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INTERVIEW/067: Sprachkultur trifft Fragen - Kenntnis, Mühe, Sinnerhalt ...    Heinrich Detering im Gespräch (SB)


Sprache und Sprachen: kulturell, politisch, technisch
Akademientag der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften, 18. Mai 2016 in Hamburg

Prof. Dr. Heinrich Detering, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, über Klischeevorstellungen von angeblichem Sprachverfall und "gute" deutsche Sprache


Kein Verfall der Sitten

Wenn Heinrich Detering über die vieldiskutierten Probleme referiert, die deutsche Sprecher mit ihrer Sprache haben, dann hat er eine ausgeprägte Meinung und ist mit zahlreichen Beispielen und Bildern sofort zur Hand. Als Verfasser mehrerer Gedichtbände um sprachliche Präzision und Kürze bzw. 'Verdichtung' bemüht, als Professor für Neuere deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft und Skandinavistik in Göttingen in der Sprachgeschichte bewandert, als Übersetzer mit den Problemen von Sprachdurchdringungen und verschiedenen kulturellen Hintergründen vertraut und nicht zuletzt als Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt war er auf dem Akademientag 2016 "Sprache und Sprachen" der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften am 18. Mai in Hamburg zum Thema "Die 'gute' deutsche Sprache" sofort gesprächsbereit. Hauptsächlich ging es ihm darum, mit Klischeevorstellungen von angeblichem Sprachverfall und Sprachreinheit aufzuräumen.

Im Anschluß an seinen Vortrag und eine teils kontroverse Diskussion hatte der Schattenblick die Gelegenheit, mit Heinrich Detering über die gegenwärtige Lage der deutschen Sprachkultur zu reden.


Während des Interviews - Foto: © 2016 by Schattenblick

Heinrich Detering
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick (SB): In der Verenglischung der deutschen Sprache sehen viele eine Vereinfachung der Kommunikation, manche eine Bedrohung unserer Sprache. Wenn ich Sie in Ihrem Vortrag richtig verstanden habe, würden Sie von Sprachverfall in dem Sinne aber gar nicht reden, sondern eher von Sprachentwicklung.

Heinrich Detering (HD): Es gibt in Goethes "Faust" II eine wunderbare Wendung, die leider Mephisto in den Mund gelegt ist. Sie lautet: "Gestaltung, Umgestaltung, // Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung" und würde hier sehr gut passen, denn ich glaube, daß vieles, was immer wieder im Laufe der Jahrhunderte als Sprachverfall jeweils aktuell beschrieben worden ist, Teil eines solchen Prozesses von Gestaltung und Umgestaltung gewesen ist. Solange es Sprache gibt, gibt es die Behauptung, daß dieses oder jenes aber doch als Symptom eines Sprachverfalls zu deuten sei. Das hat man sicher nach der Zeit der ersten Lautverschiebung gesagt, genauso während der Zeit der zweiten Lautverschiebung, während aller möglichen Wandlungen des grammatischen Systems und des Wortschatzes. Und nun können wir feststellen - das war ja die Pointe des "Ersten Berichts zur Lage der deutschen Sprache", den unsere Akademie erarbeitet hat -, daß das Deutsche in seinen Ausdrucksmöglichkeiten noch niemals so reich gewesen ist, wie im Augenblick. Das hat auch sehr viel mit Anglizismen zu tun und der Entwicklung von unterschiedlichen Wissenschaftssprachen, Jugendsprachen, Migrantensprachen und so fort. Der Tisch ist so reich gedeckt wie noch nie. Das ist eine Situation, in der ich keinesfalls sagen würde, wir hätten einen Sprachverfall zu beklagen.

SB: Der Journalismus ist nicht der einzige Bereich, der Moden unterliegt, aber ich nehme daraus ein Beispiel: Zu Zeiten des Außenministers Fischer konnte man fast täglich in den verschiedensten Printmedien das Wort "Manichäismus" lesen. Inzwischen ist dieser Begriff aus den Schlagzeilen nahezu verschwunden. Jetzt wird dafür überall alles "verortet". Ist das nicht auch eine Reduktion von Sprachpräzision, die man bedauern könnte?

