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INTERVIEW/009: Linksliteraten - Ukraine und das unfreie Spiel der Kräfte ...    Reinhard Lauterbach im Gespräch (SB)


19. Linke Literaturmesse Nürnberg

Reinhard Lauterbach über das Interesse der EU, die Ukraine aus dem Einflußbereich Rußlands herauszubrechen, hiesiger Chefredaktionen, über bestimmte Vorfälle in der Ukraine nicht zu berichten, und eines Korrespondenten an verläßlichen Informationen aus der Region



Von jeher werden Menschen in Kriege hineingezogen, die nicht in ihrem Interesse geführt werden und der Durchsetzung vorgeblich übergeordneter Werte dienen. In der Regel leistet dabei eine Dämonisierung des Widersachers Schützenhilfe, wobei diesem jede Menschlichkeit abgesprochen wird, so daß seine letztendliche Vernichtung geradezu als Gebot der Vernunft erscheint, um weiteres Unheil von der "eigenen" Seite abzuwenden.

Das Bild zeigt einen Mann, der mit einer Schlange ringt, und dem Schriftzug: 'Nieder mit dem Bolschewismus. Bolschewismus bringt Krieg und Verderben, Hunger und Tod' - Bild: Unbekannt - Library of Congress Catalog, freigegeben als gemeinfrei via Wikimedia Commons

Der neue Feind ist der alte: Rußland, ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkriegs.
Bild: Unbekannt - Library of Congress Catalog, freigegeben als gemeinfrei via Wikimedia Commons

Solch ein propagandistisches Geschütz wird heute, hundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs mit seinen rund 17 Millionen zivilen Opfern und "Gefallenen" - ein verharmlosender Begriff, als seien die Soldaten nur mal eben gestolpert und gestürzt -, erneut kräftig aufmunitioniert. Gern wird dabei das archetypische Bild der Schlange benutzt. [1] Der Russe steht schon unmittelbar an "unseren" Grenzen, lautet die Warnung, während unerwähnt bleibt, daß "wir", die NATO-Staaten, eben diese Grenzen in den letzten gut zwei Jahrzehnten immer weiter nach Osten an Rußland herangeschoben haben.

Um der vorgeblich schicksalhaften oder, um den australischen Historiker Christopher Clark zu bemühen, "schlafwandlerischen" Entwicklung zu einem abermaligen Waffengang gegen Rußland nicht zu erliegen, ist es um so dringender geboten, Roß und Reiter zu nennen, die beteiligten Akteure und ihre Interessen in diesem Konflikt zu analysieren und so zur Bildung einer einflußreichen Gegenöffentlichkeit beizutragen.

Dafür bot die 19. Linke Literaturmesse Nürnberg, die vom 31. Oktober bis 2. November 2014 im Künstlerhaus im KunstKulturQuartier stattfand, etliche Anknüpfungspunkte. Angefangen vom Ringen um eine vertiefende theoretische Erkenntnis zur Organisation von Arbeit, Staat oder Gesellschaft bis zur Verbreitung praktischer Erfahrungen im Kampf um urbanen Wohnraum, Mobilität oder höheres Einkommen fand in zahlreichen publizistischen Produkten eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Widersprüchen statt. Zeitgleich mit der Literaturmesse stellten Autorinnen und Autoren die Ergebnisse ihrer Arbeit vor, so auch Reinhard Lauterbach, der ein Kapitel zu dem Buch "Ein Spiel mit dem Feuer - Die Ukraine, Russland und der Westen" (herausgegeben von Peter Strutynski, PapyRossa Verlag, Herbst 2014) beigesteuert hat.

Der frühere ARD-Korrespondent für Osteuropa schreibt heute vorwiegend für die Zeitung "junge Welt". Im Anschluß an seinen detaillierten Vortrag über die Entwicklung in der Ukraine seit Entstehung der Maidan-Bewegung vor einem Jahr und dem Sturz des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch stellte sich Reinhard Lauterbach dem Schattenblick für einige Fragen zur Verfügung.

