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BERICHT/029: Vorgelesen, zugehört ... (SB)


Gehen, Ging, Gegangen

Autorenlesung mit Jenny Erpenbeck am 29.09.2015 im Literaturhaus Magdeburg
Entdeckungsreise zu einer Welt, die zum Schweigen verurteilt, aber mitten unter uns ist.

von Christiane Baumann


Jenny Erpenbeck war mit ihrem neuesten Roman "Gehen, Ging, Gegangen" anlässlich der Magdeburger Literaturtage am Dienstag Abend zu Gast im Literaturhaus der sachsen-anhaltischen Landeshauptstadt. Christiane Baumann hat diesen diskussionsfreudigen Abend miterlebt und den hochaktuellen Roman, der es auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2015 geschafft hat, gelesen.

Welche Bedeutung haben Grenzen noch, wenn der Strom hunderttausender Flüchtlinge alle Grenzen sprengt, wenn ihre Not uns herausfordert, uns zu verhalten, Position zu beziehen? Welchen Wert haben Gesetze, die diese Menschen zur Untätigkeit verdammen, wo doch erst Arbeit, die Existenz sichert, dem Leben Sinn und Erfüllung gibt?


Foto: © by Katharina Behling

Jenny Erpenbeck
Foto: © by Katharina Behling

In Jenny Erpenbecks neuestem Roman "Gehen, Ging, Gegangen", aus dem die Autorin im bis zum letzten Platz besetzten Magdeburger Literaturhaus las, geht Richard, ein emeritierter Professor für Klassische Philologie der Berliner Humboldt-Universität auf Spurensuche, auf Recherche und muss feststellen, wie wenig er, der doch der akademischen Oberschicht angehört, über diese Flüchtlinge, über ihre Heimaten und ihre Kultur weiß. Er wird zum Lernenden, Suchenden und sein Wissen um europäische Geschichte, Literatur- und Kunstgeschichte verbindet sich für ihn plötzlich in überraschender Weise mit diesen Flüchtlingsschicksalen, erlebt wie in Ovids "Metamorphosen", aus denen er immer wieder zitiert, eine Verwandlung:

"Keines verbleibt in derselben Gestalt, und Veränderung liebend
Schafft die Natur stets neu aus anderen andere Formen,
Und in der Weite der Welt geht nichts - das glaubt mir - verloren;
Wechsel und Tausch ist nur in der Form. Entstehen und Werden
Heißt nur anders als sonst anfangen zu sein, und Vergehen
Nicht mehr sein wie zuvor."

"Gehen, Ging, Gegangen" - der Romantitel nimmt diese Veränderung, die auf die Bewegung des Subjekts zielt, auf. Zum einen sind es die Flüchtlinge, die sich im Weltenraum bewegt haben, bewegen mussten und nun mitten in Berlin und im Erlernen einer neuen Sprache den Verlust von Heimat, Familie und Kultur im Bewusstsein nachvollziehen. Es sind moderne Odysseen, die da erzählt werden, hart, unerbittlich und ohne Hoffnung auf ein Happy End. Nicht zufällig kommt Richard immer wieder Homers "Odyssee" in den Sinn. Zum anderen ist es Richard, der sich bewegt, der zu den Flüchtlingen geht, nach ihrem Leben fragt, der verstehen will, was da passiert und seine, wenn auch bescheidenen Möglichkeiten auslotet, zu helfen. Ganz nebenher erhält seine gerade erst erworbene Rentner-Existenz einen neuen Sinn. Die Leere nach dem Ende des Berufslebens, in der sich Alltägliches breitmacht, wird aufgebrochen, denn das kann man ihm nicht nehmen: das Denken, auch wenn "kein Hahn danach kräht". Dieses Denken wird für Richard nicht nur zu einem Aufbruch in die Welt der Flüchtlinge, sondern führt ihn zugleich zu schmerzhaften Erkenntnissen über das eigene Leben.

Warum war Christel, seine Ehefrau, Alkoholikerin? Was machte sie unglücklich? War es die frühe Abtreibung, die angeblich beide wollten, der Verzicht auf Kinder oder die Geliebte, die ihn letztlich verließ, um nicht als seine Geliebte zu enden und um seinen Ritualen, diesem "Terror des Happy Ends", wie sie es nannte, zu entfliehen? Ein Leben lang bewegte sich Richard in seinem eigenen Leben nur an der Oberfläche. Er, der gelernte DDR-Bürger, der scheinbar gut im vereinten Deutschland angekommen war, wagt nun plötzlich den Blick unter die Oberfläche.

