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BERICHT/096: Messe links - Marx aktuell ... (SB)


Marxismus ist eine revolutionäre Weltanschauung, die stets nach neuen Erkenntnissen ringen muß, die nichts so verabscheut wie das Erstarren in einmal gültigen Formen, die am besten im geistigen Waffengeklirr der Selbstkritik und im geschichtlichen Blitz und Donner ihre lebendige Kraft bewahrt.
Rosa Luxemburg


Der deutsche Führungsanspruch in Europa und darüber hinaus, erwirtschaftet mit einer Produktivität zu Lasten der Lohnabhängigen und Erwerbslosen, duldet weder ein sozialstaatlich gesichertes Auskommen sogenannter unproduktiver Teile der Bevölkerung, noch deren bloßen Anspruch auf ein Leben in Würde. Nicht die Bekämpfung der Armut, sondern die Bezichtigung der Armen ist die Ultima ratio bundesrepublikanischen Sozialmanagements. Das Erfolgsmodell Hartz IV, den Arbeitszwang auch ohne ausreichende Arbeitsplätze und angemessene Entlohnung lückenlos durchzusetzen, ohne dabei massenhafte Gegenwehr zu riskieren, läßt niemanden ungeschoren. Die Sozialtechnologie umfassender Verfügung durchdringt alle gesellschaftlichen Sphären und erhebt die unmittelbare Verrechnung von rückhaltloser Unterwerfung mit der Zuteilung einer notdürftigen Überlebenssicherung in den Rang der einzig legitimen Existenzweise der Besitzlosen.

Die Schlinge immer enger zu ziehen ist keine übertriebene oder kontraproduktive Handhabung der Armutsverwaltung, sondern deren immanenter Zweck. In den administrativen Schuldturm des Hartz-IV-Regimes geworfen, stehen die Menschen am kollektiven Pranger angeblich selbstverursachter Not, Delinquenten am werktätigen Steuerzahler, dessen widerstandslose Opferbereitschaft ihr abschreckendes Schicksal nachgerade erzwingt. So beschloß der Bundestag im Sommer 2016 das "Rechtsvereinfachungsgesetz", welches unter dem Deckmantel, die Jobcenter von Bürokratie zu entlasten, eine massive Verschärfung der Sanktionsmöglichkeiten auf den Weg brachte. Es wurde klarer geregelt, daß Hartz-IV-Leistungen zusammengestrichen werden können, wenn eine Notlage selbst herbeigeführt oder verschlimmert wurde. Bei sogenanntem sozialwidrigen Verhalten können im Extremfall die Leistungen der vergangenen drei Jahre zurückgefordert werden.

Die Bundesagentur für Arbeit kann dabei häufigere Kontrollen der Einkommen und Vermögen von Hartz-IV-Haushalten durchführen und zwar auch von Haushaltsmitgliedern, die selbst keine Leistungen beziehen. Wie diese Ausweitung der Überwachung unterstreicht, macht Hartz IV die Privatsphäre obsolet und zwingt die Betroffenen, vor Bezug etwaiger Leistungen jegliche Rücklagen aufzubrauchen und fortan auf alle Möglichkeiten zu verzichten, ihre prekären Lebensverhältnisse nebenbei etwas aufzubessern. Während gewisse Neuregelungen zur besseren Hilfe allenfalls das parteipolitische Scharmützel munitionieren, werden Verschärfungen und Repressionen erbarmungslos durchgesetzt. Wenn den Menschen in Not und Hilfesuchenden die Schuld für alles und jedes in die Schuhe geschoben wird, schreitet die Kriminalisierung von Hartz-IV-Beziehern unaufhaltsam voran. Was ihnen als "sozialwidriges Verhalten" angekreidet wird, erinnert fatal an die Praxis des NS-Regimes, "Arbeitsscheue" und "Asoziale" aufs Schärfste zu verfolgen.


Beim Vortrag am Tisch - Foto: © 2018 by Schattenblick

Werner Seppmann und Chris (SDAJ Nürnberg)
Foto: © 2018 by Schattenblick


"Eine Welt zu gewinnen"

Im Rahmen der 23. Linken Literaturmesse in Nürnberg stellten Chris von der SDAJ Nürnberg und Werner Seppmann den Sammelband "Eine Welt zu gewinnen. Marx, der Kapitalismus von heute und was wir tun können" von Lena Kreymann und Paul Rodermund (Hg.) vor, der im PapyRossa Verlag erschienen ist [1]. Lena Kreymann hat Philosophie und Neurowissenschaften in Berlin studiert und ist seit 2018 Bundesvorsitzende der SDAJ. Der ehemalige Bundesvorsitzende der SDAJ Paul Rodermund hat ein Studium der Neurowissenschaften absolviert und ist Doktorand in Tübingen.

