Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT


BERICHT/088: Messe links - Glut in der Asche ... (SB)


Achtundsechzig sitzt wie ein Pfahl im Fleische dieser nach neuer Übersichtlichkeit und verlässlicher Ordnung verstärkt Ausschau haltenden Gesellschaft. Irgend etwas wird nach wie vor als Provokation empfunden, als Herausforderung an die etablierten Mächte, die spüren, dass in dieser Bewegung auch ein Wahrheitsgehalt, etwas Plausibles und Richtiges enthalten ist. Ernst Bloch würde von dem Unabgegoltenen sprechen, dem utopischen Überhang, der durch bloße Tatsachenhinweise nicht außer Kraft gesetzt ist. Gäbe es dieses Überschüssige nicht, den realistischen Tagtraum einer besseren Gesellschaft, aber auch eines guten Lebens in einem gerechten Gemeinwesen, dann wäre diese Bewegung längst der Vergessenheit anheim gefallen.
Oskar Negt [1]


Auch 50 Jahre nach dem weltweiten Aufbegehren gegen die bestehende kapitalistische Ordnung in Gestalt der 68er Bewegung ist nicht ausgeschlossen, daß Menschen von heute aus der Geschichte von damals lernen. Daß sie in ihren eigenständigen Kämpfen keine andere Auseinandersetzung führen als jene, sich an derselben Front wiederfinden und plötzlich erkennen, wie sehr sich ihr Aufbegehren aus derselben Quelle speist. Verhielte es sich anders, wäre die Niederlage der 68er besiegelt, ihr Aufbruch zweifelsfrei als historischer Irrtum belegt, ihr Erbe nichts als Staub im Wind, bestünde in der Tat kein Bedarf und Interesse, sich noch immer mit Verzerrungen, Diskreditierungen und Bezichtigungen an ihnen abzuarbeiten. Wären nicht zahllose Protagonisten der Absage an die erdrückenden Lebensverhältnisse, erschrocken über ihre eigene Courage und die sich auftürmende Macht des Gegenwinds, auf die vermeintlich sichere Seite zurückgekehrt, bedürfte es keines Leugnens, Abstreitens und Abschwörens sogenannter Zeitzeugen, um die eigene Biographie zu glätten, Karrieren zu befördern und Geschichte umzuschreiben.

Um den Interpretationen der bürgerlichen Medienlandschaft im Jubiläumsjahr etwas entgegenzusetzen, war die Eröffnungsveranstaltung der 23. Linken Literaturmesse in Nürnberg dem Thema "68' - da war doch was" gewidmet. Es ging um nichts weniger als eine Spurensuche nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen der damaligen Revolte, ihren Themen und Zielen, der Zusammensetzung der Bewegung und ihren Organisationsformen, der Reaktion des Staates, den Erfolgen, Niederlagen und Auswirkungen auf die daran anschließenden Jahre und Jahrzehnte. Um diesen Fragen nachzugehen waren mit Ulrike Heider, Werner Seppmann und Karl-Heinz Dellwo drei bis heute in der linken Bewegung aktive Zeitzeugen für das Podium eingeladen worden.

Ulrike Heider studierte Politik und Germanistik und lebt als Schriftstellerin in Berlin und New York. Sie schreibt u.a. über ihre Erfahrungen, über Spontiszene und Hausbesetzungen, über die Schüler- und Studentenbewegung, Anarchismus, afroamerikanische Politik und Sexualität. Bis heute hält sie an der Vision einer herrschaftsfreien Gesellschaft fest.

Werner Seppmann studierte nach dem zweiten Bildungsweg Sozialwissenschaften und Philosophie, er arbeitete u.a. mit Leo Kofler. Politisch engagiert war er stets, so als Mitherausgeber der Marxistischen Blätter, im Projekt Klassenanalyse, als Vorstand der Marx-Engels-Stiftung und Aktivist der DKP. Er beschäftigt sich u.a. mit Ideologiekritik.

Karl-Heinz Dellwo war kaufmännischer Lehrling, Seemann, Aushilfsfahrer und Briefträger. Er war Mitglied des Komitees gegen die Isolationsfolter, Hausbesetzer, Aktivist der Stadtguerillagruppe RAF. Nach seiner Festnahme 1977 zu zweimal Lebenslänglich verurteilt, wurde er 1995 auf Bewährung entlassen. Heute ist er als Autor und Verleger aktiv.


Leeres Podium mit Transparent 'Linke Literaturmesse' - Foto: © 2018 by Schattenblick

