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BERICHT/091: Messe links - gewaltfrei fing es an ... (SB)


Unser Traum von der sozialen Revolution ist zu einem Alptraum geworden.
Fadwa Suleiman (Syrische Schauspielerin und Aktivistin)


Als gelte es, sich am Vorabend des Armageddon die günstigste Ausgangsposition für die letzte Schlacht zu verschaffen, tauchten Groß- und Regionalmächte, islamistische Milizen diverser Couleur, Baschar al-Assads Regierungstruppen und die Freie Syrische Armee das Land in Blut und verwandelten es in ein Trümmerfeld, fraktioniert in rivalisierende Einflußzonen. Der Zivilbevölkerung brachte dieser Konflikt Tod und Verderben, Millionen Menschen wurden in die Flucht getrieben. Sich ständig verlagernde Fronten und oftmals wechselnde Bündnisse sprengten feste Vorstellungen überschaubarer Konfliktparteien. Wenngleich sich im geostrategischen Rahmen durchaus die absehbare Lagerbildung herauskristallisierte, zeichneten sich die Verhältnisse im Detail doch oftmals durch einen Stellvertreterkrieg unwägbaren Verlaufs aus.

Nach Jahren des mörderischen Waffengangs und zahlloser Schreckensmeldungen scheint weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein, daß in Syrien wie auch anderswo in der Periode des sogenannten Arabischen Frühlings anfänglich eine rasch anwachsende sozialkämpferische Bewegung in Erscheinung trat, die auf der Straße bessere Lebensverhältnisse einforderte und diese einer repressiven Staatsführung abzuringen trachtete. Schon vor Ausbruch des Konflikts hatte eine jahrelange Dürre zu Hungersnot und massenhafter Binnenflucht geführt, so daß die soziale Lage zahlloser Menschen verheerend war. Dieser physische und gesellschaftliche Boden gab für viele nichts mehr an Lebensmöglichkeiten her, was maßgeblich dazu beigetragen haben dürfte, daß daraus die Entschiedenheit entsprang, die Stimme zu erheben und gemeinsam für eine grundlegende Veränderung einzutreten, deren beanspruchte Qualität im Zuge der Protestwelle weitere Elemente integrierte und an Reichweite zunahm.

Daß sehr bald innere Kräfte und äußere Mächte bestrebt waren, diese Erhebung zu okkupieren und zu instrumentalisieren, um sie ideologisch auszubeuten und militärisch zu eskalieren, ist weder mit der ursprünglichen Bewegung gleichzusetzen noch diskreditiert es ihre Intentionen, Kampfesformen und Ziele. Die deutsche Linke neigt auch in dieser Frage dazu, sich zu spalten, wobei oftmals bestimmte Aspekte der syrischen Gemengelage überbetont und andere ausgeblendet werden, um ein vermeintlich stringentes und widerspruchsfreies Paket zu schnüren. Wer hingegen dem Zweifel den Zuschlag gibt, um die eigene Position zu schärfen und weiterzuentwickeln, wäre gut beraten, sich auch mit jenen Auffassungen und deren Quellen auseinanderzusetzen, die so gar nicht ins eigene Konzept zu passen scheinen.


Beim Vortrag - Foto: © 2018 by Schattenblick

Lou Marin
Foto: © 2018 by Schattenblick


Gewaltfrei-revolutionäre Bewegungen in Syrien und im Sudan

Im Rahmen der 23. Linken Literaturmesse in Nürnberg stellte Lou Marin das Buch "Im Kampf gegen die Tyrannei. Gewaltfrei-revolutionäre Massenbewegungen in arabischen und islamischen Gesellschaften: der zivile Widerstand in Syrien 2011-2013 und die 'Republikanischen Brüder' im Sudan 1983-1985" [1] vor, das er gemeinsam mit Guillaume Gamblin und Pierre Sommermeyer herausgegeben hat. Es ist im Verlag Graswurzelrevolution erschienen, einer Strömung des gewaltfreien Anarchismus, die sich der Verbindung von gewaltfreier Aktion und freiheitlich-anarchistischem Denken widmet. Sie bezieht sich laut Marin insbesondere auf die Tradition der ghandianischen antikolonialen Bewegung in Indien und die Bewegung der African Americans in den 1960er Jahren in den Südstaaten der USA. Wir untersuchen die gewaltfreien Massenbewegungen der südlichen Hemisphäre und versuchen daraus zu lernen, so der Referent.