Wer die Welt verändern will, muß sie erkennen, so die Kernaussage des Buches, das zum 200. Geburtstag von Karl Marx und zum 50. der SDAJ herausgegeben worden ist. Es regt dazu an, sich selbst ein Bild von der Welt zu machen und eingehender mit den Erkenntnissen von Karl Marx auseinanderzusetzen. Der Sammelband ist all jenen jungen Leserinnen und Lesern ans Herz gelegt, die der Überzeugung sind, daß eine andere Welt nötig und möglich ist. Ein einführender Beitrag behandelt die Entwicklung des Dialektischen und Historischen Materialismus, die Analyse der Grundstruktur der kapitalistischen Produktionsweise und den Kampf für den Sozialismus vom Bund der Gerechten bis zur Pariser Kommune. Der zweite Teil des Buches befaßt sich mit den grundlegenden Widersprüchen und Problemfeldern unserer heutigen Gesellschaft und diskutiert mögliche Lösungen. Der dritte Teil beginnt mit der russischen Oktober- und der deutschen Novemberrevolution und beleuchtet die Debatten um eine antifaschistische Strategie vor 1933. Weitere Themen sind die unterschiedlichen Entwicklungen in DDR und BRD sowie die Protestbewegung von 1968 und die Frage, ob mit dem Ende des Sozialismus nach sowjetischem Modell nun auch das Ende der Geschichte gekommen sei.


Die eigene Lebensrealität begreifen und verändern

Chris legte eingangs die Gründe dar, ein weiteres Buch über Karl Marx herauszugeben. Marx sei anläßlich seines 200. Geburtstags auch in der bürgerlichen Presse wieder präsenter, die jedoch das Ziel verfolge, ihn und seine Ideen zu entsorgen. Die einen Kommentatoren versuchten dies, indem sie ihn falsch oder schlecht erklären:

Ich halte es auch für eine Lüge, daß Marx zu den meistgelesenen Autoren der Welt gehört. Das ist schon deshalb nicht möglich, weil er so unverständlich schrieb, daß man beim Lesen Knoten im Gehirn bekommt. Heerscharen von Deutern versuchen, irgendeinen klugen Gedanken herauszulesen oder hineinzuinterpretieren. (...) Marx ist schlicht zu flach, um Unternehmertum zu verstehen. Übrigens haben Marx und sein Kumpel Engels wie Schmarotzer gelebt, vom Geld anderer Leute, die sie gleichzeitig verurteilten, führten sie ihren Lebensstil.
(Marion Horn, Chefredakteurin Bild am Sonntag)

Eine andere bürgerliche Linie habe begriffen, daß man Marx nicht einfach für tot oder falsch erklären kann. Sie versuche es mit vergiftetem Lob, was noch gefährlicher sei:

Nicht erst durch die Instrumentalisierung seines Denkens und seiner Person durch sozialistische und kommunistische Regime weltweit wurde Karl Marx zu einer politischen Reizfigur. Dennoch haben seine Forderungen nach Emanzipation für die gesamte Menschheit und seine Analyseverfahren der real existierenden Wirtschaftssysteme nichts von ihrer Brisanz und Wichtigkeit verloren. Dies zeigt sich aber auch an der internationalen Marx-Renaissance seit der Wirtschaftskrise 2008. (Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD)

Die Geschichte ist in Marxens Hauptwerk "Das Kapital" weniger die Geschichte von Klassenkämpfen, als von ökonomischen Prozessen. Die Klassen sind zwar nicht verschwunden, treten aber deutlich hinter wirtschaftliche Vorgänge zurück.
(Jan Gerber, Die Zeit)