Reinhard Lauterbach beim Vortrag - Foto: © 2014 by Schattenblick

In den ersten Wochen nach dem Umsturz in der Ukraine geschahen zwei Dinge: Erstens wurde ein relativ tolerantes Sprachgesetz hinsichtlich der Stellung der russischen Sprache ersatzlos kassiert. Zweitens wurde in dem Parlament ein Antrag gestellt, das Pachtabkommen über die Stützpunkte der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim ersatzlos mit sofortiger Wirkung zu kündigen. Das ließ in Rußland die Alarmglocken läuten.
(Reinhard Lauterbach am 1. November 2014 auf der Linken Literaturmesse)
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick (SB): "Fuck the EU" - scheiß auf die EU - sagte die Staatssekretärin im US-Außenministerium Victoria Nuland im Februar dieses Jahres in einem Telefongespräch mit dem US-Botschafter in Kiew. Wie schätzt du die Lage in der Ukraine nach dem Ausgang der Wahlen am 26. Oktober ein, ist die EU "angeschissen"?

Reinhard Lauterbach (RL): Sagen wir mal so, sie ist es in dem Sinne, als daß auf sie ein erheblicher Teil der Wiederaufbaukosten des Landes zukommen wird. Aber sie ist es sicherlich nicht durch das politische Ergebnis der Wahl, da ja das Ziel beider Seiten darin bestand, die Ukraine aus dem Einflußbereich Moskaus herauszubrechen. Insofern halte ich den Optimismus, daß dort jetzt pro-europäische Kreise an der Regierung sind, für ein bißchen überzogen, aber er ist insofern berechtigt, als daß es auf jeden Fall antirussische Kreise sind. Die EU wird mit diesem Ergebnis leben können.

Ich denke aber, daß sich die praktische Unterstützung der EU für dieses ukrainische Modell relativ zurückhaltend zeigen wird. Schon jetzt ist erkennbar, daß die Ukraine zum Beispiel im Laufe dieses Winters noch weitere zwölf Milliarden Euro braucht. Wenn erst einmal zur Bevölkerung durchdringt, wohin das knappe Geld geht, wird das, glaube ich, nicht dazu beitragen, daß die EU das Füllhorn aufmacht.

SB: Gibt es innerhalb der Ukraine noch eine oppositionelle Berichterstattung, die nicht gegen Rußland hetzt, sondern die Interessen der USA, der EU und auch Rußlands mit ihren jeweiligen Favoriten in Regierung und Politik benennt?

RL: Das ist auf der Kiewer Seite schwierig, weil die Fernsehkanäle alle irgendwelchen Oligarchen gehören. Das wichtigste Internetportal des Landes, die "Ukrajinska Prawda", ist sehr, sehr antirussisch geworden. Es wurde mit amerikanischem Geld gegründet und wird wahrscheinlich damit auch weiterhin betrieben. Es gibt einige wenige, eher lokale Internetportale, die sich bemühen, eine Berichterstattung zwischen den beiden Propagandalinien zu machen. Insbesondere für Menschen, die Russisch lesen können, gibt es das Portal timer.od.ua. Das wird von Odessa aus betrieben und leistet meiner Ansicht nach hinsichtlich der Berichterstattung über diesen Konflikt Bemerkenswertes.

SB: Wie gestaltet sich die Arbeit eines westlichen, regierungskritischen Journalisten in der Ukraine? Hast du da Schwierigkeiten oder kannst du dich dort frei bewegen?

RL: Da ich nicht mit irgendwelchen Ministern rede, sondern versuche, eher mit den Menschen auf der Straße zu sprechen oder einfach Eindrücke dessen zu gewinnen, was ich sehe, ist das eigentlich kein Problem. Es ist generell so, daß sich die Machthaber in der Ukraine immer schon um das, was in der Auslandspresse über sie geschrieben wird, relativ wenig geschert haben, weil sie wissen, daß ihr Publikum das in der Regel nicht liest. Das bedeutet, daß ich da bisher keine Schwierigkeiten erfahren habe, die über das allgemeine Maß an Schlendrian und Unpünktlichkeit hinausgingen.

