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INTERVIEW/056: Leipzig, das Buch und die Messe - Alter Wein ...   Wolfgang Tischer im Gespräch (SB)


Eindruck, Ausdruck, Buchdruck - Impressionen
Leipziger Buchmesse, 17. bis 20. März 2016

Wolfgang Tischer über Literatur in der Nische, Schriftsteller, die keiner mehr liest, marktbestimmende Unterhaltungsliteratur, digitale Einflüsse und Leserwünsche


Vor 20 Jahren gründete Wolfgang Tischer das literaturcafe.de, das nicht von ungefähr namentlich an die traditionelle Literatur-Kaffeehaus-Kultur erinnert. Seit 1996 hat sich parallel zu den technisch erweiterten digitalen Möglichkeiten literaturcafe.de tatsächlich von einer reinen Veröffentlichungsplattform zu einem virtuellen Kaffeehaus im besten Sinne der Tradition weiterentwickelt: In Zeiten, als sogar das Telefon noch Science Fiction war, spielte sich das kulturelle Leben im Café ab. Einfache Leute und Adlige saßen am selben Tisch zusammen, tranken Kaffee, diskutierten ohne Ende, schrieben Bücher oder notierten Ideen, spielten Karten und Schach, empfingen ihre Post und konnten diverse Zeitungen und Zeitschriften an einem Ort lesen, um aktuell und umfassend informiert zu sein.

Dieser Zeitgeist in die Gegenwart übertragen sieht inhaltlich noch um einiges vielfältiger, aber auch nüchterner und vor allem bildschirm-einsam aus: Journalist, Literaturkritiker, Sprecher, Internet-Profi und gelernter Buchhändler Wolfgang Tischer bestückt sein Medium umfangreich mit Interviews, Expertengesprächen und Vorträgen zum literarischen Leben in Deutschland, Audio und Video zum kostenfreien Herunterladen mit eingebunden, natürlich auch von der Leipziger Buchmesse 2016. Zudem wirft er einen kritischen Blick auf die Branche mit Warnungen und Hinweisen für Autoren, Leser und Verlage. Hier treffen sich Neueinsteiger und Schreibprofis, Leser von Unterhaltungsliteratur und kommerziell nicht so erfolgversprechender Titel. Sie alle werden aktuell und umfassend informiert und können sich in Debatten einmischen.

Zwischen zwei Veranstaltungen auf der Bühne des Forum autoren@leipzig von literaturcafe.de hatte der Schattenblick die Gelegenheit, mit Wolfgang Tischer über die durch digitale Medien veränderte Situation des Buchmarktes und seine Auswirkungen auf Verlage, Autoren und nicht zuletzt den Leser zu sprechen.


Foto: © 2016 by Schattenblick

"Faktisch gibt es momentan kaum Autoren, die eine Stimme haben und auch gehört werden." Wolfgang Tischer
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Schattenblick (SB): Was den literarischen Texten heute fehlt, sagen manche Kritiker, ist Spannung, die eigene Stellungnahme, Mut zu politischen und sozialen Auseinandersetzungen, die Entwicklung von Sprachkraft. Und thematisch blickt man lieber nicht über die gesicherten Räume der deutschen Mittelschicht hinaus. Was halten Sie von dieser Bilanz?

Wolfgang Tischer (WT): Es kommt immer auf die Sichtweise an. Der Kulturjournalist Florian Kessler, heute Lektor beim Hanser Verlag, hat vor zwei Jahren diese Diskussion durch seinen Artikel in der ZEIT "Bitte lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn" mit angestoßen. Er sagt darin, dass die Autorinnen und Autoren aus den Schreibstudiengängen der Universitäten Hildesheim und Leipzig vorwiegend aus einem bestimmten behüteten Milieu stammen. Interessanterweise wird in dem Beitrag behauptet, dass die Schriftsteller aus besseren Kreisen auch bessere Chancen hätten. Und in der Tat sieht man durchaus, dass gewisse Personen von den Medien gehypt werden und immer wieder auftauchen, derzeit zum Beispiel Ronja von Rönne, die plötzlich scheinbar überall zu Gast ist und besprochen wird.

