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INTERVIEW/037: Links, links, links - Domestiziert zum Schlachten ...    Hans Modrow im Gespräch (SB)


Kuba steht vor wachsenden Herausforderungen

20. Linke Literaturmesse in Nürnberg


Seit 55 Jahren von den USA und deren Verbündeten drangsaliert, boykottiert und unzählige Male totgesagt, ist der kubanische Gesellschaftsentwurf noch immer lebendig. Angesichts dieser Geschichte unausgesetzter Konfrontation drängt sich zwangsläufig die Frage auf, wie das einsetzende Tauwetter zwischen Washington und Havanna einzuschätzen ist. So sehr ein Ende der Blockade zu begrüßen wäre, ist doch die Befürchtung nicht von der Hand zu weisen, daß die Obama-Administration auf eine Strategie der Auflösung von innen setzt, um endlich jenen Zusammenbruch herbeizuführen, der unter Druck von außen in Jahrzehnten nicht stattgefunden hat.

Als Internationalismus und Antiimperialismus für die Linke noch selbstverständlich waren, stand die praktizierte oder zumindest hochgehaltene Solidarität mit Kuba außer Frage. Sie hat wie vieles andere auch mit dem Niedergang linker Positionen weithin Präsenz und Wirksamkeit in den gesellschaftlich geführten Diskussionen eingebüßt. Dies lediglich zu beklagen oder in altersbedingt schrumpfenden Zirkeln in nostalgischer Wehmut besserer Zeiten zu gedenken, bestätigte um so mehr den Sturz in die Bedeutungslosigkeit. Warum solidarische Verbundenheit mit dem kubanischen Entwurf gerade in Zeiten einsetzenden Umbruchs unverzichtbar ist, erfordert über den Kreis ohnehin interessierter Menschen hinaus folglich einen noch zu erstreitenden Umgang mit jener anhaltenden Auseinandersetzung, die sich keinem gängigen Geschichtsbild von Siegern und Besiegten fügt.

Auf der Linken Literaturmesse in Nürnberg stellten Volker Hermsdorf und Hans Modrow gemeinsam mit ihrem Verleger Wiljo Heinen das Buch "Amboss oder Hammer. Gespräche über Kuba" vor. [1] Hermsdorf entstammt der westdeutschen 68er-Bewegung und war 30 Jahre Gewerkschaftssekretär bei der IG Metall. Er lebt mit seiner kubanischen Familie in einem ärmeren Viertel Havannas und kennt daher die Realität der Gesellschaft Kubas, über die er als Korrespondent der "jungen Welt" regelmäßig berichtet.

Modrow war der letzte Vorsitzende des Ministerrates der DDR, Abgeordneter der PDS und der Partei Die Linke im Bundestag und wurde ins Europaparlament gewählt, wo er im Ausschuß für Entwicklungshilfe tätig war. Seit 2007 ist er Vorsitzender des Ältestenrats der Linkspartei. Zu Zeiten der DDR war er intensiv mit der Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen vertraut und kennt Kuba auf der Ebene offizieller diplomatischer Kontakte und Zusammenarbeit. Als Abgeordneter im Bundestag und in Brüssel hatte er Gelegenheit, auch die Positionen anderer Parteien in der Kubafrage auszuloten und Anstöße zu geben. Die beiden Autoren haben sich ausgiebig über die aktuelle Situation und Entwicklung Kubas ausgetauscht, wobei Hermsdorf als Journalist aus der alten BRD dem ostdeutschen Politiker Modrow in ihren Gesprächen durchaus auch unangenehme Fragen stellte.

Wie Volker Hermsdorf bei der Buchvorstellung hervorhob, sei Kuba kein Paradies, das man glorifizieren sollte, aber bei allen Mängeln doch der Versuch, ein alternatives Gesellschaftsmodell am Leben zu halten. Dort habe man selbst in der Spezialperiode [2] nie darüber diskutiert, die sozialen Leistungen zu kürzen, wie wir das in Deutschland und noch viel schlimmer in Griechenland, Portugal oder Spanien erleben. Die US-Regierung halte am Ziel eines Systemwechsels fest und ändere lediglich ihre Vorgehensweise. Kuba bedürfe angesichts der zu erwartenden Subversion um so mehr als Beispiel und Botschaft für die Linke in Europa unserer Solidarität.

Hans Modrow, der nicht zuletzt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der DDR und Kuba zur Sprache brachte, warf insbesondere die Frage nach der weiteren Entwicklung in Lateinamerika und deren Rückwirkung auf Kuba auf. Er plädierte für eine starke Solidarität auch in seiner eigenen Partei und Bewegung in der deutschen Außenpolitik, die nicht ewig den USA hinterherlaufen dürfe. Es gelte, die Debatte um den Sozialismus des 21. Jahrhunderts weiterzuführen, zumal die Entwicklung Kubas auch künftig mit Problemfragen erörtert werde müsse und nicht mit Antworten, die man in Büchern zu verteilen habe.

Im Anschluß an die Buchpräsentation beantwortete Hans Modrow dem Schattenblick einige Fragen zu Kuba wie auch zur DDR.


Im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Hans Modrow
Foto: © 2015 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Verfolgt man die aktuellen Veränderungen in den Beziehungen zwischen Kuba und den USA, die nach jahrzehntelanger Stagnation in Bewegung gekommen sind, drängt sich nicht zuletzt die Frage auf, welche Gefahren im Zuge dieses Prozesses für die Entwicklung in Kuba zu befürchten sind. Wie schätzen Sie die damit verbundenen Anforderungen und Risiken ein?

Hans Modrow (HM): Ich denke, daß die Herausforderungen in Kuba in hohem Tempo weiter wachsen werden. Dieser Prozeß, dessen Aktualisierung und Fortsetzung ja im Vorfeld des Parteitags der Kommunistischen Partei zu prüfen und abzuwägen ist, beinhaltet meines Erachtens eine Reihe sehr wesentlicher Momente. Ich möchte heute noch nicht für mich in Anspruch nehmen, mit meiner Analyse bereits weit genug fortgeschritten zu sein, um eine eindeutige Prognose zu formulieren. Aber mir scheint, daß das erste wesentliche Problem jenes der Solidarität ist, die Kuba weiter braucht, weil der Druck, der in Lateinamerika herrscht, weiter wächst. Die linken Regierungen Lateinamerikas sehen sich in der Situation, um Stärke und Entwicklung zu kämpfen. Da sie aus Wahlen hervorgehen, müssen sie sich zugleich in Verfolgung ihrer Ziele immer wieder auch enormen Herausforderungen im Inneren stellen. Grundsätzlich ist das Wechselverhältnis Kuba-Lateinamerika von großer Bedeutung.

Und das gilt auch für Europa, das in seinen Beziehungen zu Lateinamerika Instrumente verschiedener Art wie etwa die Konferenzen der Staats- und Regierungschefs entwickelt hat. Frau Merkel ist ja, das wird mitunter vergessen, in Chile auf Raúl Castro getroffen. Bei der ersten Begegnung war es gar nicht so fein, das Händchen zu geben. Als Raúl jedoch zum Vorsitzenden der Konferenz gewählt wurde, war er auf einmal eine Persönlichkeit, an der man nicht vorbeikam. Insofern ist es immer wieder notwendig, Kuba und Lateinamerika insgesamt nicht als einen fernen Kontinent zu betrachten, sondern zu begreifen, daß in dieser globalisierten Welt alles in einer Beziehung zueinander steht, die man beachten muß.

Das zweite Problem, das ich aus eigenem Erleben in Kuba kenne und für dessen Bewältigung die Solidarität, die Cuba Sí [3] besonders entwickelt hat, sehr wichtig ist, besteht darin, daß ein Land, das sich selber versorgen könnte, Lebensmittel importiert. Die Entwicklung, die Cuba Sí unterstützt, geht dahin, beispielsweise selber Milch zu produzieren und große Farmen zu betreiben, die dazu beitragen, daß wichtige Elemente eigener Versorgung gestärkt werden. In diesem Sinne verfolgt Cuba Sí den Ansatz praktischer Solidarität, Kuba Maschinen zur Bearbeitung von Böden zur Verfügung zu stellen, die seit Jahren nicht mehr bewirtschaftet worden sind und auf diese Weise wiedergewonnen werden sollen. In diesem Zusammenhang sehe ich zahlreiche Mittel und Möglichkeiten konkreter Unterstützung, die angemessen und bedeutsam sind. Die kubanische Gesellschaft wird sich auch mit der Herausbildung einer neuen Mittelschicht und dem Umgang mit ihr auseinandersetzen müssen. Das alles sind Momente und Faktoren, die in sich Herausforderungen auch für eine neue Führung in Kuba darstellen. Denn der Parteitag ist ja auch dazu einberufen worden, um eine neue Führung zu wählen.

Insofern sind wir alle, die sich bei uns mit Kuba solidarisch verbunden fühlen, herausgefordert, diese Prozesse nicht nur solidarisch im allgemeinen, sondern auch analytisch zu begleiten. Denn am Ende steht die Frage, mit welchen neuen Qualitäten wir solidarisch sein müssen. Wir können nicht erwarten, daß die Kubaner uns mitteilen, "helft mal hier und helft mal da", vielmehr liegt das einfach auch in unserer Verantwortung. Wenn man linke Kräfte in Europa stärken will, unter denen sich bisher nur einzelne Parteien solidarisch mit Kuba erklären, muß man begreifen, daß das Jahr 2016 diese Herausforderung auch stärker an die Linke in Europa stellen wird.

SB: Die von den USA und ihren Verbündeten betriebene Einflußnahme auf andere Länder mit dem Ziel einer gesellschaftlichen Umgestaltung bedient sich auch massiver ökonomischer Mittel. Steht zu befürchten, daß die kubanische Wirtschaft im Zuge der Öffnung unter zersetzenden Druck stärkerer ausländischer Ökonomien gerät?

HM: Zunächst einmal besteht die positive Seite der jüngsten Entwicklung in der Aussicht, die Blockade zu beenden, und darauf konzentriert sich im Moment die Politik in Kuba. Kuba wird ja nicht allein von den USA blockiert, da diese eine Macht sind, die andere Staaten mittels Verboten, Belastungen oder Distanzierung in ihrer Haltung zu Kuba beeinflussen. Es geht den Kubanern darum, zunächst die Blockade der USA nicht nur in den direkten Beziehungen, sondern auch die Isolation auf wirtschaftlichem Gebiet zu überwinden. Einzelne europäische Staaten und auch Kanada, die den Tourismus pflegen, halten sich vordergründig nicht so streng an diese Blockade, wie die USA es verlangen, gehen aber dennoch mit einer bestimmten Vorsicht zu Werke. Ein Instrument, mit dem im Kalten Krieg der Osten Europas und insbesondere auch die DDR immer wieder angegriffen wurde, waren die Comecon-Bestimmungen: Ihr könnt zwar ein bißchen Handel treiben, aber auf dem Gebiet des technologischen Know-how darf kein Übertrag stattfinden. Und genau diese Frage steht heute auch für Kuba an. Wir leben in einer Welt, in der eine technologische Revolution stattfindet und die Modernisierung nicht nur enge Wirtschaftsbereiche berührt, sondern im Zuge einer rasanten Innovation von Wissenschaft und Technik unser Leben insgesamt mehr und mehr durchflutet. Kuba kämpft darum, Anschluß an diese Entwicklung zu gewinnen und nicht weiter von ihr ausgeschlossen zu werden.

Wir haben uns lange dafür eingesetzt, daß die USA die Cuban Five [4] freigeben, was inzwischen endlich geschehen ist. Damit darf aber die Solidarität nicht enden, da sich nun die Frage stellt, wem die weitere Blockade nützt und wer gewinnt, wenn sie überwunden wird. Die Ökonomien anderer Länder, die sich bislang loyal zu den USA verhalten haben, um Gewinne zu machen, sehen sich nun der Kritik im eigenen Land ausgesetzt, für bessere Bestimmungen zu sorgen, um ihre Marktchancen zu optimieren und von der Öffnung Kubas zu profitieren. Die Politik im Umgang mit Kuba kommt in Bewegung, wobei man auf Kuba eines wissen muß - und ich gehe davon aus, daß man sich dessen auch bewußt ist, wozu uns der Parteitag noch viel deutlichere Informationen bieten wird: Der Klassenkampf hat nicht aufgehört, er geht weiter und wird künftig mit anderen Methoden geführt.

Es ist notwendig, daß wir verstärkt über den Sozialismus nachdenken und diskutieren wie auch insbesondere die Idee des Sozialismus im 21. Jahrhundert nicht in der Versenkung verschwinden lassen. Ich betone das vor dem Hintergrund meines eigenen Erlebens. Als ich 1999 Chile besuchte, lebte Volodia Teitelboim noch, der viele Jahre der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chiles und in der Emigration in der Sowjetunion gewesen war. Wir diskutierten also am Ende des 20. Jahrhunderts über die künftige Entwicklung, und in diesem Gespräch sagte Teitelboim einmal zu mir: Sag mal Hans, eigentlich müßten wir anfangen, über den Sozialismus im 21. Jahrhundert nachzudenken. Damals lag diese Debatte zwar in der Luft, hatte aber, zumal in ihrer späteren Breite, noch gar nicht begonnen. Wenn wir weiterkommen wollen, müssen wir uns bewußt sein, daß der revolutionäre Prozeß nicht abreißen darf. Er wird anders sein, er wird anders verlaufen. Ich habe von den kubanischen Genossen gelernt und hoch geschätzt, daß sie nicht die Losung hatten, der Sozialismus siegt. Sie haben immer von einem revolutionären Prozeß gesprochen, den wir weiterführen und weiterentwickeln müssen. Als wir in Europa schrien, "der Sozialismus siegt!", waren sie klüger und gingen davon aus, daß es sich nicht um einen abgehackten Abschnitt handeln kann, sondern immer ein Prozeß sein wird, der weiterzuführen ist. Das ist wiederum die Seite, die wir für uns aus Kuba aufnehmen müssen: Wir können nicht von einem abgeschlossenen Abschnitt nach dem andern ausgehen, sondern haben eine Prozeßdebatte zu führen. Daß es keine isolierten Perioden gibt, ist eine der Lehren des Untergangs des Sozialismus, den wir in Europa erlebt haben.

SB: Aus westlicher Sicht wurde der voreilig prognostizierte Untergang des kubanischen Gesellschaftsentwurfs insbesondere an die Erwartung geknüpft, die alte Garde werde bald abtreten und durch ihren Rückzug den Zusammenbruch auslösen. Das ist bislang nicht eingetreten. Inwieweit wurde dafür gesorgt, daß eine jüngere Generation den eingeschlagenen Kurs halten und weiterführen kann?

HM: Auch dazu kann ich aus meinem persönlichen Erleben einige aufschlußreiche Beispiele nennen. Als der deutsche Außenminister Steinmeier im Mai diesen Jahres seine Reise nach Kuba plante, bereitete dort der Erste Stellvertretende Außenminister Marcelino Medina, der als junger Mann Botschafter in der Bundesrepublik gewesen war, diesen Besuch vor. Er kam von sich aus auf mich zu und sagte: Hans, laß uns miteinander reden. Ich gehöre einer jüngeren Generation an und muß nun überlegen, wie es weitergehen soll. Vielleicht können wir uns ja darüber austauschen. Ich glaube, daß man diese Aufgeschlossenheit gegenüber den Erfahrungen der Älteren nicht nur bei jungen Diplomaten und Funktionären auf Kuba findet. Als ich im vergangenen Jahr mein Buch "Die Perestroika. Wie ich sie sehe" in spanischer Übersetzung auf der Buchmesse in Havanna vorgestellt habe, sprachen mich viele junge Leute an. Sie waren wißbegierig, aufnahmebereit und wollten von mir wissen, welche Ursachen es für dieses und jenes Ereignis gab. Wenn die Jüngeren sagen: Wir sind klug, wird sind aktiv und wir leisten etwas, aber wir wollen nicht, daß die Entwicklung abreißt, ist das meines Erachtens das Allerwichtigste. Das sind meine Erfahrungen in den letzten Monaten und Jahren, die mir viel Hoffnung geben.

SB: Sie haben bei Ihrer heutigen Buchvorstellung hervorgehoben, daß der Kalte Krieg noch nicht aufgehört hat. Bezieht man diese Aussage auf den aktuellen Diskurs in der Bundesrepublik, fällt auf, daß alles, was mit der DDR zusammenhängt, mit unverminderter Vehemenz diffamiert wird. Sehen Sie auch in dieser Hinsicht Ihre Auffassung bestätigt?

HM: Ja, der Kalte Krieg hat nicht aufgehört. Wir haben den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland als rechtlichen Vorgang. Ich betone diese Seite in Debatten immer wieder und argumentiere dann, daß wir von Kolonialisierung oder allen möglichen Varianten sprechen können, uns aber dabei auf dem Feld der Politik bewegen. Wenn ich jedoch einen rechtlichen Anspruch vertrete, dann muß ich mich auch auf der Grundlage des Rechts bewegen. Und dort erleben wir eine Zweiheit im Recht. Ich kann die Tatsache überhaupt nicht nachvollziehen, daß in einem Land Kindergeld an die Mütter gezahlt wird, die Kinder auf die Welt gebracht haben, aber 25 Jahre nach dem Beitritt ein Ostkind noch immer weniger wert als ein Westkind ist. Was ist das für eine Unkultur, wo bleibt da das Recht, wenn die eine Seite Kinder gebärt, die mehr wert als andere sind, und das innerhalb eines Volkes, einer Nation geschieht?

Wer eine Vereinigung wollte, der muß auch dazu stehen! Ich erachte es für notwendig, sich darauf zu berufen. Auf der einen Seite glaubt man, daß die Stärke der Bundesrepublik darin gelegen habe, die DDR zu überwinden, und behauptet, man habe deren Last übernommen. Auf der anderen Seite brüstet man sich damit, bei einer Bevölkerung von 82 Millionen zur stärksten Wirtschaftsmacht Europas und einer Militärmacht aufgestiegen zu sein, wobei man die DDR mit ihrer Kraft und ihren Möglichkeiten stillschweigend als Teil dieses mächtigen Deutschlands vereinnahmt. Genau dagegen trete ich an und engagiere mich, weil ich der Überzeugung bin, daß Deutschland in einer Verantwortung steht, die heißen sollte: Wieviel Vertrauen können Völker zu uns haben, wenn wir die Verbrechen der Faschisten herunterspielen und so tun, als sei die DDR eine Bedrohung der Völker gewesen? Da halte ich es mit meinem Freund Egon Bahr, der leider vor nicht langer Zeit verstorben ist. Er hat einmal gesagt: Hans, die Faschisten haben Berge von Toten hinterlassen, und die DDR Berge von Akten. Wer will nun Akten und Leichen miteinander vergleichen? Da gibt es keinen Vergleich. Der Faschismus, das müssen die Deutschen begreifen, bleibt die Verantwortung, die wir zu tragen haben.

Das andere betrifft Fragen, die wir zu diskutieren haben, aber nicht wie Feinde, sondern wie Menschen, die zueinander finden wollen und die Zeit des Faschismus nicht nur als Vergangenheit sehen, sondern als die Herausforderung, mit der wir gegenüber den Völkern Europas immer wieder geradezustehen haben, was ja jüngst im Falle Griechenlands sehr deutlich wurde. Mit einem Mal werden Akten gefunden, die sichtbar machen, daß nicht nur die Kredite zurückzuzahlen wären und die Zinsen obendrauf, sondern die vielen Opfer, die das griechische Volk durch Mord und Totschlag der Wehrmacht und die Verfolgung jüdischer Bürger erlitten hat, als historische Schuld auf Deutschland lasten.

SB: Die Lebensverhältnisse verschlechtern sich für wachsende Teile der deutschen Bevölkerung, ohne daß ein Ende abzusehen wäre. Könnte man die soziale Frage nicht noch viel schärfer mit der hochgehaltenen Produktivität des Standorts Deutschland kontrastieren und in diesem Zusammenhang nicht zuletzt auf die soziale Lage der Menschen in der DDR verweisen?

HM: Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wird hinsichtlich der Benachteiligung von Frauen in einem Maße verletzt, wie das in der DDR mit ihrer vollen rechtlichen Gleichstellung nie der Fall war. In der DDR gab es zudem ein Recht auf Arbeit, von dem im Grundgesetz der Bundesrepublik keine Rede ist. Hier übernimmt der Staat keine Verantwortung für Arbeitslosigkeit, man kann sie nicht gegen ihn ins Spiel bringen. Diese und weitere Fragen stehen auch 25 Jahre nach dem Beitritt im Raum. Ich erwarte, daß unsere linke Fraktion im deutschen Bundestag diese Fragen im Vorfeld einer neuen Wahl des Bundestags stärker aufgreift und daß wir bei den Wahlen in den Landtagen diese Fragen von Recht und Gleichheit stärker in die Auseinandersetzung tragen. Die Menschen müssen wissen, wen sie wählen und wer für die Rechte eintritt, die sie erlangen wollen.

SB: Sie haben in Ihrer Lebensgeschichte nicht den Bruch vieler anderer vollzogen, die irgendwann abgeschworen und gesagt haben: Die DDR war ein Fehler, ich bekenne mich schuldig, an ihr beteiligt gewesen zu sein. Sie sind offensichtlich nicht nur Ihrer Überzeugung treu geblieben, sondern wirken darüber hinaus auch sehr optimistisch.

HM: Es gibt einen Abschnitt in meinem Leben, zu dem ich mich auch in der Schuld bekenne. Ich bin mit 17 Jahren noch bereit gewesen, als junger Volkssturmmann gegen die Sowjetunion in den Krieg zu ziehen. Ich kann nicht kommen und sagen: Die haben mich gezwungen! Denn ich war auch fünf Minuten vor zwölf noch dabei. In den vier Jahren sowjetischer Kriegsgefangenschaft habe ich eines verstanden. Ich habe einen Teil meiner Zeit als Kriegsgefangener in dem Gebiet vor Moskau in den Wäldern gearbeitet, wo verbrannte Erde noch erlebbar war und die deutsche Wehrmacht ganze Dörfer zerstört hat, wo kleine Städte noch immer in Ruinen dalagen. Und da habe ich eines mitgenommen: Deine Kriegsgefangenschaft ist eine Wiedergutmachung. Du hast kein Recht anzuklagen, warum du vier Jahre Kriegsgefangener geblieben bist. Begreife, es war wiedergutzumachen. Und aus dieser Haltung heraus habe ich dann nach 1949 angefangen, mein Leben auch politisch neu zu durchdenken, zu strukturieren. Und zu dem Teil stehe ich.

SB: Herr Modrow, vielen Dank für dieses Gespräch.


Am Stand des Verlags - Foto: © 2015 by Schattenblick

Fotografin Gabriele Senft, Volker Hermsdorf, Hans Modrow, Verleger Wiljo Heinen
Foto: © 2015 by Schattenblick


Anmerkungen:

[1] Volker Hermsdorf/Hans Modrow: Amboss oder Hammer. Gespräche über Kuba. Berlin und Böklund 2015, ISBN 978-3-95514-020-5.

[2] Von der kubanischen Regierung so genannte Wirtschaftskrise, die 1990 durch den Zerfall der Sowjetunion, die Auflösung des RGW und eine Verschärfung der durch die USA verhängten Wirtschaftsblockade verursacht war.

[3] Cuba Sí ist eine Arbeitsgemeinschaft der Partei Die Linke, die sich politische und materielle Solidarität mit dem sozialistischen Kuba zur Aufgabe gesetzt hat.

[4] 1998 wurden fünf Kubaner, international als "Miami Five" bekannt gewordene Aufklärer, in den USA inhaftiert. Ihr Verbrechen: Sie hatten die US-Behörden über Anschlagsvorbereitungen antikubanischer Terroristen informiert.


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4. Januar 2016


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