sehen kann. Wenn zum Beispiel andere Leute geschrieben hätten "Es war eine Menschenmenge", dann schrieb sie "Es war eine Menge Menschen da, Frauen mit ihren Kindern, Männer mit ihren Partnerinnen und viele alleinstehende Männer." Da hat man ein ganz anderes Bild. Ihr ist es nicht selbstverständlich, wie eine Menschenmenge gemischt ist. Ich finde, daß sich viele männliche Autoren nicht so genau fragen "Was sehe ich hier eigentlich vor mir?", weil sie sich ihres Platzes bewußt sind. Frauen müssen gucken, "Wo habe ich einen Platz, wie sieht er aus, wie kann ich mich von da aus bewegen?" Dadurch sind die Geschichten anders sortiert. Ich finde das ganz, ganz entdeckenswert, weil wir überhaupt keinen Konsens darüber haben, was weibliches Erleben ist.

SB: Ihr Slogan ist: "Schöne Bücher für kluge Frauen". Bedient man damit nicht, wenn auch unfreiwillig, wieder das Klischee der eigentlich dummen Frau, ohne die es die klugen ja nicht gäbe?

KN: Wir könnten auch sagen "Kluge Bücher für schöne Frauen" oder beim nächsten Mal "Mutige Bücher für kühne Frauen" oder so etwas (lacht). Das mit den klugen Frauen haben wir gespielt, um anzudeuten, daß wir keine mädchenhaften Bücher machen wollen, keine nur hübschen Bücher, sondern daß der Inhalt auch ein Gewicht hat.

SB: Eine gerechtere Welt ist ohne Frauen und die Lösung der Frauenfrage nicht zu denken. Anders herum ist die Lösung der Frauenfrage ohne eine radikale Veränderung der ganzen Gesellschaft nicht zu machen. Lenkt eine Spezialisierung auf Frauenthemen nicht davon ab, daß es um eine Veränderung der Gesellschaft als ganzer geht im Sinne einer vollen Emanzipation, wie Clara Zetkin sie schon 1889 gefordert hat?

KN: Ja, wenn wir ein großer, wichtiger Verlag wären, dann müßte man das vielleicht so sehen. Aber wir sind ein Nischenverlag und wir versuchen, mindestens etwas in die Buchläden und vielleicht auch in die Köpfe der Frauen zu holen von dem, was zu wenig da ist, worüber man nachdenken könnte, oder was es braucht, um Veränderung zu schaffen. Das heißt, wir sind weit vor der Gerechtmachung der Welt. Wir komplettieren die Möglichkeiten, sich so zu bilden, daß man vielleicht erstmal mit sich selbst anfängt, sich emanzipieren kann. Ich finde dieses Emanzipieren gegen jemanden auch uninteressant. Aber ausloten, wofür man sein könnte oder was einen interessiert oder wohin man sich mal entwickeln könnte, da pflanzen wir halt Ideen. Es ist vielleicht ein bißchen wenig, aber ich find es ganz schön!

von links: Malin Schwerdtfeger, SB-Redakteurin, Karen Nölle - Foto: © 2011 by Schattenblick

Die Gesprächsrunde wird erweitert
Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Frau Schwertfeger, was hat Sie zur edition fünf verschlagen?

Malin Schwerdtfeger: Die edition fünf hat mich zu sich geholt. Das ist natürlich ein sehr persönliches Konzept, da spielen die Vorlieben der Herausgeberinnen und Verlegerinnen eine Rolle. Es hat gerade in das Programm dieser Saison, in der es erschienen ist, ganz gut gepasst. Und da sind dann auch Geheimnisse, die ich nicht so ergründen kann. Ich freue mich einfach nur, daß ich dabei bin.

Mein Buch ist ja schon mal erschienen, bei einem großen Publikumsverlag und in der Ausgabe jetzt vergriffen, so daß es jetzt, pünktlich zum Erscheinen der edition fünf, noch einmal ein zweites Revival im schönen neuen Kleid hat. Es geht ja eben auch um das Wiederentdecken, Bewahren, nochmal Herausbringen.

SB: "Café Saratoga" schildert die Handlung aus der Sicht eines Kindes an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Sie haben die Kindheit einmal als untergegangene Welt beschrieben und dafür den Begriff "Atlantis-Gefühl der Kindheit" geprägt, die man loslassen müsse, wenn man erwachsen wird. Warum eigentlich?

MS: Man kann zwar auf Teufel komm raus versuchen, Kind zu bleiben oder das Kind in sich zu erhalten. Aber das ist eigentlich Quatsch. Unsere Generation ist, glaube ich, diejenige, die noch am kindlichsten bleiben kann gegenüber anderen Generationen, die einfach auch wirklich erwachsen werden mußten. Wir können uns eine bestimmte Verspieltheit leisten heutzutage, aber das hat nichts mit der wirklichen Kindheit oder mit den Erfahrungswerten der Kindheit zu tun.