Einer Spurensuche der Tisch bereitet ...
Foto: © 2018 by Schattenblick


Kulturrevolution und Klassenkampf

Wie Werner Seppmann seinem Beitrag vorausschickte, könne man sich bei der Beschäftigung mit 68 auf viele Materialien beziehen, doch stehe eine umfassende marxistische Analyse noch aus. Er werde nur auf drei Komplexe eingehen, die aber dennoch einen Einblick geben könnten, was damals tatsächlich gewesen ist. Er führte aus, daß es sich zweifellos um eine Zeit des Aufbruchs gehandelt habe. In alltagspraktischer Relevanz gingen viele junge Leute ihrer Familiengeschichte auf den Grund. Hinzu kam als wesentlicher Faktor, daß durch die massenhafte Verbreitung des Fernsehens der US-Imperialismus durch den Vietnamkrieg ebenso sein Ansehen verlor wie seine politischen Partner in anderen Ländern. In der Grundtendenz fand eine Art Kulturrevolution statt, die über das studentische Milieu hinausreichte. Die studentischen Formen der Selbstorganisation und Diskussionsprozesse spielten zwar eine wichtige Rolle, sind aber nicht mit der 68er Bewegung gleichzusetzen. Insgesamt entwickelte sich eine neue Protestkultur, politische und soziale Ansprüche wurden auf den Straßen und Plätzen in neuen Artikulationsformen angemeldet, und diese neue Bereitschaft der Artikulation eigener Interessen wirkten bis in die Gewerkschaften hinein. Dies zeigen beispielsweise die Arbeitskämpfe der IG Metall und deren Erfolge in den 70er Jahren. In dieser Zeit geriet die Profitrate des Kapitals unter Druck, was dann in den 80er Jahren zu Sozialabbau und Neoliberaler Gegenoffensive führte. 68 wurden Forderungen nach Demokratie und Mitbestimmung lauter, und es setzte auch ein feministischer Aufbruch ein. In die Atmosphäre der damaligen Zeit fiel die Gründung der DKP, die zwar nicht ursächlich aus den 68er Ereignissen resultierte, da die Vorbereitung viel länger gedauert hatte.

Was sich in vielfältigen Formen zum Ausdruck brachte, war nicht voraussetzungslos. In vielen kapitalistischen Ländern fanden seit Mitte der 60er Jahre demokratische Neufundierungsprozesse statt. Zugespitzt ließe sich sagen, daß die Herrschenden in den meisten Metropolenländern aus dem Tritt geraten waren, weil bisher wirksame soziokulturelle Regulationsformen mit spezifischen Integrationseffekten und die ihnen zugeordneten alltagskulturellen Orientierungen und Verhaltensmuster unbrauchbar geworden waren. Im Kern ging es darum, daß die konsumgesellschaftlichen Lebensformen, die sich allmählich durchzusetzen begannen, nicht mehr so ohne weiteres mit den traditionellen Leistungsorientierungen in Übereinstimmung zu bringen waren. Denn um der stetig steigende Massenproduktion gerecht zu werden und den in den Warenkörpern inhärenten Mehrwert zu realisieren, mußte der Konsum stimuliert werden. Auf das Alltagssubjekt bezogen bedeutete das, das konsumierende Subjekt mit dem Arbeitssubjekt, das nach wie vor den Leistungsimperativen unterlag, zu versöhnen. Genuß im vermeintlichen Warenparadies und Askese im Arbeitsleben mußten in Übereinstimmung gebracht werden. Aber die entsprechenden Formierungskonzepte standen damals noch nicht zur Verfügung. Die 68er Ereignisse waren selbst Ausdruck dieses soziokulturellen Umbruchs und artikulierten wesentliche Widersprüche des Metropolenkapitalismus. Aber zu einer Lösung im progressiven Sinne trugen sie letztendlich nichts bei. Denn vom intellektualistisch stilisierten Hedonismus der 68er Bewegung wurde zwar das Verhältnis von Genuß und Leistung in Frage gestellt, aber auf einer sehr illusionären Grundlage. Es wurde unterstellt, daß die Produktivkräfte so weit entwickelt wären, daß ohne revolutionären Bruch Genuß und Leistung, Produktion ohne selbstunterdrückende Arbeit möglich geworden sei. Verzichtet wurde infolge solcher Positionierung darauf, den konkreten Charakter bestehender Herrschaft zu entschlüsseln. In ihrer Grundtendenz wurden viele Fraktionen der später sogenannten alternativen Bewegungen, wenn auch ungewollt, zu Komplizen bestehender Herrschaft, weil sie die weiterhin prägende Bedeutung des Leistungsimperativs ignorierten und nicht zur Kenntnis nahmen, daß bestehende Herrschaft ihre Basis in der Arbeitswelt hat. Dieser Affirmationseffekt war mit der Verdrängung der Tatsache verbunden, daß eine grundlegende Kulturrevolution, die große Teile der 68er für sich in Anspruch genommen haben, die grundlegende sozioökonomische Umwälzung und ihre bewußte Organisation nicht ersetzen kann, so der Referent.

Als zweiten Komplex nannte Seppmann die Spezifik des Mai 68 in Frankreich, die man letztlich nur als eine traditionelle Klassenauseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit begreifen kann. Dies wurde nicht nur von den bürgerlichen Apparaten ignoriert, sondern auch von links kaum problematisiert. Statt dessen werden in der Regel die bürgerlichen Zerrbilder über den Pariser Mai als ein ausschließlich karnevaleskes Ereignis übernommen. Die studentischen Straßenaktionen fanden in einer Phase intensiver Konfrontation zwischen Kapital und Arbeit statt, es existierte die reale Perspektive einer Revolution in einem hochentwickelten Land. Da hat es vorher und danach nicht gegeben, doch war es zugleich eine tragische Situation. Während die Organisationsfrage bei den Aktivisten auf der Straße tabuisiert war, wußten die organisierten Kräfte der traditionellen Arbeiterbewegung mit dem anwachsenden Widerstandspotential nichts anzufangen. Obwohl viele Fabriken besetzt waren und es nur des Einsatzes einer Avantgarde wie in Gestalt der Kommunistischen Partei bedurft hätte, um eine Mobilisierung zu erreichen und die Kulturrevolution in eine Revolution der Arbeiter überzuleiten. Zu dieser Zeit der Maiunruhen waren die meisten großen Fabriken besetzt und 10 Millionen Arbeiter und kleine Angestellte befanden sich in einem spontanen Streik. Alle Indizien sprechen dafür, daß die Arbeiter zu Aktionen bereit waren, daß sie das bestehende System in Frage stellten, aber es gab ein erbärmliches Versagen der KPF-Apparate, die sich auf Anraten Moskaus in einer Strategie der Zurückhaltung äußerte. Moskau hatte den Genossen angeraten, um das labile Gleichgewicht zwischen den Atommächten nicht zu gefährden, auf die Zuspitzung der Situation zu verzichten. Die Bourgeoisie war handlungsunfähig geworden, ihre wichtigsten Vertreter und auch der Präsident hatten schon fluchtartig das Land verlassen. Es ist das Kennzeichen einer revolutionären Situation, daß sie jetzt existiert und morgen schon wieder vorbei sein kann. Als De Gaulle merkte, daß die Linke nicht bereit war, diese Möglichkeit zu ergreifen, kehrte er nach Paris zurück und schaffte es mit großem politischen Geschick, diese Bewegung in die Sackgasse laufen zu lassen. Die Schritte zur Machtergreifung, die möglich gewesen wären, sind nicht erfolgt. Die heterogenen Massen auf der Straße waren nicht der entscheidende Faktor. Sie hatten die Gestalt dessen, was Hardt und Negri heute als Multitude bezeichnen, und konnten selbsttätig nicht vollziehen, was zur Lösung der Machtfrage nötig gewesen wäre. Wegen dieser Versäumnisse hat sich die bürgerliche Klassenmacht in Frankreich wieder reorganisieren und stabilisieren können. Deshalb wurde der Mai 68 eine der großen Niederlagen der Arbeiterbewegung. Sie hat sich nicht nur in Frankreich, sondern ganz Europa davon bis heute nicht erholt, so Seppmann.