Natürlich kann man die Romaninhalte bemängeln und tatsächlich trifft die Kritik Werke, die auch ich nicht sonderlich interessant finde, da sie sich oft auf eine junge Generation von Autorinnen und Autoren in Berlin konzentrieren, deren Leben und Probleme relativ belanglos sind. Auf der anderen Seite besteht bei einer Forderung nach politisch oder gesellschaftlich relevanten Texten die Gefahr, dass die Literatur zu sehr von einer Mission oder Botschaft bestimmt wird. Das kann beim Lesen nerven. Bücher sollten zunächst einmal den Leser ansprechen und packen, auch wenn es nicht ein Krimi oder Thriller ist. Das, was zu offensichtlich als Botschaft mit erhobenem Zeigefinger daherkommt, verschreckt oder langweilt den Leser. Autoren, die solche Themen angehen, sollten das schon intelligenter machen. Heute wird gelegentlich bedauert, dass es diese großen politisch engagierten Autorinnen und Autoren nicht mehr gibt wie in den 1960er und '70er Jahren, wo scheinbar alle Literaten noch mehr oder weniger politisch aktiv waren. Faktisch gibt es momentan kaum Autoren, die eine Stimme haben und auch gehört werden. Ich beobachte allerdings mit Interesse, dass sich andere Arten des Schreibens und engagiertes Handeln für Autorenrechte mittlerweile zusammenfinden. Nina George ist eine Unterhaltungsschriftstellerin im besten Sinne, die sich politisch sehr engagiert, gerade was die Rechte der Autorinnen und Autoren betrifft.

Wir dürfen bei dieser Diskussion nicht vergessen, dass wir uns als Buch- und Literaturmenschen ohnehin in einer Nische bewegen. Ich bin beispielsweise in Stuttgart im Vorstand des Schriftstellerhauses. Da entsteht schnell der Eindruck, die ganze Welt bestünde aus schreibenden Menschen, Literatur und Leuten, die Bücher mögen. Kommt man jedoch außerhalb dieser Oase mit anderen Menschen in Kontakt, stellt man fest, dass sie gewisse Namen noch nie gehört haben, von denen man selbst glaubt, dass die jeder kennen müsste. Viele kennen bestenfalls zeitgenössische Autoren wie Stephen King, denn die wenigsten Leute lesen wirklich regelmäßig Bücher.

Das muss man sich immer wieder deutlich machen, und dann ist der Spielraum, den die Literatur hat, und die Frage, ob Bücher die Welt bewegen können, auf einmal ganz klein. Thematisch wird ausgefochten, was spezielle Leute ohnehin schon bewegt. Natürlich kann man Schwerpunkte intelligent verpacken und beschreiben, aber man muss sich klar machen, dass man dabei in einem sehr eingeschränkten Bereich manövriert.


Foto: © 2016 by Schattenblick

Menschenauflauf von Tausenden von Besuchern - der Eindruck täuscht, die Literaturszene bewegt sich in einer Nische.
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SB: Können denn in einem digitalen Freiraum, den sich die Autoren zum Beispiel mit Self-Publishing schaffen, Erzählformen bekannt oder sogar erst kreiert werden, die normalerweise über den Literaturbetrieb keine Chancen hätten?

WT: In der Theorie ja, in der Praxis eher nicht. Man hat durch Self-Publishing durchaus die Möglichkeit, einen Text, der - aus welchen Gründen auch immer - von Verlagen abgelehnt worden ist, bei den großen Portalen direkt als E-Book hochzuladen oder das Buch bei einem Print-on-Demand-Dienstleiter drucken zu lassen. Aber man muss ganz klar sehen, dass es wahrscheinlich niemand wahrnehmen und lesen wird, wenn es kein Genre-Titel der Bereiche Krimi, Thriller oder Romance ist. Die Sichtbarkeit ist immer auch ein Thema bei den literarischen Verlagen, die noch stark aufs klassische Feuilleton angewiesen sind.

Self-Publishing ist erfolgreich im Genre-Bereich. 99,9% der Autoren, wie sie hier auf der Messe präsentiert werden, sind erfolgreiche Self-Publisher in diesem Bereich. Aber die erfolgreichen Titel - das ist jetzt nicht wertend zu sehen -, sind aus dem Romance- und Fantasy-Bereich oder es sind Thriller. Sowas funktioniert und damit gelingt es Autoren, bekannt zu werden. Literarische Titel, wie man sie bei Verlagen wie S. Fischer, Hanser oder Aufbau findet, haben derzeit mit Self-Publishing kaum eine Chance auf Wahrnehmung. Natürlich kann man alles selbst veröffentlichen, aber gerade die literarischen oder auch ambitioniertere Titel werden dort keine Leser finden. Zwar könnten sich Autoren inzwischen direkt über Medien wie Facebook, Twitter, Instagram und andere an ihre Leser wenden. Doch dieser Austausch greift derzeit nur bei dem Publikum, das in den genannten Unterhaltungsgenres unterwegs ist.