Nach seinen Worten waren die arabischen Aufstände und ganz besonders die gewaltfrei-revolutionäre Massenbewegung in Syrien die bislang größten gewaltfreien Bewegungen im 21. Jahrhundert weltweit. Daran solle das Buch erinnern und Mut machen, das für die deutsche Linke geschrieben sei, die oftmals sehr wenig von der Widerstandsgeschichte der Länder kenne, mit deren Geflüchteten sie es zu tun hat. Es handelt sich um ein internationales Projekt. Der Teil zu Syrien, auf den sich die französische Ausgabe beschränkt, ist im Frühjahr 2018 zeitgleich in französischer und deutscher Fassung erschienen, wobei zwei der drei Herausgeber Franzosen sind, von denen auch die Idee stammt. Diese Zusammenarbeit geht auf lange bestehende Verbindungen zurück. So gab es in Frankreich von 1964 bis 1974 die Zeitschrift "Anarchisme et non-violence", die der Graswurzelrevolution vorausging. Seinerzeit kam es im Zuge des Widerstands gegen den Ausbau des Truppenübungsplatzes im Larzac zu einem regen Austausch. Marin, der seit 2001 in Marseille lebt, hat die Texte aus dem Französischen übersetzt. Indessen entdeckte er aufgrund einer Kommunikationspanne erst nach Drucklegung des französischen Buches dessen Innenteil mit Wandmalereien aus dem syrischen gewaltfreien Widerstand, die leider nicht in der deutschen Ausgabe enthalten sind.

Aus diesem Grund führte er 15 dieser Bilder als Projektionen kommentarlos zur Einführung vor. Sie zeigen die Verbreitung und Tiefe des Denkens in gewaltfreien Kampfmethoden und stammen aus verschiedenen Brennpunkten des syrischen Widerstands. Die Fotos wurden größtenteils Ende 2013 gemacht, einige auch 2014. Sie dokumentieren, wie Kunstformen in einem existentiellen Widerstand etwas bewirken können, zumal sie vor dem Hintergrund völlig zerstörter Gebäude und Stadtteile entstanden sind.

Die gewaltfreie revolutionäre Massenbewegung 2011/2012 hat eine Niederlage erfahren. Um so bemerkenswerter sei es, daß eine derartige Kultur der Gewaltfreiheit auf Trümmern dargeboten wird, während man in den Medien ausschließlich etwas über Krieg und internationale Beteiligung erfährt, so daß die Erinnerung an die arabischen Aufstände im März 2011 und die Zeit der Massenbewegungen danach versiegt ist. Fadwa Suleiman, die mit einem wichtigen Text aus dem Frauenwiderstand vertreten ist, hat es einmal so formuliert: "Unser Traum von der sozialen Revolution ist zu einem Alptraum geworden." Die Texte im Syrienteil sind fast ausschließlich von Syrerinnen und Syrern geschrieben und stammen aus Webseiten wie "SyriaUntold" oder "Huriya" (Freiheit), die sich als unabhängig, basisdemokratisch und emanzipatorisch verstehen und Stimmen aus dem Widerstand sammeln.

Der zweite Teil enthält nicht zuletzt eine gewaltfreie anarchistische Koraninterpretation der Bewegung von Mahmud Taha, der es 1985 gelungen ist, eine islamistische Regierung im Sudan zu stürzen. Das an-Numairi-Regime war dazu übergangen war, öffentliche Auspeitschungen und Amputationen im Fernsehen zu übertragen und wurde von einer Massenbewegung gestürzt. Dies ist als positives Beispiel im zweiten Teil der deutschen Ausgabe enthalten, um dem Eindruck entgegenzuwirken, daß eine gewaltfreie Bewegung zwangsläufig scheitern muß, so der Referent.


Massendemonstrationen und staatliche Repression

Die gewaltfreie Erhebung in Syrien läßt sich in drei zeitliche Phasen untergliedern. Die erste Phase erstreckt sich von März bis Juli/August 2011, als offene Massendemonstrationen durchgeführt wurden. Sie waren so neu, daß sie eindrücklich beschrieben werden:

Ein Aktivist erinnert sich noch gut daran, wie er das erste Mal zum Demonstrieren auf die Straßen von Damaskus ging. Das war im März 2011, der Arabische Frühling war voll erblüht. Ein Teil der syrischen Bevölkerung hatte sich schon erhoben, um gegen die Regierung von Baschar al-Assad und fast 50 Jahre Machtausübung seiner Familie und der Baath-Partei zu protestieren. Der Aktivist sagt dann: Damals schrie niemand Parolen, weil alle Beteiligten vor Freude weinten. Auch für mich war es sehr bewegend. Ich dachte, endlich können wir ein neues Syrien aufbauen.

In dem Abschnitt über die erste Phase sind auch viele Texte von Frauengruppen enthalten. Frauen standen in den ersten Reihen, Frauenprojekte wurden gegründet, Frauen spielten eine wichtige Rolle im Widerstand. Fadwa Suleiman, die eine bekannte Schauspielerin in Theater und Fernsehen war, ist ein Portrait im Buch gewidmet. Sie hatte eine Vorstellung von einer anderen Form von Kunst und Widerstand: Die Frauen sind auf die Straße gegangen und haben auf großen Plätzen etwas auf den Boden gemalt, was dann zu Auseinandersetzungen geführt hat. Sie wurde verfolgt, mußte ins Exil gehen und ist 2017 in Paris gestorben. Neben ihr werden mehrere andere Protagonistinnen namentlich erwähnt, weil sie eine bestimmte symbolische Form des Massenprotests repräsentieren.

Auf diesen Protest reagierte die Regierung zunächst mit Repression der Polizei per Knüppel, Tränengas und Pfefferspray. Doch schon nach wenigen Wochen schoß die Armee in die Menge, es gab Tote und Verletzte. Dennoch gingen die Demonstrationen zunächst weiter auf die Straße, bis ab Sommer 2011 eine zweite Phase einsetzte.


Bucheinband 'Im Kampf gegen die Tyrannei' - Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick


Phantasievolle Aktionen als Ausweichmuster

Als es aufgrund der massiven Angriffe nicht mehr möglich war, in großer Masse auf der Straße zu demonstrieren, wich die Bewegung auf phantasievolle gewaltfreie Aktionen aus. Es waren symbolische Aktionen, die aber die Botschaft transportierten, daß man sich durch diese brutale Repression nicht einschüchtern lassen dürfe und neue Kampfformen finden müsse. Diese Phase erstreckte sich von Juli/August bis November/Dezember 2011.

In einer schwülen Nacht des Oktober 2011 saßen zwei Männer auf dem Rand eines Springbrunnens im Zentrum von Damaskus. Es war fast Mitternacht. Eine bedrohliche Stille legte sich über die arabische Altstadt und ihre engen Gassen. Einer der beiden Männer steckte sich eine Zigarette an, der andere griff sanft in seine Tasche und zog ein Papiersäckchen hervor, das mit gefärbtem Puder gefüllt war. Ohne bemerkt zu werden, leerte er das Säckchen in den Springbrunnen. Die beiden Männer standen auf und gingen. In dieser Nacht wurde das Wasser aller Springbrunnen in Damaskus nach und nach rot. Als die Sonne am Morgen aufging und die Bürgerinnen vorbeizugehen begannen, konnten sie die Farbe des Blutes im Wasser der Springbrunnen erblicken. Hitzige Diskussionen entstanden. Autofahrer filmten auf diskrete Weise beim Vorbeifahren die Springbrunnen, bald konnte man die Filme auf YouTube sehen. An diesem Morgen schlief Ahmet Zaino, ein 27 Jahre alter Architekt, noch etwas länger, nachdem er von seinem nächtlichen Abenteuer erst spät nach Hause gekommen war. Als er dann endlich erneut auf die Straße ging, stürzten die Leute auf ihn zu: Hast du gesehen, was die gemacht haben? Das Wasser aller Springbrunnen ist rot! Alle reden davon. Etwas später hörte er, daß alle Soldaten Assads den Befehl erhalten hatten, so schnell wie möglich das Wasser der Springbrunnen abzudrehen. Es brauchte eine ganze Woche, bis die Springbrunnen wieder ihre natürliche Farbe annahmen.

Ahmed Zaino hatte im Freundeskreis eine gewaltfreie Gruppierung aufgebaut. Er erzählte mit verschmitztem Grinsen von einer anderen Aktion, als ein Freund und er in den unebenen Gassen von Damaskus orangefarbene Tischtennisbälle fallenließen, von denen sie eine Wagenladung gekauft hatten und auf denen "Huriya" (Freiheit) geschrieben stand. Die Männer in Uniform, ob Polizei oder Militär, die alle Gewehre trugen, rannten den ständig aufspringenden Tischtennisbällen nach, um sie einzufangen. Und Zaino fügte dabei hinzu, wenn du nicht mit Waffen sprechen willst, mußt du eine andere Sprache benutzen.

In einem leeren Büroraum brachten sie 80 Megaphone zusammen, auf denen sie jeweils Verstärker und Lautsprecher befestigten, außerdem einen Wecker und ein Radio. Sie versteckten sie dann an verschiedenen Orten in ganz Damaskus. In einer dunklen Nacht im Dezember 2011 wurden die Bewohnerinnen der Stadt durch laute Musik in vielen Straßen aufgeweckt. Es war ein altes Lied, in dem Syrien gefeiert wird und das unter dem Assad-Regime verboten war. Und nach Abspielen des Lieds hielt Zaino durch die Megaphone eine Rede, in der er unter anderem sagte: Wir sind das Volk. Wir müssen vermeiden, daß die Leute sterben. Wir müssen damit aufhören, uns gegenseitig umzubringen. Die unmittelbare Reaktion waren enorm. Die Leute gingen auf die Straße und hatten Tränen in den Augen. Zaino lächelte dabei, als er erzählte, wie die Soldaten die Äste von mehreren Bäumen absägten, um so schnell wie möglich die Megaphone und Lautsprecher abzuschalten.

Von diesen und weiteren Aktionen wird im Buch berichtet, und wie Ahmet Zainos Rede zeigt, ging es darum, nicht in Kämpfe unter Syrern abzugleiten. Zu dieser Zeit waren bereits Initiativen in Gang gekommen, die Freie Syrische Armee aufzubauen.


Lou Marin im Vortrag - Foto: © 2018 by Schattenblick

Würdigung eines vergessenen Aufstandes
Foto: © 2018 by Schattenblick


"Dignity Strike" - Höhepunkt der gewaltfreien Bewegung

Die gewaltfreie Bewegung erreichte in den letzten beiden Dezemberwochen 2011 mit dem sogenannten "Dignity Strike" ihren Höhepunkt. Es hatten sich mehrere Initiativen aus Freundeskreisen entwickelt, die bei dieser Aktion erstmals zusammenarbeiteten. "Freedom Days", ein im Oktober 2011 gegründetes Kollektiv, brachte eine Anzahl gewaltfreier Gruppen zusammen, darunter die Local Coordination Comitees (LCC), das Syrian non-violence Movement (NVM) oder "Syrian People know their Way". Der "Dignity Strike" ging vom 14. bis 30. Dezember 2011 und war konzeptionell in Abschnitte von jeweils wenigen Tagen mit bestimmten Aktionen untergliedert. Es wurden Straßen blockiert, dann gingen die Leute von Mittag bis 18 Uhr nicht zur Arbeit, es folgten Streiks in Warenlager und Geschäften, dann an den Universitäten, Blockaden der Ausfallstraßen, ein Streik der Beamten und Angestellten und ab dem 30. Dezember ein unbegrenzter ziviler Ungehorsam.

Es war der erste Generalstreik in vier Jahrzehnten Herrschaft des Baath-Regimes und von der Mobilisierung her ein Erfolg. Die LCC dokumentierten mehr als 600 Arbeitsstätten, die bestreikt wurden, und diese Streiks erstreckten sich über zehn Gouvernements, große Bereiche der Wirtschaft waren lahmgelegt. Die Reaktion des Regimes war brutal. Es kam zu umfassenden Verhaftungen, und Regierungstruppen griffen Streikende an, brannten Geschäfte nieder und in Aleppo eine ganze Fabrik. In den folgenden zwei Monaten wurden 187 Fabriken geschlossen und nach offiziellen Angaben 85.000 Arbeiterinnen und Arbeiter entlassen.


Entstehung und Dynamik der Freien Syrischen Armee

Diese Repression forcierte die Entstehung der Freien Syrischen Armee, die auf verschiedene Weise gebildet wurde. Teils schlossen sich Leute, die bis dahin gewaltfreie Aktionen durchgeführt hatten, der FSA an. Da es in fast jeder Familie eine Waffe gibt, nahmen viele solche Waffen zu Demonstrationen mit, nachdem die Armee in die Menge geschossen hatte. Manche Demonstrationen ließen das zu, andere lehnten es ab. Der eigentliche Gründungsprozeß der FSA ging jedoch daraus hervor, daß es der Massenbewegung gelungen war, die Armee zu spalten. Etwa 30 bis 40 Prozent der Generäle wechselten mit ihren Truppen die Seiten. Wenngleich jede gewaltfreie Bewegung die Armee spalten möchte, bringen die übergelaufenen Offiziere und Soldaten ein militaristisches Bewußtsein mit: Ihr habt es vergeblich gewaltfrei versucht, jetzt kommen wir, in drei Monaten ist Assad gestürzt! In der Folge wurde die FSA sehr schnell in großen Teilen islamisiert, 2017 marschierte sie an der Seite der türkischen Armee in Nordsyrien ein, um die Kurdinnen und Kurden zu bekämpfen.

Die Dynamik der Militarisierung drängte die gewaltfreie Bewegung in den Hintergrund, und ab 2012 setzte die Massenflucht ein. Teile der gewaltfreien Gruppierung erwogen, ihren Widerstand fortsetzten, und trafen Anfang 2013 zu einem Kongreß in der Türkei zusammen. Sie kamen jedoch zu dem Schluß, daß eine erneute Massenbewegung nicht mehr möglich sei. Syrien war inzwischen in einen Flickenteppich verschiedener Milizen wie FSA, al-Nusra-Front und Islamischer Staat aufgeteilt. Ein flächendeckender Widerstand war nicht mehr möglich, ab 2013 gingen dann auch die prägenden Leute der Bewegung ins Exil. Fadwa Suleiman, die in den Untergrund gehen mußte, schloß in ihre Kritik auch die FSA ein:

Aber weil ich Gegnerin jeder bewaffneten Gewalt war, die der Opposition mit eingeschlossen, wurde ich zu einem Störfaktor für alle bewaffneten Fraktionen, darunter auch für die Salafisten und Muslimbrüder.

Sie wurde wahlweise als israelische Agentin, Tochter aus schlechtem Hause oder Komplizin des Regimes diffamiert. Unter Todesgefahr verließ sie schließlich über geheimgehaltene Verbindungen das Land und ging ins Exil nach Paris.


Bucheinband 'Non-violence dans la révolution syrienne' - Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick


Rätebewegung und Impulse aus dem Islam

Zwei Personen sind noch zu erwähnen, die in dem Buch sehr ausführlich dargestellt werden, weil sie bestimmte Aspekte der gewaltfreien revolutionären Massenbewegung verkörperten. Der säkulare Anarchist Omar Aziz ist in Syrien aufgewachsen, hat in Frankreich studiert, war Universitätsprofessor in den USA und kam aus Begeisterung über die Massenbewegung im März 2011 zurück nach Syrien. Dort legte er ein Papier zur Bildung lokaler Räte vor, das in allen Oppositionsgruppen diskutiert wurde und den sozialrevolutionären Charakter dieser Bewegung ausmacht. Aziz war kein Gewaltfreier, sondern ein von Kropotkin beeinflußter Anarchist, der größten Wert auf selbstorganisierte Räte legte. An den Rändern von Damaskus, in Kleinstädten und auf dem Land war die Verwaltung zusammengebrochen, worauf sich Räte organisierten und diese Aufgabe übernahmen. Sie mußten sich jedoch damit auseinandersetzen, daß sich die Assad-Regierung Stück für Stück wieder regenerierte.

Räte nach dem Modell von Omar Aziz gab es auch in den Gebieten, die von der FSA freigekämpft worden waren. Dort war das Problem vor allem die rasch zunehmende Islamisierung der FSA und die Übernahme der Räte durch dschihadistische Kräfte. Als der freiwillige Zustrom zur FSA versiegte, ging sie zu Zwangsrekrutierungen über und trieb Gelder für Waffenkäufe ein. Zudem machte sie den Räten, die sich in diesen Gebieten frei gebildet hatten, zunehmend Vorschriften und usurpierte sie letztlich.

Neben diesem säkularen Ansatz gab es aber auch eine gewaltfreie Tradition aus dem Islam heraus. Ein wichtiger Protagonist dieser Strömung ist Jawdat Said. In Syrien aufgewachsen, studierte er an der al-Azhar-Universität in Kairo, und kehrte nach Syrien zurück. Unter seinen zahlreichen Büchern ist das wichtigste bereits in den 60er Jahren erschienen: "Die Doktrin des ersten Sohnes Adams oder das Problem der Gewalt in der islamischen Aktion". Gewaltfreie Aktionen beriefen sich also nicht nur auf westliche Quellen, es gab vielmehr auch eine Herkunft aus einer eigenständigen syrischen islamischen Tradition. Jawdat Said bezog sich in seinem Hauptwerk auf den Konflikt zwischen Kain und Abel als Ausgangspunkt seiner Philosophie und begründete gewaltfreie Aktionen aus dem Koran.

Im Teil über den Sudan, der vom Sturz der islamistischen Diktatur al-Numairis handelt, ist von Mahmud Muhammad Taha die Rede. Auch dieser geht von einer Interpretation des Korans aus, indem er eine Umkehrung der Abrogation vornimmt. Bei Abrogation geht es um den Umgang mit gegensätzlichen Aussagen im Koran. In der Orthodoxie gelten stets diejenigen Sätze, die der Prophet in Medina verkündet haben soll, wo er Staatsherr und Kriegsherr war. In Mekka war er Verfolgter und machte Aussagen, die dieser Erfahrung entsprangen. Alle autoritären Muster wie die Scharia und der Dschihad sind Sätze aus Medina. Mahmud Taha nimmt eine umgekehrte Interpretation vor und sagt, diese staatsförmigen, kriegerischen Aussagen von Medina seien nur für das 7. Jahrhundert zeitgenössisch geltend gewesen, während die Sätze von Mekka die Essenz des Islam darstellten. Darüber gelangt er zum Beharren auf freie Überzeugung, Ablehnung der Scharia und des Dschihad wie auch einem anderen Verhältnis von Mann und Frau. Diese Koran-Interpretation war maßgeblich für die Massenbewegung, die den Sturz des Diktators herbeiführte.


Streit unter deutschen Linken

In der anschließenden Diskussion führte eine kurze, aber heftige Kontroverse die Spaltung der deutschen Linken in der Syrienfrage noch einmal drastisch vor Augen. Markus Heizmann, der an anderer Stelle auf der Linken Literaturmesse das Buch "Syrien - Ein Land im Widerstand" vorstellte, berichtete von Besuchen in Syrien, das er als ein ganz anderes als das von Marin beschriebene Land erlebt habe. Diese Dämonisierung des Präsidenten finde man dort nirgends, die Zustimmung der Bevölkerung zu Assad betrage laut einer NATO-Studie derzeit über 70 Prozent. Der Referent verwahrte sich daraufhin gegen einen "stalinistischen Antiimperialismus". Er habe mit Geflüchteten gesprochen, die ihm versichert hätten, das Volk sei zu 90 Prozent gegen Assad. Darauf erwiderte Heizmann: Israel ist gegen Assad, die NATO ist gegen Assad, die Golfstaaten sind gegen Assad, die ganze Welt ist gegen Assad. Wenn jetzt noch das eigene Volk zu 90 Prozent gegen ihn ist, könnte er sich keine zwei Tage halten.

Lou Marin führte zu seinen Gunsten ins Feld, daß die freien Frauengruppen die Angriffe der Regierungstruppen auf die Demonstrierenden fotografisch dokumentiert hätten. Es existierten zahlreiche Belege, die über soziale Medien verbreitet wurden. In dieser Zeit habe das Assad-Regime als Gegenpropaganda Bilder von leeren Straßen samt der Behauptung verbreitet, diese Bewegung existiere überhaupt nicht. Darin habe ihn die europäische und deutsche antiimperialistischen Linke unterstützt: Die USA sind gegen Assad, also sind wir für ihn. Was da an Repression und Folter in den Gefängnissen passiere, interessiere nicht weiter. Dem hielt Heizmann entgegen, Marin stelle Behauptungen auf, für die es keine Beweise gebe, und verließ demonstrativ den Raum.

Damit war der erbitterte Nachbarschaftsstreit abermals bedient und eine weitere Gelegenheit versäumt, sich jenseits der ohnehin leidigen Wahrheitsfrage um eine Aufklärung der Widersprüche zu bemühen.


Titelseite der Zeitung Graswurzelrevolution- Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick


Fußnote:


[1] Guillaume Gamblin, Pierre Sommermeyer, Lou Marin (Hg.): Im Kampf gegen die Tyrannei. Gewaltfrei-revolutionäre Massenbewegungen in arabischen und islamischen Gesellschaften: der zivile Widerstand in Syrien 2011-2013 und die "Republikanischen Brüder" im Sudan 1983-1985, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2018, 144 Seiten, 13,90 Euro, ISBN: 978-3-939045-34-2


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4. Dezember 2018


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