Als dritten Aspekt führte er die sogenannte sexuelle Revolution an, die in wesentlichen Teilen kaum mehr als ein Mythos sei. Das zeigten alle sexualwissenschaftlichen Untersuchungen, denn das sexuelle Elend und die Irritation in den Geschlechterverhältnissen sind nicht verschwunden. Deshalb kann man sagen, daß auch die sogenannte sexuelle Revolution eine gescheiterte ist. Die Geschlechtsverhältnisse sind Wüsten der Lustlosigkeit und Frustration geblieben. Im besten Fall bleibt Eros fragmentarisiert, wenn nicht gar gefesselt und ist oft von marktwirtschaftlichen Prinzipien wie Selbstbezüglichkeit und Konkurrenzorientierung geprägt. Ein emanzipatorischer Umgang mit den erotischen Bedürfnissen wird zuletzt von den neoliberalistischen Lebensverhältnissen alles andere denn gefördert. Über diese kritische Bestandsaufnahme hinaus ist es eine der üblichen Verwechslungen von Ursache und Wirkung, wenn der Studentenrevolte eine fundierende Rolle bei der Veränderung des sexuellen Verhaltens zugesprochen wird. Es ist geradezu ein Witz, daß die Selbstdarstellungspraktiken einer Berliner Kommune 1, die sich nach den Vorgaben der Bildzeitung und ihrer Fotografen präsentierte, Auslöser von Prozessen erotischer Selbstbefreiung und gesellschaftlicher Enttabuisierung gewesen sein sollen. Tatsächlich gingen grundlegende Veränderungen auch in den Schlafzimmern der Durchschnittsbevölkerung den oberflächlichen medialen Spiegelungen zum Trotz den 68er Jahren weit voraus, wie schon von den großen sexualwissenschaftlichen Studien in den frühen 60er Jahren belegt wurde.


Sozialrevolutionäre Veränderung der Gesellschaft

Ulrike Heider erlebte die 68er Bewegung in Frankfurt/Main, wo sie seit 1967 bei den öffentlichen SDS-Mitgliederversammlungen präsent war und sich seit 1968 an den Aktionen einer Gruppe radikaler Germanisten beteiligte. Sie arbeitete mit Anarcho-Syndikalisten zusammen und sympathisierte mit dem frühen RK (Revolutionärer Kampf). Von 1971 bis 1974 war sie in Frankfurt Hausbesetzerin. Der Blick auf die 68er Bewegung wird ihres Erachtens von drei Sorten Interpreten geprägt. Das sind einmal die Verteufler, die den 68ern vorwerfen, von Anfang an von Gewalttätigkeit, Antisemitismus und totalitärer Ideologie getrieben gewesen zu sein. Einige davon, wie Götz Aly, sehen sie als tragisch-pathologische Opfer ihres spezifisch deutschen Generationskonflikts. Den Verteuflern entgegen steht eine Minderheit von Glorifizierern, die als Zeitzeugen nostalgisch-euphorisch von ihrer schönen Jugend um 1968 schwärmen wie von einem verlorenen Paradies. Den Verteuflern und Glorifiziereren den Rang abgelaufen haben im Jubiläumsjahr die Verharmloser, die die Geschichte der Bewegung als nationale Erfolgsgeschichte schreiben. Sie meinen, die 68er hätten die Bundesdeutschen vom Mief der Adenauer-Ära befreit und das Land demokratischer, toleranter, abwechslungsreicher, bunter und auch weiblicher gemacht. Nach den Verirrungen von K-Gruppen und RAF hätten sie die Grüne Partei gegründet, welche zusammen mit dem Segen der Frauenbewegung ihre größte Errungenschaft sei.