SB: Wirkt sich die Situation auch auf die Verlage aus?

WT: Ja. Die einschlägigen Verlage haben längst gemerkt, dass da einerseits eine Konkurrenzsituation entsteht. Früher wurden Autoren belächelt, die selbst veröffentlicht haben. Das hat sich gewandelt. Self-Publisher haben mittlerweile Selbstbewußtsein und einen Status. Teilweise ist die Aufmachung ihrer Bücher denen der Verlagsprodukte sehr ähnlich. Aber E-Books sind nicht der ganze Markt. Die Verlage haben inzwischen erkannt, Self-Publishing nicht nur als Konkurrenz zu sehen. Sie bieten den Anschluss an den Buchhandel und den entsprechenden Vertrieb. So bieten viele Verlage mittlerweile selbst Self-Publishing-Angebote in unterschiedlichsten Varianten an, um Autoren an sich zu binden. "Neobooks" beispielsweise wurde von Droemer Knaur iniziiert und wirbt mit einer Verlagsanbindung. Die Aussage ist: 'Nutzt unsere Self-Publishing-Plattform, dann seid ihr zwar noch nicht im Verlagsprogramm, aber ihr habt die Chance, dass Verlagslektoren auf euch aufmerksam werden, so dass ihr vielleicht via Verlag in den Buchhandel kommen könnt und auch diesen Vertriebskanal erschließt.'

Verlage sind Wirtschaftsunternehmen, und sie wollen mit den unterschiedlichsten Modellen auch an Self-Publishern verdienen. Somit ist die Konkurrenzsituation nicht mehr so ausgeprägt. Es gibt inzwischen Autoren, die als Self-Publisher gestartet und nun bei einem Verlag sind, oder welche, die ihre Nutzungsrechte zurückbekommen haben, da ihr Buch mittlerweile vom Verlag verramscht wird, und die es nun im Selbst-Verlag als E-Book herausgeben können. Das Spektrum hat sich enorm erweitert. Die Kluft zwischen Verlagsautoren und Self-Publishern ist mithin weniger groß als angenommen.

SB: Bedeutet das für den Leser nicht, dass er zwar immer mehr Unterhaltungsliteratur findet, aber von anderen Angeboten kaum noch weiß?

WT: Es stellt sich schon die Frage, inwieweit Titel, wie »Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand«, die also nicht Genre-Titel sind, im Self-Publishing-Bereich auffallen könnten.

SB: Spielt dabei die Internetpräsenz der Verlage inzwischen eine größere Rolle, dass der Leser sozusagen einen 'Hausverlag' hat?

WT: Man wird sicherlich solche Kanäle nutzen. Als Leser, der normalerweise das Programm der Verlage gar nicht kennt, wird man dennoch ein Gespür dafür entwickeln müssen, dass bei bestimmten Verlagen zum Beispiel bei Hanser oder S. Fischer eher anderes zu finden ist.

Es sollte klar sein, dass Verlage und Buchhandlungen Wirtschaftsunternehmen sind und sie einen Self-Publisher eher ins Programm nehmen, wenn es ein kommerziell erfolgversprechender Titel ist. Man legt lieber noch mal einen Stapel von Unterhaltungsbüchern hin, weil die einfach weggehen wie warme Semmeln, auch wenn sich ein anderes Buch vielleicht sehr vielversprechend anhört.

SB: Geht nicht das Gespür der Leser, ihr Riecher für das, was sie vielleicht auch noch gerne lesen möchten, bei einem überwiegend angepaßten Angebot, das schnell und schwerpunktmäßig ihr Unterhaltungsbedürfnis sättigt, verloren?

WT: Ja. Aber Leser sind Leser, das ist das Erfreuliche. Was sie lesen, das ist erst einmal zweitrangig. Ich bin gelernter Buchhändler und mir ist noch gut in Erinnerung, dass sich schon damals in der Berufsschule ein Lehrer sehr darüber echauffiert hat, dass wir uns mit unserer höheren Bildung über Leser von Groschenromanen lustig gemacht haben. Er sagte: 'Es sind Leser. Auch die einfacheren Geschichten müssen im Kopf zu Bildern werden.' Diese Haltung teile ich bis heute ebenfalls. Wenn Menschen an Büchern Gefallen finden, die ich als schrecklichen Kitsch empfinden würde, dann zählt für mich in erster Linie dennoch eines: Die Leute lesen, sie erschaffen sich Bilder im Kopf, sie haben das Lesen gelernt und geübt. Und wer schon mal liest, ist auch eher dazu zu zu gewinnen, zu sagen: 'Guck mal, da gibt es doch auch noch was anderes und ich probiere das mal.'

SB: Ist denn das Angebot überhaupt noch vorhanden und wie erfährt der Leser davon? Oder verändern sich die Wünsche der Leser langsam unmerklich?

WT: Das ist die Frage nach der Literaturkritik. In der letzten Zeit wurde diskutiert, warum Literaturkritiken in den Medien immer weniger werden, sie den Verlagen zuarbeiten und als Buchtipps für die Ferien fungieren. Das hängt sicherlich mit dem Umbruch bei den Zeitungen zusammen, für die es immer weniger Leser gibt. Da wird der Kulturteil als erstes weggekürzt der dann als Lifestyle-Bereich firmiert, der somit eher den Buchtipp als die literarische Kritik in den Vordergrund stellt.

SB: Könnte man die Entwicklung für den Leser nicht mit einem Beispiel aus der Ernährung vergleichen, wenn das überzüchtete Gemüse immer wässriger schmeckt und man nur noch die vage Erinnerung daran hat, dass eine Tomate auch aromatischer schmecken konnte. Noch etwas später ist einem die wässrige Tomate so vertraut, dass man selbst ganz zufrieden damit ist und nichts mehr vermisst?

WT: Etwas Ähnliches ist aus dem Musikbereich bekannt. In einer Untersuchung wurde festgestellt, dass sich derjenige, der schlecht kodierte MP3-Dateien hört, in denen gewisse Frequenzen weggefiltert sind, so an dieses Klangbild gewöhnt, dass er bei einer tatsächlich besseren Aufnahme oder einem Live-Konzert sagt: 'Ich find das klanglich gar nicht so gut.' Das könnte beim Lesen ähnlich sein, wo man Schwächen am Plot oder bei der Rechtschreibung eher in Kauf nimmt.

Man sollte nicht müde werden, deutlich zu machen: Es gibt wesentlich mehr. Ich versuche auch im literaturcafe.de immer wieder, beide Welten zusammenzubringen. Es ist wichtig, sich nicht abzugrenzen. Darüber hinaus lassen sich im Internet gute Blogs finden, die mehr besprechen als Genre. Nicht so zahlreich wie die vielen Bücher-Blogs, aber zum Beispiel gibt es in 'literaturkritik.de' gute und kompetent geschriebene Literaturkritiken.

SB: Haben die Tendenzen auf dem Buchmarkt auch Auswirkungen auf die Produkte und das Verhalten der Autorinnen und Autoren?

WT: Tatsächlich gibt es die - ich benutze das Wort jetzt mal bewusst - Content-Produzenten, die sagen: 'Jedes Jahr muss ein Buch raus.' Das ist bei den Self-Publishern noch extremer, sie sagen: 'Jede acht Wochen muss ein neuer Titel raus, damit meine Leser bei der Stange bleiben.' Bislang gibt es aber immer noch Autoren, die aus inhaltlichen Gründen darauf bestehen: 'Wenn ich schreibe, brauche ich meine Zeit. Das können drei, vier Jahre sein, dann ist das Buch fertig und erst dann geht es an den Verlag. Der vermarktet es dann. Und wenn es sein muss, geh ich mal auf 'ne Lesung oder so, aber mehr Öffentlichkeit muss nicht sein.' Allerdings wird inzwischen ein Autor, der sich extrovertierter vermarkten lässt, der auch mal allein weggeschickt werden und ein Interview machen kann, von vorne herein lieber von den Verlagen unter Vertrag genommen. Insofern gibt es da auch einen Wandel. Daran ist sicher auch Self-Publishing beteiligt. Für manche Autoren ist das tatsächlich zwiespältig.

Auf amazon.de sieht man als Self-Publisher tages- oder sogar stundenaktuell die Verkaufszahlen für das eigene Buch. Daraufhin haben die Verlagsautoren gesagt: 'Moment mal, wir kriegen einmal im Jahr eine Abrechnung, der müssen wir glauben oder nicht, dass soundso viele Exemplare verkauft worden sind? Wieso geht das bei Amazon schneller? Warum kann das mein Verlag nicht?', so dass einige Verlage mittlerweile ihren Autoren kurzfristiger die Umsatzzahlen mitteilen und welche Aktivitäten sie für das Buch machen, wieviele Rezensionsexemplare verschickt worden sind und so weiter. Der Verlagsautor ist also nicht mehr nur als Bittsteller auf die Gnade des Verlags angewiesen.