"Gott schuf das Volumen, der Teufel die Oberfläche", so lautet das erste und für den Roman wohl wichtigste der drei Motti, die Jenny Erpenbeck dem Roman vorangestellt hat und das von dem bedeutenden österreichischen Physiker und Nobelpreisträger des 20. Jahrhunderts Wolfgang Pauli stammt. Pauli, der aufgrund seiner jüdischen Wurzeln während der Zeit des Nationalsozialismus in den USA lebte, wo man ihm in Princeton eine Professur angeboten hatte, stand seit 1931 mit dem Tiefenpsychologen Carl Gustav Jung in Kontakt und war von dessen Theorie der Archetypen, jenen Grund- und Urerfahrungen der Menschheit, die unbewusst menschliches Verhalten und Bewusstsein prägen, inspiriert. Damit liefert das Motto einen wichtigen Hinweis, der unter die Oberfläche des Romans führt. Geburt, Tod und Religion erweisen sich als archetypische Muster, unabhängig von Nationalitäten und Grenzen. Vorgänge, für die es keinen kausalen Zusammenhang gibt, überraschen in ihrer "Synchronizität", ein Jung'scher Begriff.

Richard wurde in die Zeit der Luftschutzkeller und Bombennächte im zweiten Weltkrieg hineingeboren so wie seine Frau Christel, die die Angriffe deutscher Tiefflieger, als sie vor sowjetischen Panzern floh, nur knapp überlebte. Er und seine Freunde erinnern einen Krieg, den die Flüchtlinge aus Ghana, Niger oder dem Tschad nicht kennen, aber sie kennen ihre Kriege, Bürgerkriege und Massaker, wurden Flüchtende und Heimatlose. Richard erinnert sich an den Tag der deutschen Wiedervereinigung, als er "von einem Tag auf den andern, Bürger eines anderen Landes gewesen, nur der Blick aus dem Fenster war noch derselbe." Heimatverlust klingt an, weit entfernt von DDR-Nostalgie, vielmehr immer wieder ein selbstbewusster Blick zurück in jüngste deutsche Geschichte, der über den Fall der Mauer und das Überschreiten einer (Landes)-Grenze weit hinausreicht. Es ist vielmehr ein Denk-Prozess, in dem sich Richard seiner eigenen Geschichte versichert. Grenzen fallen, werden überschritten und können ebenso plötzlich "sichtbar" werden, denn mitten in Berlin, jener Stadt, die Jahrzehnte durch eine Mauer geteilt war, "wuchert plötzlich so eine Grenze, schießt ins Kraut, unvorhergesehen wie eine Krankheit", eine Grenze, die eben noch in Libyen, Marokko oder Niger verlief. Es ist eine Grenze, die auf der einen Seite einem französischen Staatskonzern in den Uran-Minen Nigers Millionengewinne beschert. Dessen Uranmüll nimmt jedoch auf der anderen Seite den dort lebenden Tuaregs jede Lebensgrundlage und macht aus ihnen Flüchtlinge, Asylsuchende in Deutschland, in Europa. Der Strom aber fließt letztlich in Frankreich und in Deutschland.

"Die Wirtschaft und das Geld bewegen sich frei", so Jenny Erpenbeck nach ihrer Lesung in der lebhaften Diskussion in Magdeburg, "aber Menschen, die vor solchen Entwicklungen fliehen, will man nicht haben." Die Autorin berichtete eindrucksvoll von ihren Recherchen und Erlebnissen, über ihren eigenen Lernprozess beim Schreiben des Romans. Die Diskussion kreiste immer wieder um die Frage, ob wir es uns überhaupt noch aussuchen können, die Auswirkungen der Kriege in anderen Ländern nicht wahrzunehmen. Es habe sie selbst überrascht, dass das Ende des Romans, den sie im Herbst 2013 zu schreiben begann, vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen eine so reale Komponente bekommen habe, so Erpenbeck.

Manchmal holt eben die Wirklichkeit sogar einen Roman ein oder besser: sie lässt ihm aktuelle Brisanz zuwachsen. Dabei erzählt die 1967 in das geteilte Berlin hineingeborene Jenny Erpenbeck, die aus einer prominenten ostdeutschen Schriftstellerfamilie stammt, zu der Hedda Zinner und Fritz sowie John Erpenbeck zählen, scharfsinnig und zugleich humorvoll. Erpenbecks Roman über die Flüchtlinge vom Berliner Oranienplatz räumt gründlich mit Vorurteilen auf und ist zugleich eine provokante Auseinandersetzung mit deutscher Vergangenheit seit der Wiedervereinigung. Vor allem aber ist ihr Roman ein Plädoyer für Veränderung, für eine Veränderung der Verhältnisse, aber auch des Einzelnen, der immer wieder aufbrechen kann, die Welt ein wenig zu verändern, zu verbessern und damit ein Stück menschlicher zu machen.


Foto: © by Knaus Verlag

Foto: © by Knaus Verlag

Jenny Erpenbeck:
Gehen, Ging, Gegangen
Roman
Knaus Verlag, München, 2015
351 Seiten
19,99 Euro
ISBN: 978-3-8135-0370-8

1. Oktober 2015


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