Verteufler, Glorifizierer und Verharmloser unterschlagen jedoch das ursprüngliche Ziel der Bewegung, nämlich die radikale sozialrevolutionäre Veränderung der Gesellschaft hin zu einem Sozialismus, der soziale Gerechtigkeit, partizipatorische Demokratie und individuelle Emanzipation verbindet. Ein internationalistisch orientierter Sozialismus, der von Elementen der Rätebewegung, des Linkskommunismus und des Anarcho-Syndikalismus geprägt war und in der Geschichte bisher nur in Ansätzen verwirklicht wurde. In der BRD fing alles damit an, daß sich seit Ende der 50er Jahre Angehörige der Studentenorganisation der SPD, des SDS, zusammen mit anderen Parteilinken vom Godesberger Programm distanzierten und die Wiederbewaffnung ablehnten. Der SDS wurde deshalb von der SPD schon 1961 ausgeschlossen. Seither entwickelte sich eine undogmatische, nonkonformistische Linke jenseits von Sozialdemokratie und real existierendem Sozialismus, die sich im SDS mehr und mehr durchsetzte. Bezeichnend für diese war eine leninkritische Marx-Rezeption in der Tradition von Rosa Luxemburg, die Rehabilitierung der von den Nazis vertriebenen Psychoanalyse und der Kritischen Theorie. 1965 stießen Rudi Dutschke und der spätere Kommunegründer Dieter Kunzelmann zum SDS und brachten ein kultur- und sexualrevolutionäres Element ein. Beide kamen aus der Münchner Gruppe Direkte Aktion, die aus der anarchistischen bzw. situationistischen Künstlergruppe Spur hervorgegangen war. Wie Bakunin und andere Mitglieder der antiautoritären Fraktion der Ersten Internationale meinten sie, daß die revolutionäre Organisation die nachrevolutionäre Gesellschaft vorwegnehmen müsse, etwa in kollektiven Lebensformen und mit einer freien Sexualmoral. In den späten 60er Jahren sorgten der SDS und sein Umfeld, zu dem auch Nicht-Studenten gehörten, für eine radikale Kritik an den Autoritäten in allen Gesellschaftsbereichen - ein Sprengstoff, der bis heute wirksam ist, so die Referentin.

Ebenso bedrohlich für die Herrschenden war der internationale Charakter der Bewegung. Dieser manifestierte sich in Demonstrationen gegen den Schah von Persien und den Krieg im fernen Vietnam. Am internationalen Vietnamkongreß 1968 in Berlin nahmen Intellektuelle aus der ganzen Welt teil. Tatsächlich war die 68er Bewegung Höhepunkt der internationalen Reaktion auf eine weltweite Krise derer, die in den 60er Jahren an den Hebeln saßen. Dafür sorgten die antikolonialen Befreiungsbewegungen, die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, die internationale Bewegung gegen den Krieg in Vietnam, die Studentenbewegungen von Japan über die USA bis in die BRD und auch die sozialistischen Reformbewegungen in den Ostblockländern. Vieles stand damals auf der Kippe. Der Pariser Mai hätte anders ausgehen können, ebenso wie der Prager Frühling. Viele hatten das Gefühl, daß die damaligen Herrschenden in der Welt es nicht mehr lange machen würden.

Seit 1968 begann sich im SDS die Spaltung der neuen Linken in einen autoritären und einen antiautoritären Flügel abzuzeichnen, die 1969 manifest wurde. Ein Teil der Minderheit der mit der illegalen KPD sympathisierenden sogenannten Traditionalisten trat in die 1968 neu gegründete DKP ein, einige Trotzkisten in die GIM. Viele Antiautoritäre vollzogen eine politische Kehrtwende und machten sich an das, was sie die Liquidierung der antiautoritären Phase nannten. Sie schlossen sich den seit 1968 gegründeten maoistischen und neostalinistischen Miniparteien, den sogenannten K-Gruppen an, der KPD/ML, dem KBW oder der KPD/AO, und wandten sich von fast allem ab, was sie vorher geglaubt und gesagt hatten: Von der Kritischen Theorie, vom Zusammendenken des Marxismus mit der Psychoanalyse und vom undogmatischen Marxismus. Sie verabschiedeten sich vom Antiautoritarismus, Nonkonformismus, dem Ziel der Verbindung von politischer und persönlicher Veränderung und einem demokratischen Sozialismus. An deren Stelle traten eine dogmatische Marx-Interpretation und die Fixierung auf straffe zentralistische Organisation mit dem Hauptziel des Aufbaus einer Partei in der Nachfolge der KPD vor 1933. Offenbar ging das neue Selbstbewußtsein, das die Erschütterung von 1968 den Revoltierenden gegeben hatte, bei vielen mit dem Wunsch einher, das Leben ganz der Veränderung der Gesellschaft zu widmen. Dazu aber kam die Enttäuschung darüber, daß die Notstandsgesetze nicht verhindert werden konnten, ein erster Geschmack von staatlicher Verfolgung und vielleicht auch Angst vor der Freiheit. Der Wunsch, sich etwas zu schaffen, das dem Leben als Berufsrevolutionär eine feste Struktur und Ordnung geben würde, und die Sehnsucht nach mächtigen Verbündeten, waren die Folge. Die Sieger der sozialistischen Geschichte, ob in Peking oder Moskau, bekamen seither viel Bestätigung von denen, die ursprünglich einen anderen Sozialismus wollten.