Was macht diesen Band im Dschungel der Karl-Marx-Bücher so besonders und was ist sein Ziel? Von diesen Fragen ausgehend hob Chris hervor, daß sich die meisten Marx-Bücher mehr oder weniger an Akademiker und nicht an Jugendliche richten. Wenn letzteres doch einmal der Fall sein sollte, dann nie mit dem Anspruch, ernsthafte Theorie zugänglich zu machen und mit der Praxis zu verbinden. Der vorliegende Sammelband bemühe sich hingegen um eine fundierte Auseinandersetzung, die aber zugänglich geschrieben und mit praktischen Kämpfen verknüpft sei. Es gehe um den ganzen und authentischen Marx, denn man wolle nicht einzelne Bruchstücke herausgreifen. Dabei wird die SDAJ als ein Jugendverband dargestellt, der in der Tradition der Kämpfe der arbeitenden Jugend in Deutschland steht. Zudem soll das Buch für Lesekreise und Bildungsarbeit langfristig nutzbar sein, indem es die wichtigsten geschichtlichen Entwicklungen der Klassenkämpfe und kommunistischen Erfahrungen nachzeichnet und wesentliche historische Erkenntnisse vermitteln kann. Die Beschäftigung mit dem Marxismus sei nichts Weltfremdes, sondern helfe dabei, die eigene Lebensrealität zu begreifen und zu verändern. Angesichts des umfangreichen Werks, das Marx, Engels und Lenin in ihrem Leben geschaffen haben, könne das Buch natürlich kein Ersatz für das Studium ihrer Schriften sein. Es diene vielmehr einer ersten Heranführung, die zur Anwendung des Marxismus in der politischen Praxis führen solle.

Für den Sammelband konnte eine Reihe von Autoren gewonnen werden, die mit der DKP und der SDAJ eng verbunden sind. Zentrale Bestandteile des Marxismus werden mit ausgewählten Lebensstationen von Marx und Engels verknüpft, wesentliche Begriffe der marxistischen Weltanschauung eingeführt. Anhand ausgewählter Widersprüche aus der Lebensrealität Jugendlicher wird das aktuelle Tagesgeschehen marxistisch interpretiert, wobei Hinweise nicht fehlen, wie sich die Widersprüche der gegenwärtigen Epoche auflösen ließen, die sich auf die gleichen Grundwidersprüche wie zu den Zeiten von Marx und Engels zurückführen lassen. Und nicht zuletzt geht es um die realen Klassenkämpfe, da der Marxismus die programmatische Aufforderung beinhalte, alles zu ändern, was ist. Es gehe um die Praxis des Marxismus und damit auch um die eigene Geschichte und die eigenen Kämpfe.

Der Schwerpunkt liege nicht auf Faktenwissen, sondern auf einem Gesamtverständnis der Geschichte als Entwicklung von Klassenkämpfen. Es gehe darum, große Linien aufzuzeigen und ganz praktisch in die historisch-materialistische Geschichtsbetrachtung einzuführen. Es gebe innerhalb der Produktionsweisen bestimmte allgemeine Abläufe, die unabhängig von den Wünschen und Vorstellungen einzelner gelten. Gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten seien nur die Voraussetzung dafür, daß eine konkrete und historische Lage erkannt werden könne. Der Rest müsse dann schon selbst gemacht werden durch die organisierte Praxis derer, die ein Interesse daran haben, daß sich alles ändert.


Buchcover 'Eine Welt zu gewinnen' - Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick


Schröders Agenda-Politik schuf ein Elendsregime

Nach dieser Vorstellung des Buches im Überblick ging Werner Seppmann auf das Thema Jugendarmut ein, mit dem er auch in dem Sammelband vertreten ist. Wie verlogen die von den herrschenden Apparaten verbreitete Formel sei, daß es uns schon lange nicht mehr so gut ging wie gegenwärtig, werde deutlich, wenn man nur mit einigermaßen offenen Augen durch die Welt gehe. Tatsächlich hat es zwar nach der Weltwirtschaftskrise so etwas wie ein konjunkturelles Zwischenhoch gegeben, aber in der bürgerlichen Presse werden die Boten des Niedergangs schon beschworen. Vom wachsenden Wohlstand haben nur die Reichen und Superreichen und eine 30prozentige Mittelgruppe profitiert. Der Rest, also die unteren zwei Drittel der Bevölkerung, sind mehr oder weniger unter Druck geraten. Im besten Fall stagniert ihr Einkommen oder es hat sich sogar deutlich reduziert. Das sind nicht zuletzt die Auswirkungen der Schröderschen Agenda-Politik, die im internationalen Vergleich zu der größten sozialpolitischen Umverteilung in einem Industrieland geführt hat. Allein die Lohnquote der abhängig Beschäftigten ist um 11 Prozent zurückgegangen. Für die unteren 40 Prozent der Lohnabhängigen bedeutet das die Absenkung ihrer Reallöhne unter das Niveau von 1995. Bei anderen Gruppen hat es bis zum letzten Jahr gedauert, bis die Folgen der Weltwirtschaftskrise überhaupt nur kompensiert waren. Es ist zwar von Lohnerhöhungen die Rede, aber leider geht auch die linke Diskussion dieser bürgerlichen Statistik immer wieder auf den Leim. Jeder, der mit beiden Füßen im Alltag steht, weiß, daß die Inflationsrate höher als 2,5 Prozent ist. Es gibt zwar Warenbereiche wie die Elektronik, die tatsächlich günstiger geworden sind, aber der Hartz-IV-Empfänger kann sich auch ein Breitbildfernsehgerät für 200 oder 300 Euro nicht leisten, so Seppmann.