Mir ist dieser Prozeß des Erwachsenwerdens auch richtig bewußt geworden. Ich habe immer ganz viele Rollenspiele gemacht, mein Lieblingsspiel war 'Eskimo'. Da habe ich mir einen Kajak gebaut und mir meine Babypuppe auf den Rücken geschnallt, habe mich in den Kajak gesetzt und bin mit meiner Harpune auf zwei Holzeisenbahnschienen durch die Arktis gefahren und hab' eben Wale gejagt. Irgendwann in diesem typischen Alter zwischen 11 und 13 habe ich mich wieder in meinen Kajak gesetzt, mir meine Babypuppe umgeschnallt, die Harpune in die Hand genommen - es ging nicht mehr. Es ist nicht mehr diese Welt, ich kann diese Welt nicht mehr betreten, die nach diesen Kindheitsregeln und mit dieser Kindheitsmagie funktioniert. Das ist, glaube ich, ein Prozeß.

SB: Ich dachte eher an so etwas wie die Träume seiner Kindheit, die man, finde ich, nicht aufgeben muß.

MS: Ich finde, Kindheit ist schon ein spezieller, abgeschlossener Zeitraum. Das ist so ein Perspektivwechsel, wo wir uns bestimmte Sachen auch nicht wieder zurückholen können. Gerade aus dieser Kinderperspektive zu schreiben ist ja ein sehr beliebtes, literarisches Mittel, um die Welt mit unschuldigen Augen zu betrachten, Vorgänge eben auch für sich sprechen zu lassen, ohne sie auf eine Metaebene zu bringen oder zu reflektieren. Wo man sich die Welt unvoreingenommen auf eine poetische Weise angucken kann. Deswegen ist diese Perspektive vielleicht ein Versuch, sich so einen Blick wieder zurückzuholen. Aber es ist immer etwas Künstliches, jede Kinderperspektive hat einen künstlichen Faktor, den man selber gut ausbalancieren muß, denn das kann auch danebengehen.

SB: Weil die Schreiberin kein Kind mehr ist?

MS: Ja. Da gibt es wirklich Unterschiede, wo man dann auch als Leser mitkriegt: Hier kippt es, hier ist es etwas Artifizielles, etwas Maniriertes. Und die Gefahr ist immer, auch bei mir, daß der Erwachsene durchschimmert, aber das muß man bewußt angehen. Man findet in dieses Atlantis nie wieder zurück.

Malin Schwerdtfeger - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Sie haben mal gesagt, daß das Buch die Formulierung Ihres Wunsches nach einem lebendigen Kontakt zur Umwelt und zur Geschichte und zu allem sei, was uns umgibt. Wie funktioniert das? Ist Schreiben nicht eher eine einsame Angelegenheit?

MS: Ja natürlich. Es gilt, glaube ich eher, in Verbindung zu treten. Ich finde hier wieder den Bezug zur edition fünf ganz schön, daß man versucht, Traditionslinien zu wahren. Das hat damit zu tun, daß ich durch Literatur natürlich in Kontakt mit der Umwelt trete. Wenn ich zum Beispiel ein Land beschreibe, beschreibe ich im Grunde die chemische Zusammensetzung. Wenn ich über Niedersachsen schreibe, schreibe ich, wie sich die Erde anfühlt, wie die riecht, was da für Pflanzen wachsen, und diese ganzen Sachen kann Literatur. Aber es geht auch darum, sich in einen zeitlichen Kontext zu setzen, und Bezüge zu anderen Schriftstellern hat fast jeder Autor. Das funktioniert ja auch ganz gut, wenn man allein ist, aber man fühlt sich nicht allein, weil man, glaube ich, so seine Genealogie hinter sich hat ...

KN: ... auch durch die Art, wie die Antennen ausgestreckt sind. Alles, was so auf die Seite geholt wird, passiert ja mit einer Aufmerksamkeit, die wirklich riesengroß ist...

MS: Was am meisten Spaß macht, ist zu gucken, wie die Welt wirklich ist und wie die Leute wirklich reden. Ich bin keine große Freundin von sehr literarisch daherkommenden, sehr artifiziellen, sehr manirierten Schreibstilen, da schalte ich immer als Leserin ab. Und auch als Buchhändlerin merke ich, daß ich dann Bücher nach zwei Seiten hinlege. Mich begeistern Autoren - das kommt einem sehr einfach vor -, wo man überlegt: So reden Menschen wirklich. Das ist eine Offenbarung. Es ist die Einfachheit, die ich suche, diese Einfachheit zu sagen, wie die Welt funktioniert, aber trotzdem auch an die Ebene darüber zu denken, an dieses archaische Element, das jede gute Literatur gemeinsam hat und wo sich alle Literaturen in allen Sprachen der Welt treffen. Das sind ganz universelle Prinzipien, über die man auch mit anderen Schriftstellern kommuniziert. Man muß gar kein Netzwerk haben und auch nicht in Facebook sein. Und sie können lange tot sein, man kommuniziert durch die Literatur.

SB: Stefan Kister kritisierte in einer Rezension an Ihrem Roman "Delphi" die Blutleere ihrer Gestalten. Finden Sie sich in solcher Begrifflichkeit wieder? Und ist sie vielleicht sogar Absicht und Spiegelbild heutiger menschlicher Verhältnisse?

