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INTERVIEW/002: Konkrete Utopie - Gespräch mit Gerhard Zwerenz (SB)


Gespräch mit Ingrid und Gerhard Zwerenz in Leipzig am 20. November 2009


Im Rahmen des Leipziger Literaturfestivals textenet.de hatte der Schattenblick die Gelegenheit, ein Gespräch mit Ingrid und Gerhard Zwerenz zu führen. Gerhard Zwerenz hatte am Vorabend im Literaturhaus Leipzig unter der Überschrift "Zwischen Buch und Netz: Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte" Szenen aus seiner sächsischen Autobiographie vorgelesen und kommentiert. Das 99 Fragmente und bislang 5 Nachworte umfassende Werk wurde ausschließlich elektronisch veröffentlicht und kann auf www.poetenladen.de eingesehen werden.

Gerhard Zwerenz  - Foto: © 2009 by Schattenblick
Gerhard Zwerenz
Foto: © 2009 by Schattenblick
Schattenblick: Die Veranstaltung des Literaturfestivals textenet.de gestern hat uns gut gefallen. Das Publikum war sehr aufmerksam und konzentriert. Sie wurden von Herrn Heidtmann auf die vielen Erfolge Ihrer Bücher und Artikel angesprochen und haben in diesem Zusammenhang gesagt, daß das Scheitern genauso wichtig sei.

Gerhard Zwerenz: Wenn man sich's leisten kann. Scheitern ist ungeheuer wichtig, wenn nicht sogar absolut notwendig. Leute, die überhaupt nicht scheitern und auch nicht scheitern wollen, sind einfach Goldfedern. Sie schreiben mit Goldfedern, und die werden immer leerer. Zum Schluß kommen sie zur Null, aber sie kriegen für jede Null, die sie schreiben, ein Goldblatt. Und das sind die Obrigkeitsknechte, das sind die absolut erfolgreichen Obrigkeitsknechte. Das halte ich nicht für Literatur, sondern für das Gegenteil.

SB: Sie zitieren in Kapitel 28 Ihrer sächsischen Autobiographie Gerhard Urbach aus dem Leipziger Bloch-Kreis mit den Worten: "Nach Maßgabe der hegelsch-marxschen Revolutionstheorie hat noch nirgends in der Welt eine sozialistische Revolution stattgefunden, weder in Russland noch in Deutschland noch in Ungarn noch sonst wo ..." Was bedeutet das für die Möglichkeit einer solchen Revolution bzw. für einen Revolutionsbegriff, der sich nicht am Scheitern, also an der Vergangenheit orientiert, sondern sich nach wie vor als Utopie in die Zukunft entwirft?

GZ: Alle Revolutionen in der Vergangenheit sind Geschichtsrevolutionen und haben heute keine Chance mehr. Das heißt, jede marxistische Revolution ist entweder vor ihrem Sieg oder danach niedergeschlagen worden. Die russische Oktoberrevolution war siegreich, aber sie ist danach niedergeschlagen worden, sowohl von außen wie auch von innen. Im Grunde genommen sind alle marxistischen Revolutionen zugleich zu früh und zu spät gekommen. Zu spät sind sie gekommen, weil der Punkt, von dem Marx gesprochen hat, schon vorbei gewesen ist. Das war die klassische Zeit, die französische Revolutionszeit. Und die Russen, die Bolschewiki, Lenin, Trotzki - die Führerfigur war natürlich Lenin - haben versucht, diesen Zipfel der Französischen Revolution zu ergreifen und haben dies auch durchgesetzt.

Aber danach kam sofort der Widerstand, sowohl aus der Welt in Gestalt der fremden Armeen, die einmarschiert sind, als auch durch den Bürgerkrieg, der nur durch eine napoleonische Figur gewonnen werden konnte, und das war Stalin. Er war am Anfang die napoleonische Figur und wurde dann die stalinsche Figur. In die Mühle zwischen Lenin und Stalin geriet Trotzki, der mußte von Stalin ermordet werden, weil er noch die ursprüngliche, marx-leninsche Revolution verkörperte.

Insofern sind Revolutionen nach der Französischen Revolution, auch wenn sie vorübergehend siegreich gewesen sind wie die Oktoberrevolution in Rußland, trotzdem Niederlagen. Das heißt, daß diese Revolution überhaupt nicht mehr möglich ist. Das zeigt übrigens auch das Beispiel China, wo man einen ganz anderen Weg gegangen ist, nämlich den Dritten Weg. Die Chinesen sind allerdings in eine neue und andere Gefahrenlage geraten. Aber die Revolution selber ist in China zu Ende gebracht worden, während sie in Rußland aufgegeben worden ist, weil die halben Marxisten nach Stalin keine Marxisten mehr waren, sondern innere Hohlköpfe und absolute Repressionsfiguren, Repressionshelden. Und daran krankte dann alles, was vor allem in der DDR gemacht wurde. Die DDR hätte eine ganz andere Revolution gebraucht und sie war auch auf dem Weg, doch 1957 ist auch das gescheitert.

SB: Heißt das, daß die Revolution oder der Revolutionsbegriff als Utopie erhalten bleibt und weiterentwickelt wird?

GZ: Als Begriff ist er natürlich erhalten, aber es ist ganz gefährlich, wenn man glaubt, diese veralteten Revolutionen, die französische Revolution und die Oktoberrevolution, erneut betreiben zu können. Dies ist in Anbetracht der veränderten Qualitäten, wozu auch die Medienlandschaft gehört, nicht mehr möglich.

SB: Sie hatten gestern angesprochen, daß das wichtigste Werk Ernst Blochs Ihrer Ansicht nach die "Erbschaft dieser Zeit" ist. Sie haben, was leider in der Veranstaltung abgebrochen wurde, auf einen Entwurf hingewiesen, der einen gangbaren Weg zu einer grundlegenden Veränderung beinhaltet. Können Sie dazu noch etwas sagen?

GZ: Die Hauptideen Blochs lassen sich in zwei Grundsätzen zusammenfassen. Das eine ist die Wiederaufnahme der marxistischen Analyse, ohne dabei stehenzubleiben. Und diese Wiederaufnahme führt zur Dekonstruktion. Die Dekonstruktion ist ein Begriff, der teilweise von Sartre und Jünger, aber auch von der gegen Sartre auftretenden sogenannten neuen Linken in Frankreich stammt. Diese Dekonstruktion hat als Begriff vorher nicht existiert. Bloch ist der eigentliche Denker der Dekonstruktion. Dazu muß man erklären, was Dekonstruktion ist. Es ist nämlich nicht das, was die französischen Philosophen daraus gemacht haben, und auch nicht das, was überall an den philosophischen Lehrstühlen vorherrscht. Das ist alles Quark.

Die Dekonstruktion hat Bloch in der "Erbschaft dieser Zeit", ohne es so zu benennen, praktiziert. Was Marx mit der vorangegangenen Politökonomie gemacht hat, muß mit der gesamten Politik im Sinne einer Korrektur gemacht werden, indem man fragt, was hinter den Begriffen steckt. Dabei muß man zwischen allgemeinen und konkreten Begriffen unterscheiden. Hinter den allgemeinen Begriffen steckt oft reine Theologie. Deswegen wurzelt Dekonstruktion tatsächlich in der Theologie einer Zeit, die tausend Jahre zurückliegt. Im sogenannten Realien- oder Nominalismusstreit ging es um die Frage, was hinter einem Begriff wie beispielsweise "die heilige Dreieinigkeit" steckt: Hat das noch Realität oder nicht? Auf diese Weise zu fragen, war für die Kirche schon konterrevolutionär. Wenn jemand das fragt, zweifelt er schon daran, und das durfte nicht sein.

Genauso verhält es sich auch jetzt. Wenn das marxistische Erbe so kaputtgemacht worden ist, wie es in Moskau durch Stalin geschah, mußte natürlich einmal jemand fragen, was eigentlich hinter unseren heiligen Allgemeinheiten steckt. Was steckt hinter der Diktatur des Proletariats? Trotzki hat dann schon, genial wie er war, gesagt, daß aus der Diktatur des Proletariats, wie er und Lenin das wollten, unter Stalin die Diktatur über das Proletariat geworden ist. Das heißt, er hat mit einer genialen verbalen Kehre eine richtige Formel, die aber ideologisiert wurde, als eine Allgemeinheit dargestellt. Er hat die reale Tatsache des stalinistischen Moskaus nicht länger zu einer demokratischen Diktatur der Mehrheit des Proletariats erklärt, sondern ausgeführt, daß das Proletariat selbst in den Griff der Diktatur genommen wurde. Und das ist die eigentliche Dekonstruktion.

Die "Erbschaft dieser Zeit" besteht aus einer Summe von Dekonstruktionen all der Vorgänge im Faschismus und im Dritten Reich, aber auch in der Sowjetunion und in Rußland, die in der Zwischenzeit ideologisiert worden sind. Trotzki nimmt sich das vor und fragt, was die Bauern denn jetzt eigentlich sind. Wie verhält es sich im Faschismus mit den Bauern und der Arbeiterschaft? Für Bloch war das sehr einfach, da es sich um eine Zusammensetzung der Arbeiten handelt, die er sowieso gemacht hat, der Zeitungen und Zeitschriften vom ersten Schweizer Exil an und dann im zweiten Schweizer Exil. Er hat auch, wie wir alle, für die Weltbühne geschrieben. Man nimmt sich einen konkreten Gegenstand und bespricht ihn, wie es Tucholsky und Ossietzky gemacht haben. Wenn Bloch das gemacht hat, mit seinem Hintergrund - a) marxistisch, b) nietzscheanisch, c) absolut philosophisch, das heißt, mit der Kenntnis von fast 3000 Jahren Philosophie -, sind daraus lauter Schritte von Dekonstruktion geworden und das Ganze ist eine Montage.