SB: Gelten die Aktionen zur Lesereinbindung eigentlich auch für Lyrik zum Beispiel und nicht nur für Unterhaltungsliteratur?

WT: Theoretisch ja. Auch Lyrik muss vermarktet werden. Aber in der Praxis dürfte das nicht so extrem sein wie bei der Unterhaltungsliteratur, bei der es vermehrt darum geht, präsent zu sein oder gar die Leser mitbestimmen zu lassen und neugierig zu machen. Man muss als Autor genau entscheiden und bestimmen, ob und wie man das möchte. Gibt es den idealen Roman, den sich der Leser selbst zusammenstellt? Ich kann mir das nicht vorstellen, weil der Text gerade dann interessant ist, wenn man als Leser überrascht wird.

Beispielsweise liest man im Web häufiger naive Kommentare wie: 'Oh, dieser Böse in der Geschichte, der war so furchtbar schlimm. Das hab ich gar nicht gemocht.' Richtig ist, dass das Buch ohne diesen Antagonisten langweilig wäre und man es wahrscheinlich nie gelesen hätte. Gerade das Kontroverse macht es interessant. Das muss ein Autor steuern und nicht der Leser. Die Verlage haben schon immer Testleser befragt. Sie versuchen herauszufinden, wieviel Seiten gelesen werden oder wo abgebrochen wurde. Natürlich will jeder Verlag einen Bestseller, ein Buch das gefällt. Häufig sind dann aber die Bücher erfolgreich, die querliegen, die ganz was anderes bieten. Der Bestseller ist zum Glück nach wie vor nicht planbar, sonst gäbe es ja nur Bestseller.

SB: Wie sehen Sie das Experiment "Morgen mehr" vom Hanser Verlag? [1]

WT: Ich bin sehr skeptisch, ob sich gerade der Hanser Verlag damit einen Gefallen tut. Verlage werben mit ihrer Sorgfalt und dass ein Buch nichts ist, das schnell zusammengeschustert auf den Markt geworfen wird, wie es bei einigen Self-Publishern der Fall ist. Im Grunde genommen zeigt jetzt aber ein Ausnahmeautor, dass das bei Hanser scheinbar doch geht. Das Projekt ist spannend inszeniert, keine Frage. Zudem finde ich es enorm, wie diszipliniert Tilman Rammstedt das durchhält. Aber für mich wird dennoch das Signal ausgesendet: Auch bei Hanser ist das so: der Autor fängt an und drei Monate später wird ein Text fertig, der dann noch ein bisschen lektoriert wird, und 'gut ists'. Man könne jetzt einen Einblick erhalten, wie so ein Hanser-Autor arbeitet. Selbst wenn betont wird, dass dieses Projekt nur mit einem Tilman Rammstedt funktioniert, dass es seine Idee ist und er immer schon auf diese Weise und unter großem Druck geschrieben hat: Es könnte ein falsches Bild der Verlagsarbeit entstehen.

Den Text, der bei diesem Projekt rauskommt, finde ich noch nicht so bewegend. Obwohl man den Eindruck hat, dass die Arbeit von anderen sehr begeistert kommentiert wird. Wenn man bei den Blog-Kommentatoren nachsieht, findet man große Zustimmung, aber wenn man Leute direkt fragt, dann sind die meisten dem Projekt gegenüber eher skeptisch eingestellt. Der Erfolg des Ganzen ist eine Frage der Inszenierung einschließlich des Autors, der sich als Festgeketteter am Schreibtisch darstellt, der schreiben muss, weil es der Verlag verlangt, der jeden Tag ein bisschen "fertiger" ausschaut. Doch gelegentlich macht es den Eindruck, als wäre es real. Sie wissen doch: Manche Leute glauben sogar das, was in Büchern steht.

SB: Vielen Dank, Herr Tischer, für dieses ausführliche Gespräch.


Anmerkung:

[1] Der Roman "Morgen mehr" von Tilman Rammstadt entstand vor den Augen des Lesers in täglichen Fortsetzungen im Internet vom 11. Januar bis zum 8. April 2016. Im Juli 2016 soll das fertige Buch dann, nachlektoriert, im Hanser Verlag erscheinen.


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BERICHT/042: Leipzig, das Buch und die Messe - es wächst zusammen, was nie verschieden war ... (SB) http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0042.html

INTERVIEW/048: Leipzig, das Buch und die Messe - der rote Faden Lesespaß ...    Kerstin Libuschewski und Julia Lücke im Gespräch (SB)
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11. April 2016


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