MS: Das ist wirklich Geschmacksache, das ist kein Konzept. Aber vielleicht ist "Delphi" etwas anderes als "Café Saratoga". Das ist ein Familienroman, in der dritten Person erzählt, das schafft natürlich nochmal eine andere Distanz, dann geht es auch um andere Themen, er ist verschachtelter. In mache Figuren gehe ich nicht so rein, wie wenn ich aus der Perspektive einer Person einen kompletten Roman von 300 Seiten erzähle. Dann kommt einem die Person natürlich näher. Es ist bewußt ein Spiel mit dieser Distanz durch diese andere Erzählweise. Das Besondere an dem Buch ist vielleicht, daß es eine Erzählerin gibt, die schon tot ist. Sie guckt im Grunde aus dem Jenseits herunter und erzählt die Geschichte der Leute, die ihr eigentlich nahe sind. Aber sie wahrt aus bestimmten Gründen eine gewisse Distanz. Weil sie im Leben dem allen nicht so nahe war, hat dieses Distanzgefühl im Buch eine ganz große Bedeutung. Das hat er wohl als "blutleer" empfunden.

SB: Sie mußten sich, als Sie vor zehn Jahren im Literaturbetrieb anfingen, das Attribut "Fräuleinwunder" gefallen lassen. Wie ist es Ihnen damit ergangen?

Malin Schwerdtfeger mit SB-Redakteurin - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

MS: Es hat mir ermöglicht, überhaupt veröffentlicht zu werden. Wer weiß, ob mir das jetzt so leicht gelingen würde. Aber damals war es wirklich so, daß Leute gesagt haben, das klingt ja überhaupt nicht feministisch. Judith Hermann war der Anfang, daß die Leute sagten: "Frauen können ja auch schreiben und die können tatsächlich jünger sein als 40." Das war plötzlich so ein Aha-Erlebnis, eine positive Welle, auf der wirklich viele geritten sind. Manche gibt es heute nicht mehr, manche schreiben immer noch. Und für uns, die Schriftstellerinnen der etwas jüngeren Generation, war das eine einmalige Chance, gleich mit so einem Publikum herauskommen zu können. So einen Slogan braucht die Presse, die Feuilletons brauchen einen Begriff, woran sie sich festhalten können. Für mich was das nur positiv. Ich bin aber sozusagen auch nur kaufmännisch auf dieser Welle geritten. Da würde ich sagen, sind Judith Hermann und ich schon verschiedene Welten, aber es war ein Forum für uns alle.

SB: Frau Nölle, dürfen wir denn fragen, was als nächstes kommt? Gibt es schon Favoriten?

KN: Ja, wir machen eine neue Übersetzung eines Buches von einer schwarzen Amerikanerin, 1937 geschrieben. Wir haben uns das ausgesucht, weil es sowohl meine als auch der Verlegerin allerliebste Liebesgeschichte der Welt ist. Sie geht natürlich tragisch aus, aber auf schöne Weise tragisch. Die Heldin erzählt die Geschichte ihrer besten Freundin in einer Nacht, nachdem sie zurückgekommen ist von den tragischen Ereignissen. Und sie erzählt sie sozusagen als Lebensgeschichte oder Selbstwerdungsgeschichte. Durch die Art, wie sie ist, und durch das, was ihre Großmutter ihr an Wünschen eingepflanzt hat, hat sie bestimmte Vorstellungen davon, wie sie wäre, wenn sie ein vollständiger Mensch wäre. Dazu gehört eine Begegnung mit einem Mann, der sie als Mensch sieht und nicht funktionalisiert. Das klingt alles blöd, wenn man es abstrahierend beschreibt. Sie würde nie solche Worte wie "funktionalisieren" verwenden. Aber die Art zu beschreiben, wie ihre ersten Begegnungen in ihrem Sinne keine sind und die Liebe zu diesem letzten Mann, der durch einen tollwütigen Hund in einem Hurricane stirbt, ist ganz toll, das hebt die Tragik ein bißchen wieder auf. Weil das, was sie da entdeckt hat, ebenso wichtig ist wie diese Todesgeschichte. Das hat mir auch an ihrem Erzählstil sehr gut gefallen, daß man nicht serviert bekommt, was man denken und fühlen soll, sondern daß man aus der detaillierten Handlungsbeschreibung heraus einfach selber seine Schlüsse ziehen kann und es offensichtlich wird, welche Haltung, welche Gefühle, auch welche Tragiken dahinter stecken.

SB: Frau Nölle, Frau Schwerdtfeger, wir bedanken uns für das Gespräch.


Anmerkungen:
[1,2] Webseite, www.editionfuenf.de
[3] Börsenblatt 28, 2010
[4] aus www.schwarzenaechte.de

Oldtimer vor der Speicherstadt-Kaffeerösterei - Foto: © 2011 by Schattenblick

Bewahrt Traditionen der verschiedensten Art:
die Speicherstadt-Kaffeerösterei in Hamburg
Foto: © 2011 by Schattenblick

14. März 2011