Ulrike Heider schilderte im folgenden die weitere Entwicklung in Frankfurt, wo die Lederjackenfraktion der KPD/ML und die Anarcho-Syndikalisten mit ihren schwarzen Halstüchern zu Intimfeinden wurden. Machohaft militant und betont antiintellektualistisch die einen, ihrerseits eher praxis- als theoriebezogen und einem bohemienhaften Lebensstil zugeneigt die anderen. Die Anarchisten schlossen sich zu einer Gruppe namens FNL (Föderation Neue Linke) zusammen, die in Bockenheim Stadtteilarbeit leisteten. Sie unterstützten Mieterstreiks und versuchten, lokale Konflikte zu schüren. Dazu kam die Unterstützung linkspolitisierter Schüler oder Lehrlinge in Kleinstädten und Dörfern, die oft Kontakt zu örtlichen Betrieben hatten. Das Anarchismusverständnis der FNL leitete sich aus dem der gewerkschaftsorientierten unter den spanischen Anarchisten von 1936 ab. Bakunin und Marx waren für sie kein Widerspruch, die beiden waren auf Plakaten friedlich nebeneinander in Rot und Schwarz zu sehen. Einer der Frankfurter Anarchisten ging später zur Bewegung 2. Juni, während die anderen, die Referentin eingeschlossen, RAF und 2. Juni als K-Gruppen kritisierten. Was sie persönlich für die Anarchisten eingenommen habe, sei neben ihrem Antiautoritarismus vor allem die hohe Achtung vor dem Individuum und die Betonung der Emanzipation jedes einzelnen gewesen. Eine Alternative zu den K-Gruppen wurde in Frankfurt nicht nur die FNL, sondern auch die linkssozialistische Gruppe Revolutionärer Kampf (RK), die dank ihrer prominenten Mitglieder Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer in die Geschichte einging. Nach einer theoretischen Vorbereitungsphase begann ein Teil der RKler, in den Opel-Werken zu arbeiten. Anders als die K-Gruppler, die zur gleichen Zeit in die Betriebe gingen, um proletarische Mitglieder für ihre größtenteils studentisch bestückten Parteien zu gewinnen, betrieben die AKler zunächst eine Art Feldforschung zu den Arbeitsbedingungen der Fabrikarbeiter. Daraus sollten später Strategien für die Zusammenarbeit von Arbeitern und Studenten entwickelt werden.

Wie Frauen und Männer im SDS und in anderen radikalen Zusammenhängen miteinander umgingen, habe sie als große Befreiung empfunden, so Ulrike Heider. Die Mauer zwischen den Geschlechtern wurde niedergerissen, Frauen und Männer redeten ganz normal miteinander, befreit von den durch die prüde Umwelt der 50er und frühen 60er Jahre aufgezwungenen erotischen Hintergedanken. Die Geschlechterrollen verloren ihre Rigidität, und keiner glaubte mehr, daß Politik nur eine Sache für Männer sei. All das, was später von feministischer Seite über die arroganten, geilen SDS-Männer, die Frauen zum Flugblättertippen und Vögeln funktionalisiert hätten, gesagt wurde, habe sie unter radikalen Linken selten erlebt. Typisch dagegen war es für Liberale oder Konservative, die sich unter die Revoltierenden mischten, um sich an ihrem Feuer zu wärmen. Auf den SDS-Versammlungen gab es immer mehrere Frauen, die regelmäßig durch kluge Statements auffielen und die Politik der Organisationen mitbestimmten. Der Aufstand der zornigen Weiber aus dem SDS von 1968, deren Tomate unglücklicherweise keinen typischen Macho, sondern den schwulen, mickrigen und sehbehinderten Hans-Jürgen Krahl traf, richtete sich einem weitverbreiteten Mißverständnis entgegen, weder gegen die Männer als solche noch gegen deren Sexismus. Statt dessen maßen die SDSlerinnen ihre Genossen am eigenen Anspruch der Geschlechtergleichheit und der Verbindung politischer mit persönlicher Emanzipation. Der SDS erschien ihnen trotz aller Mängel in bezug auf das Geschlechterverhältnis als einzige Organisation, der sie sich anschließen konnten. In ihren Weiberräten versuchten diese Frauen eine Strategie zu entwickeln, um die Ansprüche der neuen Linken einzuklagen, als deren Teil sie sich fühlten. In den Frauengruppen, die nach dem Tomatenskandal gegründet wurden, lebte dieses Erbe eine Zeitlang weiter, bis es mehr und mehr von der Konzentration auf weibliche Identität und Abgrenzung gegen die Männer verdrängt wurde. Die Erklärung von Marx und Freud zu patriarchalischen Oberteufeln, die den Bruch mit der neuen Linken bedeutete, trug ebensoviel dazu bei wie die Ideologie vom Mann als dem geborenen Vergewaltiger. All das war auch in der RK-Frauengruppe wirksam, die ähnlich wie Joschka Fischers Putzgruppe gegen Mitte der 70er Jahre zur Entpolitisierung der Organisation beitrug.