Die "Erbschaft dieser Zeit" als Buch ist die einzige, konsequente Montage von einzelnen Schritten der Dekonstruktion. Deswegen kam es zur Expressionismusdebatte um Bloch, der zum Glück im amerikanischen Exil war. Wäre er im Moskauer Exil gewesen, hätten sie ihn, glaube ich, erschossen. Georg Lukács saß ja im Moskauer Exil und hat nun den Gegenpart geliefert, allerdings mit Windungen, vorsichtig. Lukács hat natürlich in Moskau gemerkt, daß das, was Bloch da macht, dort untragbar ist und mußte insofern die Moskauer Linie vertreten. Er hat sie aber nicht gut genug vertreten, weswegen er aus Versehen auch noch vom NKWD verhaftet und gefoltert worden ist. Er hat aber das Glück ganz weniger gehabt, denn nach wenigen Wochen hat offensichtlich jemand, wir wissen nicht wer, über Stalin veranlaßt, Lukács wieder freizulassen. Das wird völlig verschwiegen, das wird kaum erwähnt.

Ingrid und Gerhard Zwerenz - Foto: © 2009 by Schattenblick
Ingrid und Gerhard Zwerenz
Foto: © 2009 by Schattenblick

Ingrid Zwerenz: Er hat auch nie ein Wort drüber geredet.

GZ: Er selber hat nie etwas gesagt, auch die Adepten haben natürlich nichts von dieser Ungeheuerlichkeit erwähnt, daß Lukács, der in dieser Zeit gewissermaßen die Moskauer Linie in der Ideologie, in der Philosophie vertreten hat, verhaftet und auch noch, sagen wir mal, verprügelt wurde. Und dann kommt er durch Stalin frei. Und nun ist diese Expressionismusdebatte auch als einzelner Schritt von Dekonstruktion in der "Erbschaft dieser Zeit" enthalten. Das Irre für Leute, die sich auskennen, ist, daß man nachlesen kann, wie Bloch in den USA gewissermaßen den ursprünglichen Marx vertreten hat, während Lukács und sein Adjutant, das war in Moskau Alfred Kurella, gewissermaßen die stalinsche Seite vertreten haben, die aber nicht stalinistisch genug war. Dann wurde Lukács dafür verhaftet, während Bloch frei geblieben ist. Diese sogenannte Expressionismusdebatte - der Expressionismus war das Konkrete, um das es ging, das aber auch dekonstruiert werden mußte -, diese große Expressionismusdebatte ist ein wichtiges Kapitel in der "Erbschaft dieser Zeit". Und kein Schwein ist noch wissend genug, um das seinerseits wiederum zu dekonstruieren. Eine hochinteressante kulturelle Angelegenheit, und welch ein Verfall unserer Akademien und unserer Universitäten, die davon keinen blassen Schimmer mehr haben!

IZ: Du hattest ja schon gestern abend erwähnt, daß die "Erbschaft dieser Zeit" erstens nie als DDR-Ausgabe greifbar war, und wenn man sie in der Bibliothek lesen wollte, gehörte sie zu den gewissermaßen indizierten Büchern. Während des Seminars im kleinen Kreis bei Bloch hatte ich mir die "Erbschaft dieser Zeit" einmal vorgenommen. Erstens hat sich Bloch wahnsinnig gefreut, daß sich da jemand herantraut, und dann konnte man natürlich, mit der Hand abgeschrieben, nach Belieben Zitate herausziehen. Diese Kriminalgeschichte aus einem der wichtigsten Bücher, gerade was den beginnenden oder schon installierten Faschismus betrifft, im Vergleich mit der Taktik der Kommunistischen Partei zu lesen, war uns damals, obgleich wir beim Verfasser studierten, nicht ohne größere Verrenkungen möglich.

GZ: Das ist akademischer Stalinismus. Das meine ich, wenn ich von den verpaßten Chancen hier in Leipzig spreche. Erst durch die eigene Partei, die das aber gar nicht wollte, denn das ist natürlich über Moskau zum Politbüro gekommen, in dem dann die Vollstrecker saßen. Nach der Vereinigung kam dann das absolute Verhängnis, da das Vergessen gewissermaßen normal war. Man vergaß diese Dinge. Man macht gelegentlich eine Photoausstellung über Bloch und Hans Mayer, aber ansonsten weiß man nichts. Die ganze Universität, so alt sie mit ihren 600 Jahren geworden ist, ist ein Zentrum der angeordneten Unwissenheit in den wichtigsten kulturellen Fragen, nicht nur unserer Vergangenheit, der DDR und nicht nur Deutschlands. Es geht ja um die Frage, wie wir aus diesem ungeheuren Verhängnis, der Vorbereitung der kapitalistischen Hölle, entkommen. Wie kommen wir da heraus? Wo ist die Tür, durch die wir gehen können, um ins Freie zu gelangen?

Das alles ist hier angedacht worden, und Bloch war nur das Kraftwerk, er war nur das Zentrum. Es war ja ein Glücksumstand der Geschichte, daß das Politbüro der DDR die besten Leute, die vorher zum Tode verurteilt waren oder im Dritten Reich ewig in Zuchthäusern gesessen haben und gute Leute ihres Faches waren, nicht in Berlin haben wollte, das ihnen zu nah an Westberlin war. Die haben sie nach Leipzig geschickt, und so sind in Leipzig die goldenen Jahre entstanden. Hier war plötzlich in der Geschichtswissenschaft, in der Literatur, in der Philosophie etwas los. Hier ballte sich die charakterliche und intellektuelle Elite zusammen. Das war ein Glücksumstand. Und das wurde ab 1957 von der eigenen Partei über das Politbüro liquidiert, und die Arschlöcher, die dann drei Jahrzehnte später gekommen sind und die Mauer eingerissen haben, sind dabei stehengeblieben, anstatt nachzugucken, was eigentlich Tolles hinter diesen Mauern geschehen ist und dortselbst wiederum verhindert wurde. Das sind die eigentlichen tragischen Geschichten unserer Gegenwart.

SB: Können Sie sich vorstellen, daß sich der Begriff der Dekonstruktion anders entwickelt hätte, wenn er im Blochschen Sinne fortgeführt worden wäre?

GZ: Aber ja. Es stand ja gewissermaßen ein Todesurteil auf den Begriff nach den Erfahrungen der Expressionismusdebatte, in der es praktisch nur um Dekonstruktion ging, obwohl der Begriff noch gar nicht erfunden war, aber als Vorbegriff, nämlich Destruktion, existierte. Wo dieser herkommt, kann man über Nietzsche zu Heidegger nachvollziehen, denn Heidegger hat zwar die Dekonstruktion gemeint, es aber noch Destruktion genannt.

Es ist natürlich zu akzeptieren, daß er dies bei Nietzsche herausgefunden und Destruktion genannt hat. Das war ein Hilfsbegriff, destruieren heißt einfach nur, ich zerlege etwas, ich bin dagegen, das ist es nicht. Die Schüler Heideggers, das sind Franzosen, haben überhaupt erst die Dekonstruktion daraus gemacht. Bloch hätte natürlich, wenn er frei gewesen wäre, schon aus Brass gegenüber Heidegger - natürlich war auch er etwas eitel - gesagt, also der Kerl hat zwar das richtige gemeint, aber nicht das richtige gesagt: Es geht nicht um Destruktion, sondern um Dekonstruktion. In dem Moment, in dem Bloch das gesagt hätte, wäre er allerdings aus der Universität rausgeschmissen worden. Denn dann wäre klar gewesen, daß es sich um etwas handelt, was wir auf gar keinen Fall sagen dürfen, was zur Zeit Stalins noch mit Verhaftung und Todesurteil gebannt war. Das Schlimme ist nicht, daß Bloch den Begriff nicht benutzt hat, sondern, daß er nicht offen darüber sprechen konnte, worum es geht. Daß er es verbergen mußte, daß er die diplomatische Sklavensprache benutzen mußte. Das ganze Blochsche Werk aus seiner Zeit in der DDR ist voll von diplomatischer Sklavensprache.

SB: Sie haben in dem Buch "Sklavensprache und Revolte" davon gesprochen, daß an die Stelle des klassenbewußten Proletariers der universalbewußte Intellektuelle tritt, und haben statt für eine Revolution auf den Straßen für eine Revolution in den Köpfen plädiert. Wie kann man mit Intellektuellen Revolution machen?

GZ: Wahrscheinlich nicht. Ich würde die Eventualitäten ganz klar vor Augen haben, daß möglicherweise alles kaputtgeht. Es kann sein, daß diese Welt am Ende ist, und wir nur die letzte Phase erleben. Wenn nicht, dann erleben wir den deutlichen Niedergang der sogenannten westlichen Wertegesellschaft, auf alle Fälle Europas und Amerikas. Die USA versuchen im Augenblick, da einigermaßen herauszukommen, indem sie sich mit China verbünden. Und deswegen haben wir hier in Europa, vor allen Dingen hier in Deutschland, schon eine ungeheure Untergangsangst. So hat die Revolution einen Umweg genommen, und die europäische Revolution, Rußland und die anderen Länder, vor allen Dingen die DDR - was viel wichtiger ist als man glaubt - sind dabei gescheitert. Was nun kommt, ist der langsame Abstieg oder der etwas schnellere Abstieg ins Chaos. Uns steht hier das Chaos bevor, wir schaffen es einfach nicht mehr. Ich kann nicht zwei Jahrhunderte von falschen Begriffen leben und dann meinen, das ist alles gelungen. Da gelingt nichts mehr. Wir schieben alles fortwährend hin und her. Wir sind ja heute nicht mehr in der Lage zu unterscheiden, was ideologischer Begriff und was realer Begriff ist. Wir sind unfähig. Nehmen Sie ein Wort wie "Einsatz". Ob Merkel oder die abwechselnden Kriegsminister, sie reden fortwährend von "Einsatz". Dabei haben wir alle in der Schule einmal aus der Sprache des Unmenschen gelernt, daß der Begriff "Einsatz" im Dritten Reich zur absoluten faschistischen Blockade geworden ist. Das haben sie vergessen. Daran denken sie nicht mehr. Sie sagen im gleichen Sinn, daß ihre Kriegseinsätze "Missionen" sind. Selbst unsere Theologen sagen "Wir sind in Afghanistan auf Mission". Aus Missionieren ist wieder das geworden, was es ursprünglich einmal war, als die Deutschen die Slawen vor die Frage gestellt haben: "Taufe oder Tod!" Diese Mission ist als Begriff wieder da und selbst die Theologen haben keine Ahnung, daß sie ursprünglich eine Glaubensmission vorgehabt haben. Ungeheuerlich.

Gerhard Zwerenz - Foto: © 2009 by Schattenblick
Foto: © 2009 by Schattenblick

Die Verfälschung von Realität durch verfälschte Begriffe hat ein solches Ausmaß angenommen, daß man im Grunde genommen eigentlich nur noch dekonstruieren müßte, wenn man überhaupt wieder auf die Wahrheit rekurrieren möchte. Und nun stellt sich die Frage: Gibt es einen Weg, wie wir auf friedliche Weise diesem bevorstehenden Chaos oder dem bevorstehenden Teiluntergang oder auch dem Gesamtuntergang entgehen können? In der Tat: Ich sehe nach all dem, was ich in Betracht ziehen kann, daß der einzelne in seinem Wissen beschränkt ist. Aber selbst wenn ich nun mehrere einzelne nehme, sehe ich keinen Ausweg als den dieses blochschen Weges, zu versuchen, über Dekonstruktion von Sklavensprache in die zweite, in die andeutende Sklavensprache überzugehen und es so frei zu sagen, wie es mir möglich ist. In der DDR konnte weder Bloch, noch konnte ich, noch konnten andere offen sprechen. Im jetzigen Deutschland kann man offen sprechen, nur wenn man ganz offen und klar spricht, dann hat man keine Möglichkeiten mehr zurück.

SB: Ist damit das gemeint, was Sie an anderer Stelle einmal "pazifistische Revolte oder Krieg" genannt haben? Demnach wäre das, was Sie jetzt ausgeführt haben, die pazifistische Revolte?

GZ: Ja, die pazifistische Revolte. Ich kann nicht auf die Straße gehen, die Massen sammeln und sagen: Jetzt schaffen wir etwas anderes. Abgesehen davon wären im Falle eines Siegs der Revolution die Sieger nun ihrerseits diejenigen, gegen die man revoltieren müßte. So kommt man aus dem Dilemma nicht heraus. Das ist ein ewiges Rad, oder mit Nietzsches Hauptsatz gesprochen: Die Wiederkehr des ewig Gleichen oder die ewige Wiederkehr des immer Gleichen. Der Ausgang, der revolutionäre Ausgang im Sinne der marxistischen Revolution ist versperrt. Das kann man in Südamerika machen. Hinzu kommt noch die Frage der Konterrevolution, denn solange das große US-Imperium versucht, seine Macht auszuspielen, wird es stets diese Gefahr geben. Südamerika muß man dabei ausklammern. Die große Frage stellt sich für Asien und in Zukunft für Afrika. Da wird es sich abspielen.

Wir haben auf diesem Gebiet überhaupt keine Chance, wir können nur versuchen, diesen Weg über die Köpfe zu gehen, und da gibt es viel zu entdecken. Wir können fortwährend Kolumbus sein auf dem Meer von Denken, auch von Gefühlen, da kann man alle Segel setzen. Das hat nun allerdings Bloch im "Prinzip Hoffnung" getan, er ist gewissermaßen als Kolumbus überall herumgesegelt und hat überall nach Spuren eines anderen Lebens gesucht. Ich kann also in einer Oper, die zum Einschlafen gedacht ist oder zum Jubilieren, je nachdem, wie man gerade gestrickt ist, mit Bloch durchaus Spuren, revolutionäre Spuren oder nur Hoffnungsspuren auffinden. Das hat er in diesem Dreibänder getan. Ich bin da gar nicht so skeptisch, wie ich mich manchmal äußere. Ich lege nur immer Wert auf die Aussage, daß dieses Hauptwerk die Realisierung, die Exemplifizierung dessen ist, was in der "Erbschaft dieser Zeit" vorgegeben und praktiziert worden war und auch verständlicher ist. Die Leute bleiben ja auf der Strecke, wenn sie die drei Bände "Hoffnung" lesen. Sie bleiben auch auf der Strecke, wenn sie die "Erbschaft" lesen, aber zur "Erbschaft" kann man jemand noch eher anstiften. Ich spreche viel lieber über die "Erbschaft" als über das "Prinzip Hoffnung", weil das eine eben kürzer ist, näher liegt und leichter zu erklären ist, während ich beim "Prinzip Hoffnung" erlebt habe, was die Westdeutschen daraus gemacht haben. Da haben viele ihren Doktor, ihren Professor gemacht, und dann quatschen sie ein Leben lang denselben Mist.

SB: Deutet der Begriff der Sklavensprache auf die Befreiung der Sprache hin?

GZ: Beides. Auf die Versklavung in der Sprache und auf die naive Sklavensprache. Der, der von vornherein Knecht ist und nie gelernt hat, seinen Kopf zu benutzen, der wird die Sprache der Herrn übernehmen. Das ist die naive Sklavensprache. Die andere Sklavensprache ist die andeutende, die operative Sklavensprache, in der ich zwar so tue, als wäre meine Sprache schon die Sprache, die hier geläufig ist, aber überall zeige, daß ich etwas anderes sehe. Ich zeige die Spuren.

SB: Aber es ist ein Prinzip des Opportunismus?

GZ: Ja.

SB: In welchen Zusammenhang steht das Verhältnis zwischen Mensch und Sprache in diesem utopischen Sinne zur Befreiung des Menschen?

GZ: Das ist eine Utopie. Die Befreiung der Menschen ist die Utopie. Es kann sein, daß es Utopie bleibt. Bei Bloch ist daraus der Gang von der Utopie zur konkreten Utopie geworden. Die konkrete Utopie ist wiederum das, worüber wir jetzt gesprochen haben. Und die anderen bleiben bei der allgemeinen, bedingungslosen, bei der wirkungslosen Utopie. Bloch selber ist diesen Weg gegangen. Sein erstes Buch, das Utopiebuch, war natürlich noch längst nicht konkrete Utopie, da hat einer noch poetische Philosophie und Dichtung betrieben. Weil er das gemerkt hat, hat er als nächstes Buch sofort den "Müntzer" gebracht, ist also sofort in die konkrete Situation gegangen und hat gezeigt, daß der Müntzer ein ganz anderer war als der Lump, der Bauernverräter, der Bauernbrecher, den man aus ihm gemacht hat. Da ist vielmehr eine ungeheure Revolution drin, die sich natürlich auch gegen diesen in der Zwischenzeit konterrevolutionär gewendeten Luther gerichtet hat. Also der Bloch hat natürlich ganz früh, schon am Ende des ersten Weltkriegs, gemerkt, daß es so nicht geht, wie er es ursprünglich wollte. Und so ist er auf den marxistischen Weg gekommen.

SB: Da wir beim Schreiben, bei der Literatur sind - in einem Blog der taz wird Ihnen die Äußerung zugeschrieben: "Was keine Wirkung hat, ist wertlos". Und in Ihrem zweiten Nachwort zur sächsischen Autobiographie schreiben Sie: "Literatur hat Folgen oder sie ist ein Schlafmittel." Was bedeutet eine solche Position für die Literatur der Gegenwart?

Gerhard Zwerenz - Foto: © 2009 by Schattenblick
Foto: © 2009 by Schattenblick

GZ: Es ist natürlich eine Zuspitzung, aber es ist auch die Frage des Subjekts. Ich empfinde die meiste Literatur, die ich heute zu lesen bekomme, entweder als Schlafmittel, und dann ist sie uninteressant, oder ich betrachte sie als reine Kapitalpropaganda, oft auf tollen Umwegen gemacht. Manchmal sage ich auch: Donnerwetter, denen ist ja etwas eingefallen, aber zum Schluß bleibt davon nichts. Wenn da nicht Spuren der operativen Sklavensprache drin sind, ist die Sache völlig hinfällig. Das ist Industrie, Kulturindustrie, nicht wahr, so gehen wir ins 21. Jahrhundert und sind's zufrieden.

SB: Sie haben geschrieben: "Eigene Meinungen sich zu erarbeiten und engagiert zu vertreten ist so plural und scharf angreifend nicht mehr möglich. Wer es dennoch versucht, wird scheitern. Ich verspüre, wie meine Äußerungsmöglichkeiten sich in den letzten Jahren mehr und mehr verringerten, es sei denn, ich hätte mich angepasst." Das gehört ja in diesen Zusammenhang.

GZ: Ja.

SB: Und Sie schreiben weiter: "Ich bin nicht nur ein aufgehörter freier Schriftsteller, die Gattung selbst hört auf. Diese Welt gehört fortan den durchgestylten, ganz und gar Aerodynamischen, bei denen noch nicht einmal der Wind pfeift, wenn er sie trifft."

GZ: Das ist ein schönes Gedicht.

SB: Aber steht es nicht im Widerspruch dazu, daß Sie einmal gesagt haben, Sie wollten linke Literatur machen? Was wäre linke Literatur heute?

GZ: Ich weiß nicht. Das, was versucht wird. Ich weiß es nicht.

IZ: Das ist auch jeweils eine Stimmungsfrage, nehme ich an, wobei der aktive Teil mehr in den Vordergrund tritt. Weil Sie auf den Poetenladen verweisen: Es gibt ja Überraschungen. Ich und Gerhard speziell hatten den Enzensberger schon eingeordnet, na ja, er macht schöne Gedichte, ab und zu ein Essay, und dann kommt auf einmal dieses Hammerstein-Buch, wo er erstens gearbeitet und zweitens Sachen herausgefunden hat, die ungeheuer wichtig waren. Das ist ja deshalb auch eine Folge im Poetenladen.

Foto: © 2009 by Schattenblick
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GZ: Zum Erfolg dieser Leute wie Enzensberger, der allerdings noch der Beste ist, gehörte, daß sie stets die Fahne in den Wind gehangen haben. Zum Ende der Gruppe 47 waren alle ungeheuer radikal links. Im Laufe der Zeit haben sie das Mäntelchen immer mehr gewendet. Enzensberger hat tolle Analysen des Spiegel und der FAZ geschrieben, ungeheuer analytische Dekonstruktionen. Nach einer gewissen Zeit haben diese Leute, vor allem Enzensberger, Aufträge gekriegt und sind fast ständige Autoren von Spiegel und FAZ geworden. Entsprechend fallen eben auch ihre Artikel aus, die sie schreiben.

IZ: Zum 80. Geburtstag dachten wir schon, in der FAZ hört es überhaupt nicht mehr auf mit den Würdigungen Enzensbergers.

GZ: Und das war einmal ihr absoluter Kritiker.

SB: Das Theaterstück von Rainer Fassbinder "Der Müll, die Stadt und der Tod" basiert auf Ihrem Buch "Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond". Der große Skandal um das Stück begann mit dem Vorwurf des Linksfaschismus, erhoben von Joachim Fest. Sie haben damals zusammen mit Erich Fried, Jean Amery und Fassbinder eine Diskussion zu der szenischen Lesung des Stücks gemacht, die vom WDR aufgezeichnet, aber nie ausgestrahlt wurde. Gab es einen Grund dafür, gab es bittere Kontroversen oder war es insgesamt untragbar?

GZ: Zunächst muß man wissen, daß die szenische Lesung und die anschließende Diskussion in Bochum im Theater stattfand. Da war Peter Zadek Intendant, der neulich gestorben ist, der im jüdischen Exil in England war, einer unserer größten Intendanten. Und der war fasziniert von dieser ganzen Judenfrage, weil es sein eigenes Problem war. Die Fernsehaufnahmen wurden vom WDR gemacht, jedoch vom Dritten Programm. Warum das dann nicht gesendet wurde, ist nie geklärt worden. Aber das ist noch nicht das Problem. Das Problem war, daß die Bänder verschwunden waren. Und dann hat sich ein sehr fragwürdiger Mann dahintergestellt, nämlich Henryk M. Broder. Er hat mit seinen Kenntnissen über den WDR, für den er häufig gearbeitet hat, dort im hintersten Keller diese Bänder gefunden und sie teilweise zugänglich gemacht. Da zeigt sich natürlich, daß die Diskussion zwischen Amery, Fried, mir und anderen so offen und so klar und so genau war, daß sie die ganze in der Zwischenzeit angelaufene Diskussion, die ja eine Hetze gegen uns gewesen ist, dekuvriert hätte. Sie hätten keinen Stich mehr gehabt.

So hat sich ausgerechnet Amery, der nun wirklich ein Opfer der antisemitischen Hetze gewesen ist, über uns auch in Briefen sehr positiv geäußert. Das war in Anbetracht des Kalten Krieges in den Medien nicht mehr akzeptabel. Und so sind die Bilder halt verschwunden. Und Broder, der sie dann aufgefunden hat, hatte auch nicht sehr viel Interesse daran, weil er eigentlich in seinen Positionen sehr schwankte. Wir waren damals ja befreundet, und da wollte er auf mich ein bißchen Rücksicht nehmen. Andererseits war er natürlich absolut gegen die ganze Sache und gegen das Stück und gegen Fassbinder und schwenkte mehr auf die FAZ-Linie ein, so daß das Aufklärungsbedürfnis nicht sehr groß gewesen ist. Immerhin hat er soviel aufgebracht, daß ich mich in bestimmten Publikationen darauf beziehen und zeigen konnte, daß die ganze Diskussion nichts anderes als der Versuch eines Kalten Krieges ist, ausgehend von der FAZ, bei der der Mitherausgeber Fest damals bestimmend war.

Dieser Mann ist für mich bis zu seinem Tod ein Lump gewesen. Er hat die Chance, zuzugeben, daß er mit dem, was er gesagt hat, gelogen hat, bis zu seinem Tod nicht wahrgenommen. Und das ist für mich eine Frage, die bleibt. Er ist zwar tot, doch die FAZ lebt noch. Solange sie es nicht fertigbringt, einzugestehen, was sie damals eigentlich getan hat, solange ist diese Zeitung für mich eine Lügenzeitung.

Ein Parallelbeispiel: Ich bin ja, solange es die DDR gab, hier in der Leipziger Volkszeitung ungeheuer angegriffen worden, meine Freunde auch, aber ich vor allen Dingen - was war ich da für ein Lump. Immerhin hat es diese LVZ, allerdings noch mit der alten Besetzung, fertiggebracht, sich 1990, nachdem die Einheit hergestellt worden war, zu entschuldigen. Sie haben in einem großen Artikel niedergeschrieben, wie sie mich beschimpft haben, und haben sich entschuldigt. Die FAZ hat das bis heute nicht fertiggebracht. Das ist der Kalte-Kriegszustand von heute. Es liegt nicht an mir, es liegt an dieser Zeitung. Und dieser Herr, der gestorben ist, ohne daß er zur Wahrheit zurückgefunden hat, ist für mich schon vorher gestorben gewesen.

IZ: Daß sich Fest vom Speer auf einen Rollmops hat laden lassen, wo er sich doch so viel auf seinen Intellekt eingebildet hat - Speer hat Fest doch durch den Kakao gezogen.

Gerhard Zwerenz - Foto: © 2009 by Schattenblick
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SB: Und Ihr Verhältnis zu Broder hat sich mit der Zeit gewandelt?

GZ: Er war ursprünglich ein junger Linker, der sich sein eigentliches Geld in der St. Pauli-Presse verdient hat, was ich ihm nicht verüble, das war ganz toll. Wir waren in Köln ein bißchen in Berührung, und dann hat er sich eben im Laufe der Zeit zu dem Broder von heute entwickelt, wobei er nicht ernstzunehmen ist. Er verkackeiert im Grunde genommen alle und sich selber auch. Aber damals war er gefährlich.

SB: In der Debatte um das Interview mit Thilo Sarrazin wurde weithin unterschätzt, daß dem fremdenfeindlichen Tenor ein sozialrassistischer Gehalt mit eugenischem Einschlag zugrunde liegt, der in der ganzen Diskussion überhaupt nicht wahrgenommen wurde.

GZ: Nur von wenigen, wie Ossietzky, da steht so etwas. Aber wer sonst liest so etwas!

SB: Das gilt auch für Peter Sloterdijk mit seinem FAZ-Beitrag "Die Revolution der gebenden Hand". Ich verstehe das ganze - und da würde ich auch Herrn Broder zuordnen - im Grunde genommen als eine Art neokonservative Offensive.

GZ: Das ist der rechte Rand der amerikanischen Republikaner, und da ist die Grenze zum Faschismus, zumindest zum Mussolini-Faschismus, gar nicht weit weg. Die ganze auf Leo Strauss beruhende Schule und die Chicago-Boys, die sie hervorgebracht hat, sind natürlich mussolinihaft. Strauss war selbst im jüdischen Exil am Anfang in Frankreich noch ein bekennender Mussolini-Fan. Daß sie nicht Hitler-Faschisten geworden sind, liegt daran, daß Hitler Antisemit war. Das ist das eigentliche Problem. Eigentlich haben sie ihre Linie fortgesetzt und ausgebaut. Das ist die Vorbereitung für eine größere Krise. Dann entsteht das rechte Heerlager plötzlich aus diesen Ansätzen, aus diesen Anfängen. Sloterdijk bekennt sich ja als Sozialdemokrat, das besagt überhaupt nichts oder besagt alles, je nachdem, wie man das sehen will, nicht wahr, aber das ist der rechte Rand amerikanischer Republikaner. Warten Sie einmal auf die nächste größere Krise, dann treten sie alle hervor.

SB: Es ist interessant, daß Sie Leo Strauss erwähnen. Die Linie, die zum Neokonservatismus gezogen wird, verankert sich ja in einer Philosophie, die hier in Deutschland ihre Ursprünge hat und in der auch Carl Schmitt seinen Platz hat.

IZ: Der hat das dann ins Extrem getrieben.

GZ: Das gehört zusammen. Diesem Carl Schmitt wollen sie sogar ein Denkmal setzen, aber es gibt noch Widerstand dagegen. Das ist diese ursprüngliche, rechtskonservative Richtung mit Verbindung zur konservativen Revolution, mit diesem ganzen Klüngel damals in der Weimarer Republik ...

IZ: Aber das waren wenigstens keine Juden, das macht mich so wahnsinnig bei dem Leo Strauss.

GZ: Ja, Strauss ist der jüdische Mussolini.

IZ: Und beschimpft die Hannah Arendt ...

GZ: Wobei die herzlich befreundet gewesen sind bis dahin.

IZ: Eben, und nennt sie intellektuelles Lumpenproletariat und bedauert, daß er nicht zurück kann nach Deutschland im Faschismus.

Gerhard Zwerenz mit SB-Redakteur - Foto: © 2009 by Schattenblick
Foto: © 2009 by Schattenblick

SB: In den neokonservativen Kreisen der USA sind immer noch viele jüdische Intellektuelle vertreten, die dort die proisraelische Linie zu Lasten anderer durchsetzen. Sie nehmen gerne den ideologischen Vorbehalt für sich in Anspruch, daß man als Jude ein potentiell Verfolgter ist und deshalb in der reaktionären Haltung, die man an den Tag legt, nicht angegriffen werden darf.

GZ: Das war für mich natürlich eine Urerfahrung, weil wir in der DDR eigentlich nur unsere Juden kannten. Von Bloch bis Kantorowicz oder Hans Mayer, mit dem ich persönliche Schwierigkeiten hatte, aber das hatte wirklich persönliche Gründe. Wir hatten eigentlich nur linke Juden in unserem Freundeskreis und das setzte sich in Westdeutschland fort. Ob das der Amery war, ob das der Robert Neumann war ...

IZ: Robert Neumann ist ja so sowieso ein Solitär.

GZ: Wir kannten eigentlich nur linke Juden. Es gab ein paar Außenseiter, das waren rechte Juden. Und der Vater der rechten Juden war William S. Schlamm, ursprünglich Linker, im Exil, in der Exil-Weltbühne Chefredakteur, insofern auch noch ein Linker, und kommt als absolut rechter Jude zurück und ist dann das eigentliche Spiegelbild.

IZ: Er hat immer in der Welt am Sonntag geschrieben. Da kriegte der Gerhard jeweils am Sonntag wegen des Schlamms so eine Wut, daß die für die ganze Woche Schreiben ausgereicht hat.

GZ: Wobei man natürlich sagen muß, daß ich als jung aus der DDR Gekommener ursprünglich sein erklärter Freund war. Sowohl Hans Habe als auch Schlamm haben mich begrüßt. Doch als sie merkten, da ist kein Konterrevolutionär, sondern ein Kommunist gekommen, da schalteten sie sofort um und die Feindschaft begann. Aber ansonsten hatten wir nur mit linken Juden zu tun.

SB: Sie sagten ja, daß Broder eigentlich jemand ist, der keine Wirkung hat. Er erzielt allerdings hohe Auflagen, hat mit seiner Website "Die Achse des Guten" einen gewissen Einfluß und schreibt überdies häufiger für den Spiegel.

GZ: Er ist Mitarbeiter, er steht im Impressum, das hat natürlich Jahrzehnte gedauert. Er hat immer mal einen Schritt gemacht, wobei Augstein ursprünglich dagegen war. Dann ist Augstein gestorben und die Nachaugsteine, die Steinchen, sind gekommen. Bei Broder ist das konsequent, das ist wie mit den Republikanern, die sind konsequent: Auch wenn sie eine Niederlage eingesteckt haben, sind sie schon wieder da. Und Broder hat das gut verstanden, er macht sich aber jetzt öffentlich ein bißchen sehr lächerlich. Sloterdijk übrigens auch. Sein sofortiger Rückzug, nachdem ihn ein Frankfurter Adornite gestellt hat, auf die Aussage, eigentlich bin ich ein Sozialdemokrat, ich will ja nur das, was die Sozis auch wollen, ist im Grunde genommen lächerlich. Die Frage ist, wer merkt es, daß es lächerlich ist.

SB: Man bekommt den Eindruck, daß sich hier einige Personen als Wortführer für die Ära der schwarz-gelben Regierung, in der der Sozialkampf noch stärker als bisher von oben geführt wird, empfehlen. Wo würden Sie Wolf Biermann verorten, der vom Springer-Chef Mathias Döpfner zu seinem siebzigsten Geburtstag geehrt wurde, indem er behauptete, Biermann habe dadurch, daß er immer ein Freund der Freiheit gewesen sei, seinen Vater gerächt. Mit dem Vater von Wolf Biermann bemächtigt sich Döpfner eines kommunistischen Widerstandskämpfers, der als jüdischer politischer Gefangener für seine Überzeugung in Auschwitz ermordet wurde, und setzt ihn für eine Sache ein, für die dieser sicherlich niemals gestanden hätte.

GZ: Biermanns Vater hätte seinen Sohn aus der Partei ausgeschlossen. Damals war das noch eine gute kommunistische Partei, wenn auch schon stalinistisch, aber das ist eine andere Frage, in Deutschland gab es keine andere Möglichkeit. Biermann ist ja ein Sexualflüchtling. Man muß im Nachhinein sagen, daß die Linke - da muß ich mich dazu rechnen, solange Biermann in der DDR war und wir ihn hier ungeheuer vertreten haben - auch dann noch auf ihn reingefallen ist, als er schon lange Zeit in Westdeutschland war und sich immer mehr nach rechts entwickelte. Das zeigt schon, daß die Linke unfähig zur Dekonstruktion ist. Hinter der ganzen Biermanngeschichte steckt ja eine Variante, über die er zwar selber, aber nicht vollständig gesprochen hat.

Jakob Moneta ist für uns auf gewisse Art eine Heiligenfigur. Jude, Exil et cetera, dann Trotzkist und trotzdem in der deutschen Pariser Botschaft Kultursekretär gewesen, dann die lange Zeit als Chefredakteur der Gewerkschaftszeitung der IG Metall. Er war für uns in der Organisation ein fester Bezugspunkt, mit ihm konnte man rechnen. Und Moneta hat im Hintergrund auch die Fäden gezogen für die Besuche Biermanns in Westdeutschland. Vor dem letzten Besuch, der zur Ausbürgerung führte, ist er schon einmal dagewesen. Wir haben mit ihm in Frankfurt Veranstaltungen gemacht. Und das ging stets nur mit der organisatorischen Hilfe von Jakob Moneta.

Als Biermann endgültig in der Bundesrepublik war, hat er in Frankfurt in der Wohnung von Jakob Moneta gewohnt. Damals lebte auch die Frau von Moneta noch. Da hat Biermann etwas erzählt, das Jakob Moneta später durchaus veröffentlicht hat, und wir beziehen uns wiederum auf diese Beweislage. In der letzten Nacht, bevor Biermann in den Westen gegangen ist und glaubte, er könne zurückkommen, ist Margot Honecker bei ihm gewesen. Und im Morgengrauen, im Morgenschein hat er sich vor ihrem faltigen Hals geekelt. Das heißt, sie hat auch da geschlafen, und wenn ich mich vor dem faltigen Hals einer Frau, die bei mir schläft, ekele, dann muß ich an diesem Hals sehr nahe dran gewesen sein. Und so erst ist, was an sich klar war, aber was man nicht so genau gewußt hat, die ursprüngliche Nähe zwischen Margot Honecker und Biermann, aufgekommen, die ja zusammen bei einer Stiefmutter gewesen sind. Nun jedenfalls, diese letzte Nacht hat er dem Moneta geschildert und dann hat er den Moneta öffentlich angegriffen als einen ewigen Stalinisten, ...

IZ: ... den man nicht einmal durch Operation heilen könnte.

GZ: Also ein ungeheuerlicher Schlag gegen einen absolut seriösen Linken, ein jüdischer Trotzkist, der sich dann mit der PDS etwas angetan hat, was wir alle gemacht haben, weil es für uns die Möglichkeit war, überhaupt etwas daraus zu machen, nachdem die DDR perdu gewesen ist. Und nun frage ich, wie weit denn diese Nähe Biermann/Margot Honecker eigentlich gegangen ist? Und was hat denn nun der oberste Staatschef der DDR, das oberste Schwert der Arbeiterklasse, eigentlich davon gewußt? Steckt dahinter vielleicht tatsächlich nichts weiter als diese Wahnsinnsfrage: Mein Gott, der geht mit meiner Frau fremd?

Wenn jemand so etwas liefert - und das ist ja nicht so wie jetzt, daß der Spiegel etwas zwischen Lafontaine und der Sahra erfindet -, sondern es ist ja das, was Biermann selber geliefert hat. Und zwar in der Umschreibung, also von dem faltigen Hals und von der letzten Nacht, von diesem Bett, in dem sie geschlafen haben, dann zur Übernachtung von Biermann bei Moneta und dann der Verrat an diesem Moneta, der ihm die ganze Zeit geholfen hat. Zu sagen, das ist auch nur ein Stalinist, der hält es jetzt mit den PDSlern und wer einmal Stalinist ist, ist eben lebenslang Stalinist, na, ich bitte Sie, wie kann ich denn so einen Charakter noch akzeptieren? Das ist doch nicht möglich.

IZ: Wobei die Reaktion von Monetas Frau, die Biermann die ganzen letzten Jahre beruflich sehr unterstützt hat, darin bestand, ihn rauszuschmeißen. Als Biermann den Angriff wegen der Falten gefahren hat, hat sie ihm sofort die Tür gewiesen. Ich finde das alles sehr peinlich.

GZ: Auf diesen Vorgängen basieren x Spiegelartikel, x Artikel in der sonstigen Presse, alle diese Dinge werden gebracht, aber nicht im Zusammenhang. So ergibt sich die Unfähigkeit der Dekonstruktion. Sie sind die ersten, die das jetzt dekonstruieren können.

SB: Dankeschön. Da Sie eben die PDS erwähnten, würde ich gerne mit einer Frage zur Linken anschließen. Das Paradoxe ist in gewisser Weise, daß die sogenannte Wiedervereinigung im Bereich der Partei Die Linke dazu geführt hat, daß die ostdeutsche Ex-PDS stärker von reformistischen Kräften bestimmt wird und die westdeutschen Linken im Vergleich dazu radikaler erscheinen. Wie beurteilen Sie dieses Verhältnis, das momentan in der Kampagne gegen Lafontaine instrumentalisiert wird, indem man versucht, ihn wegen seiner Nähe zu anderen Westlinken zu schädigen? Wie beurteilen Sie die Zukunft der Linken vor diesem Hintergrund?

GZ: Ich kann das nicht beurteilen, weil ich nicht weiß, wieviel Prozent dieser öffentlichen Meinung, die in diese Richtung geht, real und wieviel Prozent gesteuerte Ideologie ist. Nach meinen persönlichen Erkenntnissen, die aber sehr sporadisch sind, stimmt das nicht. Das öffentliche Bild zeigt natürlich die Westlinke linker und anarchistischer und auch etwas chaotischer als das öffentliche Bild der Ostlinken. Aber auch da muß ich sagen, daß das wiederum von einer gesteuerten ideologischen Mediengruppe so suggeriert wird. Andererseits muß ich vorsichtig sein, weil ich, jedenfalls seit meinem Herzinfarkt, nicht mehr den Einblick habe, den ich früher hatte. Im Rahmen meiner vielen Lesungen, die ich vorher hatte, bin ich auch in Ostdeutschland überall in den Gruppen herumgereist und habe da immer sehr genau aufgepaßt und mir zu erklären versucht, wie es läuft. Damals wäre ich der Meinung gewesen, so stimmt es nicht, aber seither sind ein paar Jahre vergangen, und ich bin sehr zurückhaltend, was die aktuelle Situation betrifft.

Gerhard Zwerenz - Foto: © 2009 by Schattenblick
Foto: © 2009 by Schattenblick

Auf alle Fälle muß das, was das Medienkartell von der FAZ bis zum Spiegel an Meinungen fabriziert, unter absolutem Ideologievorbehalt stehen. Soweit ich es beurteilen kann, sind vor allen Dingen die großen Spiegel- und FAZ-Artikel mit Sicherheit zu 60 bis 70 Prozent falsch. Ich kenne ja auch die Autoren und weiß, wie weit in ihnen ihr Verleger mit enthalten ist. Oft sind die Leute ja auch absolut doppelgesichtig. Wenn man privat mit ihnen spricht, dann haben sie ein ganz anderes Gesicht, eine ganz andere Meinung, als wenn man liest, was sie geschrieben haben. Das wird jeweils gefiltert durch ihre eigene kapitalstarke Obrigkeit, deswegen will ich da vorsichtig sein.

SB: Zwanzig Jahre nach der sogenannten Wende wird von einer "friedlichen Revolution" gesprochen. Wenige Leute aus der damaligen DDR-Opposition reden davon, daß die Revolution scheitern mußte, um überhaupt zur Wiedervereinigung zu führen. Gibt es Ihres Erachtens noch so etwas wie eine Erinnerung daran, daß man eigentlich einen besseren Sozialismus wollte, daß man diesen Entwicklungsansatz vielleicht doch hätte weitertreiben können? Oder ist das inzwischen auch unter der ostdeutschen Bevölkerung völlig abgeschrieben?

GZ: Es gibt Erinnerungen bei kleineren Ostgruppen, die dann allerdings zu den kleineren kommunistischen Parteien neigen, die sich gebildet haben, oder es gibt die Unabänderlichen, die nach wie vor das von sich geben, was sie einmal in ihren Parteischulen und Parteilehrgängen gelernt haben, und das ist ein etwas gefilterter Stalinismus. Damit habe ich wenig zu tun, ich halte das auch nicht für gravierend, was sich da tut, das sind Randgruppen. Was die größere Richtung der Ostlinken angeht, so scheint mir wenig Erinnerung an die vertanen Möglichkeiten vorhanden zu sein. Das ist der Grund, weshalb ich hier in dieser Serie im Poetenladen fortwährend Erinnerung an das nicht genutzte linke Potential zu wecken versuche. Dafür ist eben, weil das nun auch meine persönliche Erfahrung ist, meine Lebenserfahrung, dieses Leipziger Potential, bestimmend. Nicht das Ostberliner, das war schon zu nahe am Politbüro, am Zentralkomitee, da gab es zu viele Verschwisterungen, Verbrüderungen, gute Leute, die dann in die Apparate gingen und die noch heute nicht einsehen wollen, daß sie in den Apparaten nicht wirklich das bewirkt haben, was sie eigentlich bewirken wollten. Deswegen fürchte ich, daß das Erinnerungspotential an die vertanen Möglichkeiten zu schwach ist.

Das heißt aber, daß man in der Literatur und in der Publizistik durchaus versuchen kann, das zu verstärken, und das versuche ich. Es gibt auch andere, die jetzt so langsam aufwachen. Man darf nicht verkennen, daß es ungeheuer gute Leute in der Ostlinken gibt, meist jüngere Professoren, die dann evaluiert worden sind, die aber nicht aufgegeben haben. Ich will jetzt gar keine Namen nennen, das werde ich irgendwann einmal tun. Da gibt es Leute, die auf Spezialgebieten eine ungeheure Arbeit leisten, da können wir im Westen überhaupt nicht mithalten. Das sind dann allerdings auch Leute, die zum Beispiel Spezialerfahrungen mit China gesammelt haben, weil sie im Botschaftspersonal der DDR in China gewesen sind. Da lese ich also die riesigen Artikel über China in der FAZ und kann nur lachen.

IZ: Theodor Bergmann, um doch einmal einen Namen zu nennen.

GZ: Dennoch läuft es im großen und ganzen Gefahr, in alte ideologische Kämpfe und Krämpfe zurückzufallen. Nehmen wir einmal, um zu sehen, wie das Volk denkt, die Leserbriefe in den großen Zeitungen und setzen dann die Leserbriefe im ND dagegen, das sind alles ideologische Kämpfe und Krämpfe von gestern und vorgestern. Das kommt nun wieder. Man kann verstehen, die Leute haben das Bedürfnis, sich zu wehren, weil ihre DDR so giftig angegriffen wird, und wollen Gegenargumente bringen. Aber das läuft alles zurück in das, was schon gewesen ist.

SB: Sie sprechen alte ideologische Kämpfe an. Wenn man die heutige Linke betrachtet, dann ist das Thema Israel und der sogenannte linke Antisemitismus ein großer Spaltpilz, der die Restlinke, wenn man so will, auf eine Weise demobilisiert, daß man auch in Bereichen, in denen man sich einig ist, nicht mehr zusammen auftreten kann. Sie haben damals gesagt, daß man als Linker kein Antisemit sein kann unter Bezugnahme auf die Verteidigung der Juden auch gegen den Nazismus. Wie sehen Sie den heutigen Umgang mit dieser Frage?

GZ: Also zunächst einmal müssen Sie sehen, daß ich in meiner naiven Unschuld als ehemaliger DDR-Bürger einfach davon überzeugt war: Wenn ich Antisemit bin, kann ich kein Linker sein. Für mich war das so gegensätzlich und ausschließend, daß ich x-mal sagen kann, ich bin ein Linker und doch zur Rechten gehöre, sobald ich Antisemit bin. Trotzdem habe ich natürlich gewußt, daß es in der Arbeiterbewegung auch antisemitische Beimengsel gegeben hat, und in bestimmten Zeiten, an bestimmten Orten, zum Beispiel in Leipzig, sogar ganz beträchtlich. Das war ein Zentrum des Antisemitismus und nach 1933 ein Zentrum der nazideutschen Christen. Es war nicht nur ein großes Zentrum der Arbeiterbewegung, sondern auch ein Zentrum des Gegensätzlichen. Obgleich das klar ist, kann man ja nicht immer einen großen Vortrag halten, wenn man gefragt wird.

Im Grunde genommen galt, und dabei bin ich geblieben, daß, sowie etwas antisemitisch wird, es nicht mehr links ist. Ich war natürlich immer auch der Meinung, daß man trennen muß zwischen jüdisch und israelisch und insofern zwischen antisemitisch und antiisraelisch, was eigentlich alles klar ist. Und jetzt braucht man gar nicht groß zu reden, für mich sind die linken Israelis einfach Gefährten, Genossen und Kampfgenossen und der Avnery ist für mich ein Autor, hinter dem ich vollkommen stehen kann. Ich werde also nie eine Distanzierung zu Avnery formulieren müssen, sondern das sind wir. Und da ist nichts Antisemitisches drin, abgesehen davon, daß er Jude ist und ich nicht, aber es ist etwas Antiisraelisches drin in dem Zustand, in dem sich Israel heute befindet, und damit ist eigentlich die Debatte aus- und abgeschlossen. Etwas anderes ist das nicht und alle, die daraus große Epen machen, haben ganz anderes im Sinn, das ist dann schon wieder Ideologie. Und das ist das, was der Fest damals gesagt hat. Er hat uns zu Linksfaschisten gemacht. In der Zeit hatte Rainer Fassbinder größte Schwierigkeiten in Frankfurt mit der DKP, die vollständig gegen Fassbinder war. Ich hatte nicht nur Schwierigkeiten mit meinem Geburtsland DDR, sondern wurde hier auch per Haftbefehl gesucht, und trotzdem schreibt dieser Fest in dieser Schweinezeitung FAZ, daß Fassbinder und ich Linksfaschisten und Moskaububen oder moskauhörig sind. Wenn man das nicht dementieren kann, wenn man das nicht richtigstellen kann, dann ist für mich die Freiheit am Ende. Deswegen warte ich auf die Entschuldigung der FAZ.

SB: Also dürfen wir Sie mit dem Begriff der "Schweinezeitung" zitieren.

GZ: Sie dürfen das zitieren. Das sage ich jederzeit überall. Ich warte, daß die FAZ sich so entschuldigt, wie sich die Leipziger Volkszeitung immerhin 1990 entschuldigt hat.

Gerhard Zwerenz - Foto: © 2009 by Schattenblick
Foto: © 2009 by Schattenblick

SB: Ich habe gelesen, daß Sie früher den Herrn Möllemann in der Zeitschrift twen getroffen haben. Haben Sie da mit ihm zusammengearbeitet?

GZ: Nein, nicht zusammengearbeitet, sondern man traf sich lose. Es gab zwei Macher des twen. Es war die erste deutsche Zeitschrift, die im Text- und im Bildteil absolut amerikanisiert war. Deshalb hat sie auch zwei Chefredakteure gehabt, Chefredakteur Bild und Chefredakteur Text. Chefredakteur Bild war der berühmte Willy Fleckhaus. Er hat die Suhrkampreihe gemacht und war von da an in ganz Deutschland der absolut Heilige, von dem alle Zeitschriften etwas lernen wollten. Chefredakteur Text war Hans Herrmann Köper. Das war nun unser Verbindungsmann, unser Freund, eine hochinteressante Figur, Fallschirmjäger, der einmal zu viel vom Flugzeug abgesprungen ist und sich dabei die Nieren erkältet hat und an der Dialyse hing. Er war zugleich einer der ersten Antikriegsaktivisten im Nachkriegsdeutschland und saß in Köln in dem Haus gegenüber dem WDR. Unten ist der Wallrafplatz, mit einem f, das ist noch nicht unser Wallraff. Köper ist wiederum derjenige, der den Wallraff, also unseren Günter Wallraff, ziemlich gefördert hat, weil er diese ersten Antikriegsartikel in twen gebracht hat. Bei twen war natürlich irgendwann Geldflaute. Und da hat entweder Köper oder Fleckhaus den Möllemann aufgetan. Möllemann war der absolute junge Star, der absolute Aufsteiger, der wäre wochenlang barfuß durch die Wüste gelaufen, um einen Erfolg zu haben. Der hat das als seine Chance ergriffen und hat sich dann in dieses Herausgebergremium eingebracht. Ich habe Möllemann eigentlich nur ein paarmal getroffen und später, als er dann seine Karriere machte, haben wir uns noch ein paarmal gesehen. Wir sind immer auf freundschaftlichem Fuß geblieben, aber jeder hat den anderen angeguckt wie durch eine Glaswand (lacht). Es wachsen ja Glaswände in solchen Situationen, nicht wahr, die werden immer dicker, so wird Panzerglas daraus. Trotzdem haben wir uns immer noch freundlich zugewinkt. Der letzte Wink kam dann aus dem Flugzeug.

SB: Wie sehen Sie diese Kampagne, die Möllemann gegen Ariel Sharon geführt und die bewirkt hat, daß er von den Menschen, mit denen er eigentlich verbündet war und die ihn zu ihrem Zugpferd gemacht hatten, richtiggehend ausgesondert wurde. Hielten Sie das damals für eine Art von antisemitischem Populismus oder war er so etwas wie ein versteckter Antiimperialist?

GZ: Ich weiß es nicht. Da war das Panzerglas längst zwischen uns, und das sind die Dinge, bei denen man staunend dasitzt und guckt und sich sagt, also wie war das bloß? Dann will man fragen und stößt wieder gegen das Panzerglas und das ist dann die verschlossene Tür, da kommt man nicht durch. Ich weiß es nicht, genausowenig wie ich mir vergeblich vorstelle, wie das mit dem letzten Fallschirm gewesen ist, wobei die Brücke für mich im Kopf natürlich der letzte Fallschirm von Möllemann und der letzte Fallschirmsprung von unserem Freund Hans Herrmann Köper ist, der sich dabei die Nieren kaputt gemacht hat und deswegen nach dem Krieg absolut gegen den Krieg war, seine Nieren haben ihn ja jeden Tag daran erinnert (lacht). Und das sind die skurrilen Situationen, die gibt's eigentlich nur in der Literatur.

 Foto: © 2009 by Schattenblick
Foto: © 2009 by Schattenblick

SB: Wenn Literatur Wirklichkeit ab- und widerspiegelt, und dies nicht in bloß beschreibender, sondern in verändernder, emanzipatorischer Absicht, welche Rolle kommt dann dem Fiktiven zu?

GZ: Die Literatur ist ein Feld, auf dem die Sklavensprache artistisch werden kann. Die Publizistik kann nicht artistisch werden, die Publizistik hat viel zu viel Bodenhaftung, muß sie auch haben. Die Literatur erlaubt, die Bodenhaftung zu behalten und trotzdem darüber artistische Sprünge vorzuführen. Verlieren wir hier die Bodenhaftung, dann wird's uninteressant. Doch es gibt welche, die bleiben in Bodenhaftung und führen ungeheure Sachen auf, die einen staunen lassen, so daß man sagt, Donnerwetter, so habe ich das eigentlich nicht gesehen.

Ich habe in Minsk im Gefangenenlager gesessen und da ist mir das erste Mal diese Frage gekommen, wie war das denn, da hast du doch in Grimms Märchen diese Sache gelesen mit dem Hans im Glück. Und dann ist mir klar geworden, daß wir alle Hans im Glück waren. Zum Schluß saßen wir hier in dieser ungeheuren eisigen Einöde, und die Gefangenen sind gestorben wie die Fliegen. Weshalb sind wir denn jetzt die, die wie Fliegen sterben? Wir hatten doch etwas ganz anderes. Und dann habe ich angefangen, meine Kindheit aufzuarbeiten und mir gesagt, warum haben wir denn damals eigentlich diese linken Bücher im Wald vergraben, das war doch 1933, da hat mein Großvater gesagt, diese Bücher können wir jetzt nicht mehr in der Wohnung lassen, die einen können dableiben, das sind die Romane, und die anderen, die politischen Bücher, die müssen wir vergraben, und dann sind sie im Wald vergraben worden. Und damit begann diese Karriere vom Hans im Glück. Es wurde immer weniger, wir hatten so viel und es wurde immer weniger, bis wir am Ende waren, im Eis. Das ist die Frage von Literatur, ich muß in der Literatur den Hans im Glück umdrehen, ich nehme den, der gar nichts hat, und versuche ihm beizubringen, daß er alles haben kann. Aber das Geheimnis liegt hier, das muß er öffnen, durch die Tür muß er durchgehen. Deswegen bin ich bei Bloch so fasziniert gewesen, als er einmal, das muß im Seminar gewesen sein, plötzlich diese Geschichte mit Kafka vor dem Gesetz interpretierte. Er interpretierte ja die Dinge immer etwas fremdartig und trotzdem explosiv in der Wirkung.

Als wir einmal in Auerbachs Keller Sylvester gefeiert haben - wir waren frisch verheiratet -, saßen wir mit zwei anderen Paaren in diesem letzten, hintersten Auerbach-Keller, wo im "Faust" die Auerbach-Keller-Szene spielt. Und als Bloch diese Geschichte interpretierte und wir in diesem Keller waren, habe ich gedacht, mein Gott, warum hat Goethe diese Szene so gemacht. Er hat das Ganze aber im Gegensatz dazu, wie der "Faust" weitergeht, noch auf diesem Studentenwitz-Level gehalten. Innerhalb dieser Studentenwitzsituation guckt aber fortwährend schon etwas heraus, von dem man sagen kann, daß es schon ein wenig teuflisch ist. Es ist etwa anders als das, was später entwickelt wird. Und deshalb hat mir dieser letzte, tiefste Keller von Auerbach immer zu denken gegeben.

Aus Auerbachs tiefstem Keller in den lichten Wahn des Konsumismus gezerrt - Foto: © 2009 by Schattenblick
Aus Auerbachs tiefstem Keller in den lichten Wahn des
Konsumismus gezerrt
Foto: © 2009 by Schattenblick

Irgendwann wurde mir klar, daß das natürlich dieser Ansatz des Übergangs von Goethe zu Kafka ist. Dann kam mir noch die Entdeckung zugute, daß Nietzsche, als er "Also sprach Zarathustra" verfaßt hat, eigentlich den dritten Teil des "Faust" schreiben wollte. Er wollte Goethe weiterschreiben, und dazu mußte er natürlich - er war ja ein in der Nähe von Leipzig geborener und auch begrabener Sachse - in Auerbachs Keller gehen. Nietzsche saß dort, wo wir dann saßen und Sylvester gefeiert haben, und ihm ging auf: Ich kann den Faust weiterschreiben, aber dann muß ich ihn drehen, ganz drehen, giftig machen!

Und so ist diese heldische Schweinefigur des Übermenschen, des Zarathustra, entstanden und dann war es eben nicht mehr der dritte Teil von Faust, sondern in seiner Ungeheuerlichkeit sowohl Übergang zum Faschismus als auch das Gegenteil. Der jüngere Nietzsche ist noch das Gegenteil, der alte ist schon der Faschist, da hatte der alte Harich ja durchaus Recht. Mir sind im Laufe der Zeit diese Bilder zusammengeschossen, und dann kommen eben solche Dinge dabei heraus. Ich habe ja immer Luftschwierigkeiten gehabt, wegen meiner TBC, und wenn ich in Seminarpausen um unser Institut, das bei der Pleiße gegenüber des Dimitroff-Museums liegt, herumgegangen bin, um Luft zu holen, dann hab ich mir immer eingebildet, jetzt kommt der Van der Lubbe um die Ecke. Dann habe ich mit dem Van der Lubbe gesprochen, was nur schwer geht, weil er den Kopf unter dem Arm getragen hat, nicht wahr, und so entstanden meine "Leipziger Geschichten", und je weiter ich weg war, um so stärker wurden mir diese "Leipziger Geschichten". Wenn ich hiergeblieben wäre, hätte ich es wahrscheinlich vergessen. Das ist die Antwort auf die Frage zur Literatur.

SB: Sie sagen von sich, daß Sie seit ihrem 25. Lebensjahr schreiben, wie sie atmen. Was sind Sie dabei am allermeisten: Dichter, Literat, Chronist, Narr, Mahner oder ein vergeblicher Rufer in der Wüste? Und welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Humor?

IZ: Eine große.

GZ: Humor ist die Hauptsache. Also ich war ja immer überrascht, daß man meinen Humor nicht bemerkt hat. Wir wollten ja ursprünglich Leipzig nicht verlassen. Ich hatte damals die Vorstellung, daß ich in Leipzig mein Leben beschließe, und wollte alle zwei, drei Jahre einen humoristischen Roman über Sachsen und Leipzig und in jeder zweiten, dritten Nummer der Weltbühne einen scharfen, satirischen Artikel schreiben. Daß das dann gar nicht als Humor verstanden wurde, sondern so zur Rechenschaft gezogen wurde, hat mich ungeheuer überrascht. Darauf habe ich mir gesagt, naja, wenn das so ist, dann bleibe ich der Humorist und ich laß mich auch dadurch nicht abbringen, daß sie das nicht verstehen. So habe ich dann meine Bücher geschrieben. Und das hat sich im Westen genauso bewährt (lacht). Ich habe doch nicht gewußt, daß man das als feindselig verstehen kann, was ich in Frankfurt geschrieben habe. Der Frankfurter Roman "Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond" ist für mich ein Roman voll von schwarzem Humor. Die Amerikaner haben das auch gemacht, nur die amerikanischen Schriftsteller waren Juden. Die durften das machen. Das ist die ganze Antwort, ansonsten gefällt mir die ganze Aufzählung, die Sie gebracht haben.

Gerhard Zwerenz - Foto: © 2009 by Schattenblick
Foto: © 2009 by Schattenblick

SB: Herr Zwerenz, Sie haben Ihre sächsische Autobiographie "als Fragment in 99 Fragmenten" verfaßt. Da ist der Begriff des Fragments wahrscheinlich mehr als ein Kunstgriff?

GZ: Ja, in der Tat, es ist die Modernisierung der "Erbschaft dieser Zeit". So wie die "Erbschaft dieser Zeit" aus Fragmenten besteht, aus lauter einzelnen Dekonstruktionen, die aber absolut gesellschaftlich relevant sind in der Zeit des werdenden und schon vorhandenen Faschismus, versuche ich mit Fragmenten, indem ich mich nicht auf die Unendlichkeit des Aneinanderhängenden einlasse, sondern immerzu hereingehe, dem gerecht zu werden. Ich nehme hundert Jahre meiner Geschichte - ich lebe erst 84 Jahre, aber ich habe ja als Kind auch die Geschichten meiner Großmutter gehört. Ich hatte ja nur meine Großmutter als Quelle und die erzählte mir von ihrer Urgroßmutter, und das weiß ich noch genau, diese Urgroßmutter war 1798 geboren. Ich habe also von meiner Großmutter, die 1866 geboren war, die Geschichte ihrer Groß- oder Urgroßmutter gehört, die 1798 geboren war. Wenn wir das noch ein bißchen fortsetzen, kommen wir zu Jesus Christus zurück. Dieser lange Faden, diese lange Geschichte, die erlebbar wird, indem ich versuche, sowohl das Gehörte, wie das Gesehene, wie das Erlebte an meinem Lebensfaden aufzuhängen - das habe ich gestern versucht zu erklären -, das ist das Faszinierende mit diesen Fragmenten.

Aber als Internet, als Online, komme ich aus den Geschichten, die ich selbst verbürgen kann - wenn nicht, dann sage ich "Satire, Fiktion" -, in die Jetztzeit, das heißt in die absolute Jetztzeit, in die Istzeit, in die Realzeit hinein. So wie ich jetzt die Geschichte mit dem Krawczyk eingebaut habe, in der er plötzlich den ersten Vers des Deutschlandliedes singt, so hängt das jetzt an einer Szene, in der ich meinetwegen im Jahre 1943 die Landung der Amerikaner in Sizilien beschreibe, wo ich als Schütze Arsch dagegen lag und natürlich schon das erste Mal gestorben bin. Das kann ich also verbinden, und das kann ich verbinden von einem Freitag über Sonnabend zum Sonntag. Freitag schicken wir das Manuskript ab, Geschichte und Jetztzeit, Sonnabend ist das hier in Leipzig, Sonntag gibt er (Andreas Heidtmann, Anm. d. Red.) uns das zur Kontrolle wieder durch, Montag früh erscheint das Online. Das ist doch eine irre Situation, das hat es noch nie gegeben. Wenn ich das in ein Buch bringe, dann geht das durch den Verlag, dann ist da der Lektor, dann kommt der Verleger, der Verleger sagt, mein Gott, es gibt Schwierigkeiten, ...

IZ: ... dann kommt der Justitiar, ...

GZ: ... dann kommen Rechtsfragen dazu, es vergeht Zeit. Wenn das Buch dann herauskommt, ist es altbacken. Ich muß das dann vertreten, habe aber in der Zwischenzeit wieder ungeheure Geschichten in Jetztzeit erlebt. Ich will damit gar nichts gegen das Buch sagen, sondern ich will nur sagen, wir haben ein neues Land entdeckt, und fahren darin noch wie Kolumbus auf der Suche nach Amerika herum und wir entdecken auch fortwährend etwas. Wir können etwas entdecken, und wenn ich gestern gesagt habe, man kann eine Dokumentation daraus machen, natürlich, wenn ich das so mache, daß die Sachsen gar nicht mehr anders können als bei mir nachzublättern, weil das eben der Sachsenspiegel zweiter Teil ist, dann müssen sie es eben als Buch kriegen.

Das ist dann aber nicht mehr ein neues Buch, sondern es ist die Dokumentation. Es ist die Dokumentation einer Onlineserie und deswegen viel näher an dem Tag, an dem wir noch leben. Das ist das Irre, und deswegen sind Sie mit Ihrer Sendemöglichkeit, mit Ihrer Onlinemöglichkeit, natürlich auch völlig auf dem richtigen Ufer, nur den Leuten geht das noch nicht richtig in den Kopf, die wollen möglichst historische Romane lesen, die ganz abgeschlossen sind. Dann werden ihnen irgendwelche Geschichten vom letzten, vorletzten Jahrtausend erzählt, und da geilen sie sich dran auf und merken gar nichts. Wenn sie strukturell zu denken gelernt hätten, dann würden sie merken, daß unter Umständen auch ihre Sachen darin verhandelt werden. Und das können sie nicht entschlüsseln, aber wir können das tun, können ganz andere Schlüssel liefern.

SB: Kann man sagen, daß Streitbarkeit ein wesentlicher Antrieb für Ihr Schreiben ist?

IZ: Aber ja, aber in den letzten Jahren geht er nicht immer durch die Wände.

GZ: Nein, das Alter macht schon friedlich. Aber Sie müssen auch bedenken, daß ich so aufgewachsen bin. Ich habe ja als junger Mann fortwährend unterdrücken müssen, was ich wußte. Obwohl ich Karl May sowieso gelesen habe, habe ich ihn extra gelesen als Kind, um über Karl May sprechen zu können, damit ich nicht über die Bücher sprach, die mich wirklich interessierten, die linken Romane. Als dann die Hitlerjugendzeit anfing, waren wir in diesem Arbeitermilieu erst in Meuten organisiert, wir waren die Huckelmeute, das war die berüchtigte linke Meute der Stadt Crimmitschau. Wenn die Hitlerjugend durch unser Viertel marschierte, gab's Prügelei, weil wir das nicht zulassen wollten. Dann hat die Polizei eingegriffen, die Schule eingegriffen, und dann waren die Meuten weg und dann marschierten wir nicht brav, aber doch in die Hitlerjugend. Ich mußte ja fortwährend unterdrücken, was ich wirklich dachte, was ich wußte, und mußte so tun, als wäre es so. Und in den zwei Jahren beim Militär war es wieder so. Wir durften ja nicht einmal sagen, daß man am Erfolg des Krieges zweifelte, dafür konnten wir erschossen werden. Also habe ich fortwährend in mir einen ungeheuren Stau gehabt.

Deswegen habe ich das dann auch geschafft, daß ich da weggegangen bin, obwohl alle deutschen Soldaten einen Riesenschiß vor den Russen hatten. Um Gotteswillen, nicht zu den Russen, nicht von den Russen gefangennehmen lassen. Je mehr die um mich herum so geredet haben, um so sicherer war ich, daß ich zu den Russen gehen werde. Das bildet dann immer einen Stau, trotzdem habe ich erst noch den Warschauer Aufstand gebraucht, um dann ...

IZ: ... als letzter Anstoß ...

GZ: ... wirklich zu sagen, nun ist aber Schluß, also jetzt nun nicht mehr. Dies nur zur Erklärung, daß ich mit diesem Problem gelebt habe. In der DDR konnte ich wieder nicht sagen, daß ich eigentlich für Trotzki bin, jedenfalls gegen Stalin, das hat ja nochmal neun Jahre gedauert und das hat gereicht, den Motor anzuwerfen.

SB: Ingrid Zwerenz, Gerhard Zwerenz, ganz herzlichen Dank für dieses ausführliche Gespräch.

Sächsische Spezialitäten - Foto: © 2009 by Schattenblick
Sächsische Spezialitäten
Foto: © 2009 by Schattenblick

2. Dezember 2009