Für die Konsequenzen dieser sozialen Kahlschlagpolitik findet man keinen besseren Zeugen als Gerhard Schröder selbst, der kurz nach dem Ende seiner Kanzlerschaft vor der Kapitalelite in Davos mit Bekennerstolz verkündet hat, er habe dafür gesorgt, den größten Niedriglohnsektor Europas zu schaffen. Diese gravierende Umgestaltung gelang so reibungslos, weil durch die Einschnitte in das soziale Netz die Betroffenen nicht nur eingeschüchtert wurden, sondern sich sogar Unterwerfungsbereitschaften etablierten. Aus Angst vor dem Arbeitsplatzverlust war man nicht bereit, sich gegen die Einschnitte zu wehren. Und man war vor allen Dingen gar nicht dazu in der Lage, weil die dazu berufenen Organisationen den Kurs mehr oder weniger mitgemacht haben. Die Agenda-Politik Schröders wurde in Geheimaktionen durchgesetzt. In Vorbereitungskomitees saßen neben neoliberalen Ideologen auch führende Gewerkschaftler. Die Gewerkschaft weigerte sich denn auch, offensiv gegen die Sozialabbaupolitik vorzugehen. Mag sich die neoliberalistische Restauration auch wie eine geradezu schicksalhafte Entwicklung darstellen, hätte es durchaus Möglichkeiten des Widerstands gegeben. Die Gewerkschaften entschieden sich jedoch dagegen, aus den Betrieben heraus Gegenwehr zu organisieren.


Kinderarmut nimmt dramatisch zu

Wie Seppmann weiter ausführte, haben diese Entwicklungen zum Ausbruch von sozialen Widerspruchsformen geführt, die in den kapitalistischen Hauptländern als überwunden galten. Aufgrund der Abwärtsdynamik haben sich die Verhältnisse für die unteren zwei Drittel der Gesellschaft dramatisch verändert. So hat 1965, also in den Zeiten des Wirtschaftswunders und des Konsumkapitalismus, jedes 75. Kind in Armutsverhältnissen gelebt, während das heute für jedes vierte Kind gilt. Das sind angesichts der Konsequenzen barbarische Verhältnisse für diese Kinder. Unzählige Studien belegen, daß sie emotional und intellektuell defizitäre Entwicklungsphasen durchmachen, die sie das ganze Leben prägen, selbst wenn es ihnen später gelingen sollte, der unmittelbaren Not zu entkommen.

Da es den Degradierten und sozial Abgestürzten immer schwerer fällt, dieser Situation zu entkommen, wird von einer Vererbung der Armut gesprochen. Es ist zwar nicht so, daß jemand, der arm war, immer arm bleibt. Die bürgerlichen Sozialwissenschaften sprechen von einer Dynamik der Armut, was aber in der Regel lediglich bedeutet, daß man sich nur statistisch ein bißchen verbessert hat. Tatsächlich können aber jene, die den Armutszonen entkommen, nicht wirklich einen sozialen Aufstieg vollziehen. Sie bleiben gefangen in Sphären sozialer Unsicherheit, aus denen ein erneuter Abstieg jederzeit möglich ist. Oft sind es nur kleine Anlässe, die ausreichen, daß der Abstieg von neuem beginnt.


Jugendarmut wird schamhaft verschwiegen

Während jedoch über Kinderarmut relativ umfangreich berichtet wird, zumal dabei eine verquere Sozialromantik mitschwingt, wird über Jugendarmut schamhaft geschwiegen. Dabei ist Jugendarmut ein relevanter Bestandteil der allgemeinen Präkarisierungsproblematik und sogar höher als die Kinderarmut. Jugendarmut ist ein Phänomen, das mit der Weltwirtschaftskrise zusammenhängt, denn die Jugendlichen mußten in den meisten Ländern der EU-Zone die größten Opfer bringen. Die Arbeitslosenquoten betrugen vor allem in den südeuropäischen Ländern bis zu 60 Prozent. Die Höchststände sind mittlerweile zwar überschritten, aber die Quote beträgt in Griechenland immer noch 45 Prozent, in Italien und Spanien zwischen 35 und 40 Prozent und in Frankreich, Belgien und Finnland über 20 Prozent. Die Statistik weist für Deutschland zwar nur eine relativ geringe Quote von 7 Prozent auf, aber die Erfassung ist nicht ganz einfach. Zudem stecken Jugendliche, selbst wenn sie Arbeit haben, in prekären Verhältnissen fest. Weit über 20 Prozent - das wird von der bürgerlichen Sozialstatistik anerkannt - leben in Armutsverhältnissen, so der Referent.

Wie bei den Erwachsenen hat auch bei Jugendlichen die Beschäftigung in Überausbeutungsverhältnissen, um mit Marx zu sprechen, weitreichende Konsequenzen. Seppmann merkte dazu an, daß dieser Begriff insofern problematisch sei, als "Ausbeutung" zur Klärung durchaus ausreiche. Im Alltagsbewußtsein spreche man in einem normalen Lohnverhältnis nicht von Ausbeutung, obgleich der Kapitalist mehr einstreicht als er den Arbeitenden zahlt. Von Ausbeutung werde dann gesprochen, wenn unter dem Mindestlohn gezahlt wird. Das sei zwar theoretisch nicht richtig, spiegele aber schon eine gängige Auffassung wider. So bezeichnen sich die Armen nicht als arm, da sie mit denen ganz unten, die mit der Wermutflasche an der Straßenecke sitzen, nichts zu tun haben wollen. Sie machen sich zwar bei entsprechender Fragestellung keine Illusionen über ihre Lebenssituation, aber von der Unterklasse, die in der Mediendarstellung mit den Zonen der absoluten Verelendung gleichgesetzt wird, grenzen sie sich ab.

Nicht weniger als Erwachsene werden auch Kinder und Jugendliche, wenn sie in Armut leben, psychisch angegriffen und destabilisiert. Dies ist ein zivilisatorischer Skandal, der sich über die Phase unmittelbarer Betroffenheit hinaus langfristig auswirkt. Sie bleiben in ihrem ganzen Leben negativ geprägt. Angst, Ohnmacht, Hunger, Verkürzung der geistigen und psychischen Perspektive auf das Unmittelbare, notfalls kriminelle Formen des Überlebens, politische Ausgrenzung, Einsamkeit, sich schamhaft verstecken und verstellen, mannigfache Formen der Entwürdigung gehören zur Armut. Kinder aus Armutsverhältnissen bleiben in ihrer geistigen und emotionalen, aber auch körperlichen Entwicklung zurück. Feinmotorik, auch Grobmotorik, sprachliche Artikulationsfähigkeit und der Umgang mit alltäglichem Orientierungswissen weisen beträchtliche Defizite auf. Und es gibt einige dieser Defizite, die sich niemals kompensieren lassen, weil in gewissen Entwicklungsphasen bestimmte neuronale Verknüpfungen im Gehirn nicht stattfinden, die später nie mehr rekonstruiert werden können. Es bleiben eine tiefsitzende Unsicherheit und Tendenzen des Resignativen, auch wenn man der Armutsphase später entkommen kann, so Seppmann.

Bei Jugendlichen kommt natürlich noch hinzu, daß Armut fast immer Ausgrenzung aus dem Arbeitsleben bedeutet und damit aus einem elementaren gesellschaftlichen Erfahrungsbereich, der für die weitere psychische und soziale Entwicklung in dieser Gesellschaft immer noch von allergrößter Bedeutung ist. Werden Jugendliche aus einem so zentralen Bereich wie der Arbeitswelt ausgegrenzt, fühlen sie sich natürlich an den Rand gedrängt. Es bleibt ihnen verwehrt, lebenswichtige Fähigkeiten auszubilden, ihre eigene Leistungsfähigkeit zu erleben, wobei die Arbeit noch eine andere Ebene als die Schule darstellt. Es wird ihnen erschwert, ein adäquates Selbstwertgefühl und Selbstbewußtsein zu entwickeln. Die Ausgrenzung aus dem Berufsleben führt nicht bei jedem, aber doch bei vielen zu einer gleichgültigen Hinnahme ihrer Lebenssituation.


Werner Seppmann und Chris beim Vortrag - Foto: © 2018 by Schattenblick

Schreckensbilanz lebenslanger Erniedrigung
Foto: © 2018 by Schattenblick


Freiwild neofaschistischer Rekrutierung

Zwar können auch Widerspruchserlebnisse in Lebens- und Betätigungsräumen jenseits der Arbeitswelt zur Herausbildung kritischer Einstellungen führen, jedoch haben sie nicht eine vergleichbare Prägekraft wie die betrieblichen Erfahrungen. Diese haben immer mit ganz spezifischen klassendeterminierten Konflikten zu tun, da man erlebt, daß die Arbeitswelt hierarchisch aufgebaut und nach bestimmten Interessen strukturiert ist. Oft werden die Interessen der Jugendlichen auch von den Organisationen, die sie eigentlich vertreten müßten, verraten. Bei zahlreichen Tarifabschlüssen hat die Gewerkschaft Vorteile für die Stammbelegschaft herausgeschlagen, indem die Bedingungen für die Jugendlichen verschlechtert wurden. Das weiß nicht jeder Jugendliche, aber irgendwie spürt man das. Und wenn sie dann nicht in die Gewerkschaft eintreten, beauftragt diese für viel Geld ein bürgerliches Forschungsinstitut, das untersuchen soll, warum die Jugendlichen eine ablehnende Haltung gegenüber gewerkschaftlicher Organisation haben.

Ein eingeschüchterter, resignativer und von Selbstzweifeln geplagter Jugendlicher wird kaum zu Eigeninitiative, geschweige denn zu Widerspruch und profiliertem Nonkonformismus vordringen. Wenngleich es auch hier keinen Automatismus gibt, stellen die sozial bedrängten und psychisch oft angeschlagenen Jugendlichen eine geeignete Bezugsgruppe für den Rechtsextremismus dar. Und da sind wir erst am Anfang einer Entwicklung, denn die Geschichte der AfD ist noch lange nicht zu Ende. Ihr Aufstieg ist in der Phase wirtschaftlicher Prosperität erfolgt. In einer solchen Phase hat die NSDAP 1928 nur 2,6 Prozent erzielt, nach der Weltwirtschaftskrise 1932 waren es 38 und 34 Prozent. Berlin ist nicht Weimar, wie es heißt, aber das sollte man doch im Hinterkopf behalten, warnte Seppmann. Die politische Paralysierung des herrschenden Blocks spielt der AfD in die Hände. Es ist eine Phase, in der, wie Lenin gesagt hat, die Herrschenden nicht mehr in der Lage sind, so weiterzumachen wie bisher. Ohne in Panik zu verfallen, müsse man sich berechtigte Sorgen über den weiteren Aufstieg der AfD machen.

Werden Jugendliche davon befallen, können Mechanismen greifen, wie wir sie in Chemnitz und anderswo erlebt haben. Die Übernahme von rechten Mustern hat offenbar psychische Stabilisierungseffekte. Man fühlt sich integriert in einen größeren Zusammenhang und glaubt, die Welt zu verstehen. Aber diese Surrogatwirkung ist nicht beständig, Denken und Praxis müssen immer krasser und radikaler werden. In der Konsequenz läßt sich aus diesem Mechanismus einer Selbststabilisierung der neofaschistischen Bewegung ableiten, daß beim Kampf gegen sie die Thematisierung der sozialen Katastrophenentwicklung und auch Konzepte dagegen integraler Bestandteil einer antifaschistischen Politik sein müssen. Für die wichtigste Orientierung hält Seppmann in diesem Zusammenhang die Forderung, daß die Hartz-IV-Reformen zurückgenommen werden müssen und das alte Arbeitslosenversicherungsrecht wieder restauriert wird. Es gebe keinen Grund, daß sich die Linkspartei nicht dafür einsetzt.


Über den Tag hinaus - die Zukunft einfordern

Von einem bedingungslosen Grundeinkommen hält Seppmann gar nichts, da dies auf eine Ausgrenzung der Krisenopfer und eine Zementierung der sozialen Trennung hinauslaufe. Es gelte vielmehr, die Arbeit zu befreien und sich zu überlegen, wie alle Menschen am gesellschaftlichen Arbeitsprozeß beteiligt werden können, indem beispielsweise die Arbeitszeit reduziert wird. Zudem steht das Grundeinkommen ökonomisch auf tönernen Füßen. Selbst wenn die erforderlichen Milliarden aufgebracht werden könnten, würden selbst 1000 Euro in vielen Fällen nicht ausreichen, auch nur das jetzige Sozialhilfeniveau zu erreichen. Wird man krank, kommt man damit nicht aus. Außerdem gäbe es sofort einen Inflationsschub etwa bei den Mieten, und nach wenigen Wochen wären die 1000 Euro nur noch 500 Euro wert. Grundeinkommen ist ja verbunden mit Wegfall des bisherigen sozialen Versicherungssystems und das würde für die meisten enorme Nachteile bringen. Die Menschen würden weiterarbeiten, weil das bei weitem nicht ausreicht, aber sie wären bereit, das zu einem geringen Lohn zu tun.

Mit Blick auf die Rechtsentwicklung gab Seppmann zu bedenken, daß es den Nazis trotz der Stärke der Kommunistischen Partei in den 1930er Jahren gelungen ist, die desorientierten Massen zu überzeugen. Man müsse Konzepte entwickeln, um auf die Interessenlage der Menschen einzugehen, doch selbst dann sei der Ausgang offen. Merkel und Kipping behaupten, die AfD spalte und entsolidarisiere die Gesellschaft, als habe dies nicht schon lange zuvor gegolten. Die Aufklärungsarbeit der Linken und Antifaschisten sei wichtig, reiche aber nicht aus, denn mit abstrakten Formen und Forderungen komme man dort nicht weiter. Deshalb halte er die Frage der Sozialversicherung für den allerersten Ansatzpunkt, weil das den meisten Menschen auf den Nägeln brennt und sie es nachvollziehen können. Der harte Kern der rechten Ideologen und Organisatoren sei argumentativ nicht zu erreichen. Doch mit den Jugendlichen, die ihnen auf den Leim gehen, müsse man reden und Argumente finden, die an den bestehenden Bewußtseinsstand, aber auch an Interessen der Menschen anknüpfen.

Nicht zuletzt aber müsse die organisierte Linke wieder lernen, über die gegebenen Verhältnisse hinauszudenken. Die IG Metall war in den 70er Jahren auf dem Weg, die 30-Stunden-Woche zu erkämpfen. Heute sagt der Gewerkschaftsvorsitzende, bei 48 Stunden ist aber Schluß. Diesen politischen Verfallsprozeß könne man nur stoppen, indem die Frage entwickelt werde, was aufgrund des bestehenden ökonomischen und kulturellen Entwicklungsniveaus tatsächlich erkämpft werden kann. Wir müssen über den Tag hinausdenken und vor allem die bürgerlichen Orientierungsmuster, die uns alle prägen, überwinden. Nur dann sind wir in der Lage, die Zukunft einzufordern, wie Engels es getan hat, so der Referent. Ohne diese Perspektive verliere man sich zwangsläufig im Reformismus. Würde Rosa Luxemburg aus dem Grab steigen und auf einem Parteitag der Linkspartei oder der DKP sprechen, würde sie uns auffordern zu lernen, die Tagesaufgaben mit unseren Zielen zu verbinden. Das ist eine schwierige Sache, aber wenn man sie nicht angeht, bleiben bestimmte politische Defizite bestehen und reproduzieren sich ins Unendliche, rundete Werner Seppmann seinen Vortrag mit einem mahnenden Schlußwort ab.


Fußnote:


[1] Lena Kreymann, Paul Rodermund (Hg.): Eine Welt zu gewinnen. Marx, der Kapitalismus von heute und was wir tun können. PapyRossa Verlag Köln 2018, 231 Seiten, 10,00 Euro, ISBN 978-3-89438-674-0

Mit Beiträgen von Hans-Peter Brenner, Dietmar Dath, Heiko Humburg, Georg Fülberth, Patrik Köbele, Philipp Krämer, Lena Kreymann, Beate Landefeld, Jürgen Lloyd, Seta Radin, Paul Rodermund, Björn Schmidt, Arnold Schölzel, Werner Seppmann, Jürgen Wagner und Lucas Zeise.


Berichte und Interviews zur 23. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter:
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20. Dezember 2018


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