Die K-Gruppen gingen Ende der 70er Jahre an ihrem Dogmatismus und den dazugehörigen historischen Illusionen zugrunde. Die meisten undogmatischen Gruppen und die Spontibewegung scheiterten daran, daß sie die individuelle Emanzipation solange gegen die Politik ausspielten, bis sich letztere zu erübrigen schien. Der Berliner Tunix-Kongreß von 1977 mit seinem Abschied von den einstigen sozialrevolutionären Zielen und dem neuen Anspruch, das Leben so zu führen, als habe die Revolution schon stattgefunden, war dafür typisch. Persönlich habe sie die beschriebene Entwicklung in Frankfurt in einem besetzten Haus miterlebt. In diesen Häusern, die ursprünglich als Projekte der Zusammenarbeit von wohnungslosen Studenten und Arbeitsemigranten gedacht waren, verflüchtigte sich der Anspruch politischer Arbeit mehr und mehr zugunsten der Pflege einer unbürgerlich hedonistischen Lebensweise und Identität. Der RK verschwand um 1975 sang und klanglos, und es triumphierte die informelle Spontiszene, das alternative Milieu mit seinen Cafes, Kneipen, Läden, Zentren, Buchhandlungen, Kinderläden, Bioläden und Druckereien bis hin zu einem linksradikalen Friseur. Wie eine utopische Insel, auf der man die Strapazen der kapitalistischen Wolfswelt entkommen könne, ohne sich noch um deren Veränderung kümmern zu müssen. Andere gründeten Landkommunen und alternative Bauernhöfe. Mit ihren agrarromantischen und nostalgisch rückwärtsgewandten Ideologien stießen sie oft an die Grenze des Reaktionären. Ähnlich war das Schicksal der Anarchisten. Der Anarcho-Syndikalismus geriet im Laufe der 70er Jahre in Vergessenheit. Marx wurde seither im Namen des Anarchismus nicht weniger als in dem des Feminismus verworfen. Was übrigblieb, waren Ökoanarchisten à la Murray Bookchin mit ihrem Glauben an den Kreislauf der Natur und eine urzeitliche Dorfgemeinschaft als Vorbilder einer besseren Gesellschaft, und solche, die sich für den bewaffneten Kampf entschieden. Generell kann man sagen, daß der gesamtgesellschaftskritische Bezug der universalistischen 68er Bewegung in ihren tendenziell partikularistischen Nachfolgeorganisationen mit der Frauenbewegung, der Schwulenbewegung, der Anti-Akw-Bewegung und der Ökologiebewegung trotz deren unbestrittener Verdienste verlorenging. Die Entschlossenheit der Antiautoritären der später 60er und frühen 70er Jahre, alles zu verändern, und damit in allen Bereichen der Gesellschaft gleichzeitig anzusetzen, scheine ihr das Wichtigste am Erbe der 68er Bewegung zu sein. Dieses aber sei nichts wert ohne Benennung und Kritik ihrer Zerfallserscheinungen. Weder Verteufelung oder Glorifizierung noch Verharmlosung dieser Zeit machen es möglich, aus der Geschichte zu lernen. Ich plädiere für eine genaue und kritische Aufarbeitung auch nach dem Jubiläumsjahr, schloß Ulrike Heider ihre Stellungnahme.


Gegensouverän in einem revolutionären Moment

Wie Karl-Heinz Dellwo ausführte, könne man in einer Situation wie 68 seines Erachtens das Unmittelbare erkennen, aber noch nicht die ganze historische Dimension. Das Besondere von 68 scheine ihm zu sein, daß für einen großen Teil der jungen Nach-Nazi-Generation etwas geschah, was ihr schlagartig klarmachte, wo man hingehörte und wo nicht. Man gehörte zu denen, die alles verändern wollten, und nicht zu denen, die, vielleicht reformiert, aber dennoch die Welt der Vergangenheit fortsetzen wollten. "Plötzlich war die Vorstellung einer anderen Welt konkret, sie war da und sie war befreiend, ein neues Atmen, ein Zerfetzen des Nebels der Gewohnheiten und es brachte auch die notwendigen Tugenden für den Aufbruch mit sich: Unerschrockenheit, Mut, Übermut, völliger Verlust der Angst vor Autoritäten und Traditionen, Selbstsicherheit und Selbstvertrauen gegenüber einer Welt, die nicht die unsere war oder die wir nicht als die unsere nehmen wollten." Man könne weder die deutsche 68er Geschichte noch den deutschen Herbst 1977 von der Besonderheit der deutschen Geschichte in Gestalt des Nazi-Faschismus trennen. Die Volksgemeinschaft war in Deutschland real wie in keinem anderen westlichen Land, fast alle waren irgendwie in die Verbrechen des Systems verstrickt. Deswegen wollte kaum einer an der Vergangenheit rühren. Von der altnazistisch geprägten Mehrheitsgesellschaft kam nach 1945 vor allem Verleugnung und Verdrängung mit der Folge, daß den ersten Nachgenerationen die Verantwortung für die Schuldverarbeitung aufgeladen wurde und ebenso jede Übernahme von Erfahrung der älteren Generation durch die jüngere ausgeschlossen war. Es blieb nur der Bruch und der Neuanfang. Das machte den Unterschied zu anderen Ländern aus, insbesondere etwa zu einem Land wie Italien. Dort gab es die Resistenza, der Widerstand gegen das System war nicht besiegt, und eine große Kommunistische Partei. In Deutschland gab es als Widerstand ein paar heroische Individualisten wie Georg Elser, kleine Gruppen wie die Weiße Rose, etwas kommunistischer Untergrund und den deutschnationalen Putschversuch des 20. Juli, dessen Akteure Hitler weghaben wollten, um mit den westlichen Alliierten zu verhandeln in der Hoffnung, sich mit ihnen zusammen gegen die Sowjetunion zu stellen.

Dazu kam es dann wenige Jahre später in der neuen BRD, als die alten Nazis wieder Kommunisten verfolgen und 1956 die KPD verbieten konnten. Diese Generation war im Kern unbelehrbar, nicht durch eigene Erfahrung und nicht durch Ereignisse von außen. Sie hat in einer anderen Kleidung einfach weitergemacht. In Italien dagegen ist der Widerspruch, der in den 60er Jahren die ganze Welt erfaßt hatte, dann auch in den bewaffneten Kampf übergegangen, aber er blieb lange Zeit an die Arbeiterklasse gebunden. Auch hier sind die bewaffneten Gruppen am Ende das geworden, was die RAF von Anfang an war, Stellvertreter der Klasse, statt deren Ausdruck zu sein. In Frankreich gab es diese Entwicklung nicht. Man konnte dort der Arbeiterklasse ihre historische Rolle noch nicht absprechen. Dort haben die Studenten nicht versucht, eine Avantgarderolle zu übernehmen, sondern die politische Autorität der Arbeiterklasse in deren Streiks und Fabrikbesetzungen anerkannt.