SB: Du hast in der Medienbeilage der "jungen Welt" vom 27. August dieses Jahres hinsichtlich der Berichterstattung über den Ukraine-Konflikt die Frage aufgeworfen: "Was darf man glauben?" [2] Unter dieser Überschrift hast du eine Einschätzung der Zuverlässigkeit verschiedener Print- und Onlinemedien abgegeben. Nach welchen Kriterien oder aufgrund welcher Anhaltspunkte suchst du dir selber Informationen aus?

RL: Die Anhaltspunkte sind eigentlich Uneindeutigkeiten. Ich halte Quellen, die die von mir unterstellte, reale Widersprüchlichkeit der Situation durchscheinen lassen, tendenziell für glaubwürdiger als solche, von denen ich den Eindruck habe, daß sie ein Bild glattbügeln wollen, egal, ob in die eine oder andere Richtung.

SB: Am 2. Mai dieses Jahres hatten rechte Kräfte das Gewerkschaftshaus in Odessa in Brand gesetzt, Dutzende Menschen wurden dabei getötet. Würdest du sagen, daß der sogenannte Qualitätsjournalismus in Deutschland, der ausgerechnet über diese Vorfälle kaum berichtet hat, in Frage gestellt ist?

RL: Das ist er sicherlich, und die Kollegen Korrespondenten, die das so gemacht oder zugelassen haben, daß ihre Berichte so geschnitten werden - denn das ist ja auch denkbar -, müssen das mit ihrem professionellen Gewissen ausmachen. Da bin ich nicht derjenige, der Ratschläge zu erteilen hat. Das wissen die alle ganz gut selber. Man muß sich auch über eines klar sein: Die Informationspolitik der deutschen Chefredaktionen in Sachen Ukraine beruht nicht auf Unwissenheit, sondern die wissen, was sie tun.

Mehrere Dutzend Personen vor einem mehrstöckigen Gebäude mit zerstörten Fensterscheiben und Brandspuren. - Foto: HOBOPOCC, freigegeben als CC BY-SA 3.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0] via Wikimedia Commons

Demonstration auf dem Kulikowo-Pole-Platz vor dem ausgebrannten Gewerkschaftshaus in Odessa zum Gedenken an die Opfer, 10. Mai 2014.
Foto: HOBOPOCC, freigegeben als CC BY-SA 3.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0] via Wikimedia Commons

SB: Polens Verteidigungsminister Tomasz Siemoniak soll laut Welt online [3] bei seinem jüngsten Besuch in Berlin gesagt haben, "wir" brauchen eine starke Bundeswehr, die keine Verantwortung für die Verteidigung ihrer Bündnispartner scheut. Wie verbreitet ist diese Ansicht in der Bevölkerung Polens?

RL: Da, fürchte ich, geht Herr Siemoniak der Sache etwas voraus. Hintergrund dieser ganzen Geschichte ist, daß Polen jetzt die Ukrainekrise, die es in ihrer Frühphase wesentlich mit angeheizt hat, nutzt, um sich selbst als Frontstaat im Kalten Krieg 2.0 aufzubauen, nach dem mehr oder minder eingestandenen Vorbild der BRD im Kalten Krieg Nr. 1. Und an der Stelle müssen eben auch bestimmte alte Vorurteile in der Bevölkerung bekämpft werden. Zum Beispiel hat die polnische Presse die kritischen Berichte über die Ausrüstungsmängel der Bundeswehr sehr aktiv aufgenommen, und alle führenden Zeitungen des Landes haben Artikel geschrieben nach dem Motto, die Bundeswehr, die taugt doch gar nichts, die kann uns gar nicht verteidigen.

Das klingt natürlich vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen, die das polnische Volk mit einer deutschen Wehrmacht gehabt hat, sehr surreal. Es wird aber so behauptet.

Auf der anderen Seite muß man auch sagen, daß im praktischen Leben die Vorbehalte der polnischen Bevölkerung gegen Deutsche heute sehr gering, wenn nicht sogar nicht-vorhanden sind, so daß es gut sein kann, daß Bundeswehrsoldaten inzwischen nicht mehr zwangsläufig mit der Wehrmacht vor 75 Jahren assoziiert werden. Da werden jetzt noch alte Feindbilder abgeschliffen, genauso wie in den fünfziger Jahren eben auch jeder gehalten war, die Amerikaner als Befreier und Bündnispartner zu sehen und sich besser nicht an die Luftangriffe zu erinnern, hinter denen ja dieselben Amerikaner gestanden hatten.

SB: Angeblich besteht in den drei baltischen Staaten Lettland, Litauen, Estland Furcht vor einem russischen Einmarsch. Wie schätzt du die Lage ein, ist insbesondere vor dem Hintergrund, daß dort NATO-Kampfjets stationiert sind, auch nur entfernt denkbar, daß Rußland in diese Richtung Ambitionen entwickelt?

RL: Wenn es Ambitionen gibt, dann sind sie sicherlich im Augenblick nicht aktualisiert, denn die Russen wissen natürlich, daß Estland, Lettland und Litauen Mitglieder der NATO sind und für sie der berühmte Artikel 5 greift. [4] Was die Russen in der Ukraine und der Krim gemacht haben, ist ja genau deswegen geschehen, weil das Land nicht NATO-Mitglied ist und deswegen eben nicht automatisch die Eskalation zum Weltkrieg drohte. Insofern halte ich die Wahrscheinlichkeit, daß Rußland dort einmarschiert, für sehr, sehr gering. Und ob die russischsprachige Bevölkerung dieser Länder sich in der Weise instrumentalisieren läßt, wie sich Teile der Bevölkerung der Ostukraine haben instrumentalisieren lassen, vermag ich nicht einzuschätzen.

Ich würde aber sagen, daß das sicherlich auch eine Folge des wirtschaftlichen Wohlergehens in diesen Gastländern wäre. In der Ukraine ist einfach die wirtschaftliche Situation extrem schlecht, ihr gegenüber hat Rußland zum Beispiel einen wesentlich höheren Lebensstandard mit doppelt so hohen Renten und doppelt so hohen Löhnen aufzuweisen ... daß auch die Preise höher sind, wird dabei nicht so gern gesehen. Und die russische Minderheit beispielsweise in Litauen ist nicht so groß, daß sie irgendeine Gefahr darstellen könnte.

SB: Welchen Stellenwert im Ringen um Einfluß auf die Ukraine nehmen ihre fruchtbaren Ackerböden ein? Welche Bedeutung haben sie als unmittelbarer landwirtschaftlicher Produktionsraum oder als Investitionsobjekt fürs Finanzkapital im Verhältnis zu anderen Interessen, die man an der Ukraine haben könnte?

RL: Keine, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens ist die Europäische Union heute schon ein landwirtschaftliches Überschußgebiet, sie hat also den ukrainischen Schwarzerdeboden überhaupt nicht nötig. Das ist ein prinzipieller Unterschied zur Situation des deutschen Imperialismus im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Zweitens haben die Investitionen westlicher Agrarkonzerne in der Ukraine schon unter Janukowitsch begonnen, sie wurden also von ihm nicht daran gehindert. So entfällt auch nach der Seite dieses Motiv.

SB: In der hiesigen Berichterstattung wird der Konflikt mit Rußland immer auf die Person des russischen Präsidenten Wladimir Putin zugespitzt. Wie schätzt du seine Stellung innerhalb Rußlands ein - muß er sich gegen radikalere Kräfte behaupten? Wird von dort Druck auf ihn ausgeübt?

RL: Putin ist als ein Mann der Geheimdienste angetreten, der verschiedene Fraktionen im russischen Machtapparat relativ geschickt ausbalanciert hat. Die eine Fraktion sind die Wirtschaftsorientierten, die anderen die sogenannten Silowiki, also Leute aus den Gewaltstrukturen Militär und Geheimdienste. Letztere neigen eher zu Positionen, wie sie in dieser Branche üblich sind. Die Geschäftskreise verhalten sich wie Geschäftsleute.

Putin läuft aber Gefahr, zum Gefangenen seiner Rhetorik zu werden. Er hat während der Krim-Übernahme in sehr starkem Maße den allrussischen Nationalismus, die Unterstützung für die Landsleute im Ausland, betont, und wenn er jetzt im Falle der Ukraine nicht liefert, steht er natürlich ein bißchen in der Gefahr, sich gegenüber seinen eigenen Sprüchen von Anfang des Jahres zu blamieren. Und es gibt in Rußland eine nationalistische Szene, die willens und in der Lage ist, dies auch auszunutzen. Ob das für die Nachfolge Putins politische Konsequenzen hat, wäre noch zu früh zu sagen, und ob diese Leute in der Lage sind, Putin zu stürzen, ist im Augenblick ebenfalls zweifelhaft. Insofern kann man nur sagen, der Mann läuft auf dünnem Eis, soviel ist sicher. Aber was daraus wird, muß man sehen.

SB: Sowohl innerhalb der Linken als auch der Mainstreammedien wird aus jeweils anderen Gründen wenig über die Differenzierung innerhalb der rechten Kräfte in der Ukraine berichtet. Was sind die Hauptunterschiede zwischen einer faschistischen Partei wie Swoboda und der ultranationalistischen Partei Volksfront des Wahlsiegers Arsenij Jazenjuk?

RL: Im praktischen Auftreten sind die Unterschiede gering. Gerade die Volksfront hat etliche Personen in ihren Reihen, die ihre politische Karriere in einer faschistischen Vorläuferpartei der Swoboda, der Sozial-Nationalen Partei der Ukraine, begonnen haben. Zu den bekanntesten von ihnen gehört beispielsweise der ehemalige Leiter des Nationalen Sicherheitsrates, Andrij Parubij. Seine Partei hatte angesichts ihres fortwährenden Mißerfolgs im Osten des Landes im Jahr 2004 ein Rebranding versucht, um sich eben auch dort wählbar zu machen. Einige Leute, darunter Parubij, sind diesen Schritt nicht mitgegangen und dann in der Partei von Julia Timoschenko, der Vaterlandspartei, untergekrochen. Die Volksfront des amtierenden Ministerpräsidenten Jazenjuk ist im Grunde genommen eine Abspaltung von der Vaterlandspartei.

Die Abspaltung wurde veranlaßt, als sich der Nimbus von Julia Timoschenko abgenutzt hatte. Ihr Ergebnis bei den Wahlen ist ja äußert peinlich für ihre Ambitionen, und was wir dort sehen, ist einfach eine Absetzbewegung von Teilen ihrer eigenen Partei, die in Form der Volksfront mit nationalistischer Demagogie und einem wirtschaftlich extrem neoliberalen Programm einen großen Erfolg erzielt hat. Das muß man einfach feststellen. Einen Erfolg, wie ihn die Swoboda in dieser Form nicht gehabt hat und von dem ich annehme, daß er rein auf der Ebene der Wählerbewegungen zum großen Teil auf der Grundlage des Swoboda-Elektorats stattgefunden hat, so daß ich die Unterschiede zwischen Swoboda und Volksfront auf der praktischen Ebene für gering halte - nur eben, daß letztere nicht mit dem Image des Altfaschismus und Antisemitismus belastet ist.

SB: Der gegenwärtige Waffenstillstand zwischen der Kiewer Regierung und den ostukrainischen Aufständischen hält augenscheinlich nur begrenzt. Wie wird sich deiner Einschätzung nach die Ukraine weiterentwickeln - wird sie sich eher in Richtung Waffenstillstand bewegen oder holen die westukrainischen Kräfte zum erneuten Schlag aus, so daß sich die Konfliktlage nochmals wieder verschärfen wird?

RL: Wenn die Ukraine glaubt, sie sei stark genug, noch einmal die Entscheidung zu suchen, dann wird sie eine zweite Offensive starten, was allerdings wahrscheinlich nicht kurzfristig sein wird. Einfach deswegen, weil die Ukraine in den ersten drei Monaten des Krieges große Teile der schweren Waffen ihrer Armee verloren hat. Etliches davon haben die Aufständischen erbeutet und nutzen das jetzt auf ihrer Seite. In welchem Maße das Land aus westlichen Beständen wieder aufgerüstet wird - sei es mit altem sowjetischen Material, was in einigen der osteuropäischen NATO-Staaten noch vorhanden ist, sei es durch mehr oder minder getarnte Lieferungen modernen westlichen Materials -, wird sich zeigen.

Das wäre aber sicherlich eine Angelegenheit von mehreren Monaten, und da im übrigen die ukrainische Armee nicht vollständig mit Winterausrüstung ausgestattet ist, halte ich einen erneuten ukrainischen Angriff während der Frostperiode für wenig wahrscheinlich, auch wenn die Volksrepubliken öfter davor warnen, daß so etwas passieren könnte. Auf deren Seite ist die Sache spiegelbildlich genauso. Auch dort sind Winterausrüstung und Winteruniformen knapp. Vor allen Dingen aber stehen dort Aufgaben des Wiederaufbaus der zerstörten Infrastruktur im Mittelpunkt. Und wenn die Volksrepubliken auf dieser Ebene nicht liefern, setzen sie die Loyalität der Bevölkerung zu ihnen aufs Spiel und das werden wahrscheinlich auch deren Führungskader verstanden haben.

SB: Was hältst du von dem Vorschlag, Bundeswehrsoldaten als sogenannte Beobachter für die Waffenstillstandsvereinbarung in der Ukraine einzusetzen?

RL: Großmannssucht. Selbst die OSZE [5] hat dementiert, daß eine solche Anfrage ergangen ist, und es ist seit diesem Vorstoß auch nichts mehr verlautet. Da, würde ich sagen, hat sich Frau von der Leyen irgendwie mal vorgewagt, um einfach eine kesse Lippe zu riskieren.

SB: Zur Zeit des Kriegs Rußland gegen Georgien haben die USA Kriegsschiffe ins Schwarze Meer geschickt, die sich dort in provozierender Nähe zu russischen Einheiten aufgehalten haben. Glaubst du, daß der gegenwärtige Status Quo der Krim, wo die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist, erhalten bleibt oder läßt sich vorstellen, daß die NATO-Staaten noch weiter nachzufassen versuchen, um Rußland im "Great Game" die Krim abzunehmen und damit seinen Zugang zum Mittelmeer?

RL: Sie werden es vermutlich versuchen, aber nicht auf der unmittelbar militärischen Ebene. Meiner Ansicht nach werden sie versuchen, die Krimtataren, die ungefähr 15 Prozent der Bevölkerung der Krim ausmachen, als Stoßtrupp gegen Rußland in Stellung zu bringen. Es gibt dafür ein Indiz: Seit April sendet Radio Liberty auf krimtatarisch, was der Sender während des gesamten Kalten Kriegs Nr. 1 nicht für nötig gehalten hat.

Auf der militärischen Ebene wäre das zum gegenwärtigen Zeitpunkt für die Ukraine selbstmörderisch, weil Rußland die Krim als sein eigenes Staatsgebiet betrachtet, egal ob das irgend jemandem im Westen nicht gefällt. Ein Angriff auf die Krim wäre genau dasselbe, als würde von Estland aus St. Petersburg bombardiert - die Reaktion wäre dieselbe.

Obama hat bereits gesagt, daß es keine amerikanische Bodenkriegsbeteiligung in der Ukraine geben wird. Das ist für die ukrainischen Nationalisten sehr bitter, denn sie merken an dieser Stelle, daß sie für die USA bloßes Spielmaterial sind. Das müssen sie noch schlucken, aber das ist ihr Problem, nicht meines.

SB: Vielen Dank für das Gespräch.

Ausgedehnte Sendeanlage mit zahlreichen Masten - Foto: Kuebi, freigegeben als CC BY-SA 3.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/] via Wikimedia Commons

Die Kurzwellensendeanlage von IBB bei Biblis, 8. Juni 2007.
Über diese Anlage sendet das International Broadcasting Bureau der USA Propaganda des Radio Free Europe/Radio Liberty.
Foto: Kuebi, freigegeben als CC BY-SA 3.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/] via Wikimedia Commons


Fußnoten:


[1] Eine nicht-repräsentative Medienanalyse zeigt, daß Putin wahlweise als "Schlange", "doppelzüngig" oder als jemand, der "sich häutet", diffamiert wird:

Die "Rheinische Post" schreibt unter der Überschrift "Warum der Westen so hilflos gegen Putin ist": "Doch der russische Präsident agiert ganz offensichtlich doppelzüngig." (30.8.2014)
http://www.rp-online.de/politik/warum-der-westen-so-hilflos-gegen-putin-ist-aid-1.4488718

"Die Schlange häutet sich" (Europolitan, 3.10.2007)
http://www.europolitan.eu/Die-Schlange-haeutet-sich/278,3158,0,0.html

"Wie 1938 sitzt Europa wie das Kaninchen vor der Schlange, hofft und betet, Putin möge doch noch zur Vernunft kommen, und verpasst dabei die wichtigen Schritte zu unternehmen, die durch den Wegfall des Lieferanten Russland entstehenden Engpässe aufzufangen." (Eurojournalist, 8.8.2014)
http://eurojournalist.eu/wladimir-putin-wie-sehr-sich-der-westen-doch-irrt/

"Putins Doppelzüngigkeit entlarven!" (Gesellschaft für bedrohte Völker, 24.4.2104)
http://euromaidanberlin.wordpress.com/2014/04/24/putins-doppelzungigkeit-entlarven-einreiseverbot-fur-krimtatarenfuhrer-dschemilew-aufheben/

"Wie heuchlerisch Moskaus Klagelieder über das Weh und Ach sind, das den Separatisten angetan wird, erkennt man auf einen Schlag, wenn man sich erinnert, wie Moskau mit 'seinen' Separatisten - zum Beispiel in Tschetschenien - umspringt. Wer noch die Bilder der dem Erdboden gleichgemachten Stadt Grosny vor Augen hat, der kann die Liebesbekundungen Putins für die ukrainischen Separatisten nur als Gipfel des Zynismus empfinden - und muss sich zudem fragen, weshalb keiner der zeitgenössischen Politiker ihm diese Doppelzüngigkeit um die Ohren haut." (Zeit online, 23. Juni 2014)
http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-06/kolumne-leicht-ukraine-zynismus

[2] http://archiv.jungewelt.de/beilage/art/3422

[3] http://www.welt.de/politik/deutschland/article133792039/Polen-ist-besorgt-ueber-die-Schwaeche-der-Bundeswehr.html

[4] Der Nordatlantikvertrag - Washington DC, 4. April 1949
Artikel 5
"Die Parteien vereinbaren, daß ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, daß im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten. Von jedem bewaffneten Angriff und allen daraufhin getroffenen Gegenmaßnahmen ist unverzüglich dem Sicherheitsrat Mitteilung zu machen. Die Maßnahmen sind einzustellen, sobald der Sicherheitsrat diejenigen Schritte unternommen hat, die notwendig sind, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen und zu erhalten."
http://www.nato.diplo.de/Vertretung/nato/de/04/Rechtliche__Grundlagen/Nordatlantikvertrag.html

[5] OSZE - Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.

6. November 2014


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