HD: Ja, unbedingt. Es gibt, glaube ich, zu allen Zeiten der Sprachgeschichte schlechte Sprachverwendung. Es gibt törichte Moden, alberne Sprachschablonen, ärgerliche Modewörter und Torheiten aller Art, immerzu. Ich bin nur dagegen, daß man einzelne der im Augenblick aktuellen Modetorheiten aufgreift und aus ihnen ableiten will, das Sprachsystem selber befinde sich in einer Art Verfallsprozeß. Das wäre ein Fehlschluß. Die Tatsache, daß es immer eine nicht unbeträchtliche Zahl von Menschen gibt, die die Sprache in einer schlampigen und schludrigen Weise verwenden, sagt gar nichts aus über die Beschaffenheit der Sprache, von der sie keinen Gebrauch machen, beziehungsweise über den Reichtum der Sprache, den diese Sprecher nicht nutzen.

SB: Dann gibt es Worte, die auch einmal zu unserem Sprachreichtum zählten, die aber inzwischen politisch inkorrekt sind. Dazu gehört unter anderem das Wort "Neger", man könnte aber eine ganze Reihe aufzählen. Löst man das Problem, das dahinter steckt, nämlich das der Ausgrenzung und Diffamierung von Menschen, indem man Wörter tabuisiert? Kann sich nicht hinter "Schwarzer" oder "Farbiger" oder was man sonst noch verwendet, dieselbe Diskriminierung verbergen? Dasselbe gilt für diejenigen, die keine "Flüchtlinge" mehr sind, sondern "Flüchtende" ...

HD: ... oder "Geflüchtete". Das ist ein wichtiger Punkt. Das weite Feld dessen, was wir "political correctness" nennen, ist ein ausgezeichnetes Anschauungsbeispiel für das Fehlschlagen von Sprachkontrollversuchen. Wenn Behörden versuchen, sprachliche Entwicklung zu kontrollieren, geht das meistens schief. Ein Beispiel ganz anderer Art, aber ähnlicher Anschaulichkeit ist die Rechtsschreibreform. Sie war in vielen Hinsichten, wie "political correctness" auch, sehr gut gemeint: Man wollte bestimmte Schreibweisen, die unnötig umständlich schienen, vereinfachen und Praktiken, die längst im Umlauf waren, kodifizieren. Letztlich hat sich aber gezeigt, daß es besser gewesen wäre, der Sprachgemeinschaft zu überlassen, wie sich die Dinge entwickeln.

Nehmen wir das Wort "Neger" aus dem Bereich der "political correctness" oder "incorrectness". Martin Luther King und seine Mitstreiter sprechen von "negro", ohne daß dieses Wort überhaupt irgendwie problematisch wird. Andererseits gibt es einen sehr nachvollziehbaren Grund dafür, daß es dann tabuisiert worden ist. Der liegt aber nicht in der Beschaffenheit des Wortes selbst, sondern in dem gewachsenen Problembewußtsein dafür, daß die Rubrizierung von Menschen nach einem einzelnen Merkmal, in diesem Fall der Hautfarbe, hoch problematisch ist. So wie es bedenklich wäre, durch die Bezeichnung eines Menschen mit einem Wort auszudrücken, ob er eine Brille trägt oder was immer er oder sie für Eigenschaften aufweist.

Ich bin Ihrer Ansicht, daß der bloße Austausch von Vokabeln an solchen sozialen Problemen nichts ändert. Aber vielleicht kann man, um auch hier etwas Optimistisches zu finden, doch sagen, daß die Sensibilität für bestimmte Arten des Sprachgebrauchs selbst noch durch manche Verirrungen der "political correctness" erheblich gesteigert worden ist.

SB: Gibt es aus Ihrer Sicht etwas, von dem man sprachlich gesehen sagen könnte: Das ist typisch deutsch?

HD: Ja, das würde ich sagen, und zwar die Tendenz zur syntaktischen Klammerbildung. Zum Beispiel bei gespaltenen Verben in Sätzen wie: "Die Abfallwirtschaftspläne stellen die Ziele der Abfallvermeidung und -verwertung sowie die zur Sicherung der Inlandsbeseitigung erforderlichen Abfallbeseitigungsanlagen dar." Man kann zehn Zeilen lang warten, bis der zweite Teil des finiten Verbs kommt. Das ist eine Eigenheit, die allen nichtdeutschen Sprachlernern auffällt; Mark Twain hat eine köstliche Satire darüber geschrieben. Das kann aber auch, wie jedes sprachliche Merkmal, zu sehr kunstvollen, syntaktischen Konstruktion verwendet werden, in der Hand von Sprachkünstlern wie Immanuel Kant. Ich vermute, daß sich dieser Punkt im deutschen grammatischen System in den nächsten Jahrzehnten oder jedenfalls Jahrhunderten verändern wird.


Heinrich Detering im Halbprofil - Foto: © 2016 by Schattenblick

Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Was könnte Ihrer Meinung nach eine deutsche Sprachkultur positiv befördern?

HD: Ich bin ganz generell der Ansicht, daß man sich als ein sprachlich sensibles Mitglied der deutschen Sprachgemeinschaft möglichst unterschiedlichen Verwendungskontexten aussetzen sollte. Man sollte sehr gute Literatur lesen. Das ist eine triviale, aber nicht unwichtige Forderung, weil etwa in der Poesie die Sprache sich gewissermaßen selber anschaut. Gedichte sind Formen dieser Sprachverwendung, in denen die Sprache mit Klangeigenschaften und rhythmischen Eigenschaften zu spielen beginnt. Das ist keine neue Einsicht, aber sie ist immer noch richtig. Man sollte sich aber auch ganz anderen Formen der Sprachverwendung aussetzen. Ich schaue mir zum Beispiel gelegentlich Sportreportagen von Sportarten an, die mich gar nicht interessieren - weil ich hören möchte, wie dort gesprochen wird und welche Sprachformen sich entwickeln. Das kann man entsprechend über die Sprachen des Pop oder über Jugendsprachen, Szenesprachen, alle möglichen soziologisch differenzierten Felder des Sprachgebrauchs sagen. Wir haben einen großen Reichtum. Aber wir müssen ihn auch zur Kenntnis nehmen. Das verhilft uns dann vielleicht auch zu einem bewussten und kultivierten Deutsch.

SB: Der Akademientag ist kein wissenschaftliches Expertenkolloquium, sondern frei für die Öffentlichkeit. Hat die deutsche Sprache es nötig, Werbung für sich zu machen?

HD: Nein, ich glaube nicht. Die deutsche Sprache hat es aber, nach meiner langjährigen Erfahrung als Akademiepräsident, sehr nötig, etwas selbstbewußter zu sein - nicht immer nur gegenüber dem Englischen oder anderen Fremdsprachen, sondern zuerst gegenüber ihrer eigenen Neigung zum Pessimismus. Es gibt eine Form von öffentlicher Sprachkritik, die immer gleich den Weltuntergang sieht, weil gerade ein neues Modewort in Umlauf gekommen ist. Das hat die deutsche Sprache zum Glück nicht nötig; da kann sie sehr viel selbstbewußter sein. Zu diesem Selbstbewußtsein möchten wir als Akademie mit unseren Publikationen auch etwas beitragen.

SB: Vielen Dank, Herr Detering, für dieses Gespräch.


Die Berichterstattung des Schattenblick zum Akademientag 2016, "Sprache und Sprachen, kulturell, politisch, technisch", finden Sie unter INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

BERICHT/043: Sprachkultur trifft Fragen - Eigenschaft, Errungenschaft und Grenzen ... (SB)
http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0043.html

BERICHT/046: Sprachkultur trifft Fragen - Zugewinn und Selbstbehauptung ... (SB)
http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0046.html

20. Juni 2016


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