In Deutschland hatte sich die Arbeiterklasse, nach 1945 gefördert von ihren sozialdemokratisierten Gewerkschaften und der SPD, von eigenen politischen Ansprüchen verabschiedet und in die politische Leere des Verteilungskampfs geflüchtet. Ihre Selbstbeschädigung versuchte sie durch Wiederaufbau zu kompensieren. Sie war für die 68er Bewegung nicht ansprechbar, und die, die es versuchten, kamen über die Karikatur einer Arbeiterbewegung nicht hinaus. Der Mai 68 in Frankreich war wohl das stärkste westeuropäische Ereignis in dieser Zeit, weil die Arbeiterklasse mit Millionen an diesem Ereignis beteiligt war. Daher kam dort die radikale Minderheit außerhalb der Fabrik nicht auf die Idee, von außen die Führung des revolutionen Kampfs zu übernehmen. England hat wiederum eine andere Tradition, sie hatten keinen Mussolini, keinen Pétain, keine innere Resistance, sie waren gegenüber den Faschisten politisch und moralisch auf der richtigen Seite und sie hatten eine starke Arbeiterklasse insbesondere im Kohlebergbau, die sich ihrer Rolle als Gegenkraft in der Gesellschaft noch sicher war und den Klassenkampf regelte. Der Kampf gegen Rassismus und Krieg, insbesondere den Vietnamkrieg, wurde auch dort von der Jugend geführt, nicht vom Proletariat. Aber das allein schlägt nicht um in den Versuch, die Revolution zu erzwingen.

Die Chiffre 68 stieß bei Jugendlichen auf einen offenen Sehnsuchtsraum und war mit der Hoffnung auf Beteiligung an etwas ganz anderem und dem Ende der Einsamkeit verbunden. Die Welt, die man kante, wollte man nicht, und plötzlich war eine andere da, nicht mehr als Traum, sondern als konkrete Wirklichkeit. Deswegen sei es zutreffend, von einem revolutionären Moment zu sprechen, so Dellwo. Niemand weiß, ob die Revolution realisierbar ist, sonst wäre es keine. Sie ist immer auch ein Versuch und ein Wagnis, das scheitern kann. Es geht aber darum, daß geschichtlich so etwas wie ein kleiner Türspalt offen ist. Probiert man nicht, die Tür aufzudrücken, bleibt eine ganze Generation traumatisiert zurück, weil sie sich ihr ganzes Leben vorhalten würde, es nicht versucht zu haben.

Benno Ohnesorg steht als Symbolfigur mit dem politisch gedeckten Polizeimord an ihm für die Brutalität und Militarisierung einer auf Zwang und Ordnung ausgerichteten Gesellschaft, die allen Widerspruch niederkämpfen will. Dutschke dagegen steht für politische Artikulation und die Rhetorik des Aufbruchs, für das Verwerfen der realsozialistischen Zwänge und für einen neuen Sozialismus. Der Staat wurde 1968 nicht als anderer Staat wahrgenommen, sondern vielmehr kenntlicher. Die emotionalen Bezüge, die man als Kind und Jugendlicher zur Welt hatte, bekamen plötzlich eine begriffliche Artikulation. Kenntlich wurde aber auch die erhoffte neue Gegenwelt. Und kenntlich wurden alle Reformisten, die einen einfangen und von dem selbstgesetzten Recht auf Gegensatz und Abtrennung zur Altgesellschaft enteignen wollten. Die offen rechten und altnazistischen Kräfte waren einfach zu erkennen, bei der Sozialdemokratie trat der Betrug im Mantel angeblicher Verteidigung auf. Jede ihrer Reformen wurde am Ende von denen, denen sie als großer sozialer Fortschritt angedreht worden waren, doppelt bezahlt. 1968 schien für einen geschichtlichen Moment eine Gegenwelt auf, die im Unterschied zur erstarrten realsozialistischen ungeheuer attraktiv war, ein gesellschaftliches Leben, das jenseits bestimmter, noch nicht überwundener Notwendigkeiten vom Individuum als gesellschaftlichem Subjekt ausging.

Das Besondere an 68 war, daß es ein neues Außen geschaffen hat. Obwohl noch von der langen Welle der Oktoberrevolution angetrieben, war es auch ein eigener Gegenansatz. Das Individuum wurde nicht mehr als Funktion für eine neu zu errichtende Welt gesetzt, sondern sollte schon ihr Ausdruck sein. Der eigene Gegensatz wurde zum Ausdruck für das Neuauftreten eines Gegensouveräns gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft. Das ist geschichtlich nach der Oktoberrevolution zum ersten Mal in der westlichen Welt wieder aufgetreten. Diese Gegensouveränität ist 68 konkret geworden. Ohne sie wäre 68 tatsächlich nur ein kurzfristiges Ereignis, eine kleine Generationserregung, die gerade mal einem Modernisierungsschub im Kapitalismus dienlich war. Aber es hat mehr als ein Jahrzehnt gedauert, bis die realen Brüche in der Gesellschaft durch Reform und durch Gewaltanwendung, aber auch durch die Selbstdelegitimierung bewaffneter Gruppen als letzte Vertreter von realem Anspruch auf Gegenmacht und Gegensouveränität neu zugedeckt und diese aufgebrochene Nachkriegsgeneration in grundsätzliche Anpassung und Integration getrieben wurde.

Statt 68 komplett abzuwerten, sollte man lieber von einer abgebrochenen Befreiung sprechen. Im Mai 68 wurde in Frankreich die alte Rolle der Arbeiterklasse neu anerkannt mit der Folge, daß die eigenen sozialen Prozesse, die unmittelbar auf die revolutionäre Umgestaltung des ganzen Lebens ausgerichtet waren, zurückgestellt werden mußten. Dieser Abbruch geschah ebenso in der BRD nach dem kurzen Sommer der Demonstrationen und Teach-ins, jedoch unter anderen Rahmenbedingungen. Hier war das Proletariat keine klassenkämpferische Kraft. Während das Zurücktreten der studentischen Jugend in Frankreich einer Realität im Klassenkampf entsprach, war es in der BRD eher die Angst vor der historischen Verantwortung. Deshalb folgten diese politischen Scheinbewegungen wie der Marsch durch die Institutionen oder das Entstehen neuer studentischer K-Gruppen. Damit wurde ein zentrales soziales Ereignis der 68er Bewegung, die Aufhebung der Trennung von Subjekt und Politik, aber auch der Versuch, Erkenntnis und Praxis in Einklang zu bringen, zurückgezogen. Aber die Frage nach der Befreiung war aufgeworfen und in den Gesellschaften so konkret geworden, daß sie ein reales Eigengewicht hatte. Sie blieb auch, nachdem ein Großteil der Akteure zwar noch lange den Grundsatzwiderspruch zum Kapitalismus als Ausdruck der eigenen Identität hatte, im Alltagsleben aber langsam und stetig in den reformierten neuen Existenzbedingungen versank. Das Grundsätzliche verblaßte mit den Jahren, seine fortdauernde Existenz aber erklärt, warum die bewaffneten Gruppen noch lange auf die Solidarität der 68er zählen konnten.


Die 68er sind nicht umsonst gewesen ...

Werner Seppmann wandte sich in der anschließenden Diskussion insofern gegen den Begriff des Abbruchs der 68er Bewegung, als man eher von einem Versanden sprechen müsse. In Deutschland wurden gegen eine intellektuelle Bewegung, die sich an Marx orientierte, die Berufsverbote ins Feld geführt. Staatliche Apparate arbeiteten massiv gegen kritisches Denken, in den Wissenschaften folgte eine Phase der Restauration. Der konkrete Charakter der Herrschaft sei von den meisten 68er Aktivisten nicht begriffen, es seien eher Differenzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Politikgeschäfts wahrgenommen worden. Zudem dürfe man in diesem Zusammenhang nicht vergessen, daß es damals die Alternative des real existierenden Sozialismus gegeben habe, wie immer man sie auch bewerte.

Dagegen führte Karl-Heinz Dellwo ins Feld, daß die KP Frankreichs im Grunde in Verlängerung dessen gehandelt habe, was 1919/1920 damit begann, den Sozialismus in einem Land aufzubauen und alles staatlichen Strukturen zu unterwerfen. Damit werde der emanzipatorische Gehalt der Revolution diszipliniert und kontrolliert. Mit Blick auf den Abbruch erinnerte er an die Hochsicherheitstrakte in Deutschland, die Elemente eines Zurichtungsprozesses gewesen seien. Der Abbruch wurde einerseits von außen erzwungen, hatte andererseits aber auch etwas mit den eigenen Vorstellungen zu tun, so Dellwo. Er hege große Zweifel daran, daß die Bewegung historisch reif war, eine Gegengesellschaft zu gestalten. Inzwischen habe sich das System totalisiert und alle Lebensbereiche des Menschen so besetzt, daß es kaum noch möglich sei, sich wie damals ein Außerhalb des Kapitalismus vorzustellen. Die Menschen machten heute das von innen heraus, wozu man damals noch die Berufsverbote und die Hochsicherheitstrakte brauchte. Es habe 68 etwas gegeben, das zu erkennen aus heutiger Sicht wertvoll sei: Erfahrung mit einer Gegenwelt, die einen befreit. Dann schließt sich die Tür, der historische Moment ist vorüber, die traumatischen Folgen seien Entwurzelung und Konsumismus. Wer die Grünen oder die Linkspartei als positive Veränderungen hochhalte, negiere, daß es sich um eine verlorene Geschichte handle. Damit müsse man sich beschäftigen.

Ulrike Heider unterstrich abschließend, daß die 68er Bewegung einer der wenigen Momente in der Geschichte gewesen sei, in der eine breite Bewegung mit sozialrevolutionären Mitteln versuchte, einen demokratischen Sozialismus herbeizuführen, der nicht durch eine Avantgarde angetrieben werden muß, sondern basisdemokratisch ist. Alle Mythen darüber lebten davon, diesen Moment zu negieren. Nach einem Gefühl totaler Isolation in den 90er Jahren lerne sie in jüngerer Zeit immer häufiger sehr interessierte junge Leute kennen, die in sozialrevolutionären Kategorien denken, einen nicht autoritären Sozialismus als Langziel anstreben und sich darüber auch theoretisch Gedanken machen. Andere Menschen ihres Alters hätten Ähnliches berichtet, was sie in der Überzeugung bestärke, daß die 68er keinesfalls umsonst gewesen seien.


Fußnote:

[1] www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/68er-bewegung/52026/demokratie-als-lebensform


Berichte und Interviews zur 23. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

BERICHT/087: Messe links - sich richtig stellen und richtigstellen ... (SB)
INTERVIEW/105: Messe links - Irrtum ausgeschlossen ...    Nick Brauns im Gespräch (SB)

18. November 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang