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INTERVIEW/090: Richtige Literatur im Falschen - getrennt arbeiten, vereint schlagen ...    Hans-Jürgen Urban im Gespräch (SB)


Gespräch am 7. Juni 2018 in Dortmund


Dr. Hans-Jürgen Urban ist als Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall zuständig für Sozialpolitik, Arbeitsgestaltung und Qualifizierungspolitik wie auch Privatdozent an der Universität Jena im Fachbereich Soziologie.

Beim Symposium "Richtige Literatur im Falschen - Literatur in der neuen Klassengesellschaft" [1], das vom 7. - 9. Juni 2018 in der Dortmunder Zeche Zollern stattfand, hielt er den Abendvortrag zum Thema "Gibt es heute noch soziale Klassen?" [2], der als Keynote die Tagung thematisch eröffnete. Im Anschluß daran beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zum Kontext gewerkschaftlichen Engagements.


Beim Vortrag mit Mikrofon - Foto: © 2018 by Schattenblick

Hans-Jürgen Urban
Foto: © 2018 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Der Einführungsvortrag des Symposiums mutete insofern überraschend an, als darin ein breites Spektrum von Problematiken zur Sprache kam, wie man es zunächst nicht mit gewerkschaftlicher Arbeit assoziieren würde. Ist diese Vielfalt ein Charakteristikum von Gewerkschaft an sich oder doch eher die eines linken Gewerkschafters?

Hans-Jürgen Urban (HJU): Ich glaube, daß wir auch in den Gewerkschaften, gerade in der IG Metall, eine lange Tradition haben, uns natürlich auf der einen Seite mit Fragen der Arbeitswelt, des Lohnes, der Arbeitsbedingungen und der Beschäftigungssicherheit zu befassen, auf der anderen Seite aber auch Fragen der Literatur, der Kunst und der Art und Weise, wie wir sie in die gewerkschaftliche Bildungs- und Aufklärungsarbeit einbinden können, aufwerfen. An diese Tradition anzuknüpfen habe ich mich bemüht und deswegen auch den einen oder anderen Ausflug in die Literatur oder in die Filmkunst gemacht.

SB: Viele literarische Beispiele des Vortrags stammten, vielleicht auch generationsbedingt, aus der Zeit Günter Wallraffs, Franz Josef Degenhardts oder Max von der Grüns, die doch eine Weile zurückliegt. Wenngleich es auch nicht an zeitgenössischen Beiträgen mangelte, drängte sich doch der Eindruck auf, daß die Qualität dessen, was man gemeinhin als Arbeiterliteratur oder Arbeiterkunst auffaßt, inzwischen ausgedünnt ist.

HJU: Ich habe zu Beginn meines Vortrags gesagt - und das war keine Koketterie - daß ich kein wirklicher Fachmann, kein wirklicher Spezialist in diesen Fragen bin, so daß also alles, was ich dazu sagen kann, immer unter dem Vorbehalt steht, daß ich vielleicht auch nicht den vollen Überblick habe. Aber ich habe schon den Eindruck, daß in den letzten Jahren Fragen der Arbeitswelt, sozialer Konflikte, der sozialen Abtrennung von großen Teilen der Bevölkerung nicht mehr Gegenstand der Belletristik gewesen sind. Es gab sicher Ausnahmen, aber der Mainstream hat sich offensichtlich in eine andere Richtung entwickelt, und deswegen sind mir auch ad hoc nicht so viele Beispiele eingefallen, die man in diesem Kontext hätte zitieren können.

SB: Die IG Metall war zu Zeiten Franz Steinkühlers im Tarifbezirk Nordwürttemberg-Nordbaden so etwas wie eine Lokomotive, von der man gesagt hat, laß die mal streiken und die Front der Lohnabschlüsse nach vorne treiben, der Rest wird schon folgen. Barg diese Erfolgsgeschichte insofern ein verhängnisvolles Element, als sie eine Art von Elitenbildung, eine Arbeiteraristokratie, innerhalb der Gewerkschaft befördert hat?

HJU: Ich würde nicht von Arbeiteraristokratie sprechen. Wir haben sicherlich Beschäftigtengruppen, die von den Löhnen und anderen Bedingungen her relativ besser dastehen als viele andere Kolleginnen und Kollegen. Und das sind mitunter auch diejenigen, die bei den Arbeitskämpfen ganz vorne mit dabei sind. Natürlich ist auch Aufgabe von Gewerkschaften, dafür zu sorgen, daß die Lebenswelt und die Erfahrung dieser Kollegen und die Lebenswelt und Erfahrung der prekär Beschäftigten, derer, die nicht zu den Stammbelegschaften gehören, die nicht wissen, wie sie morgen das Geld verdienen können, von dem sie leben müssen, zusammengeführt werden. Es gilt, diese beiden unterschiedlichen Erfahrungswelten zusammenzubringen, um genau das zu verhindern, daß es so etwas wie eine abgehobene Gruppe von privilegierten Beschäftigten gibt. Ich glaube, daß wir das in unserer Politik tun, und ich denke, daß wir da auch einigermaßen erfolgreich sind.

SB: Wie geht die Gewerkschaft dabei vor? Wie kann sie Menschen erreichen, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind, die vielleicht noch nicht einmal in regulären Arbeitszusammenhängen stehen?

HJU: Wir haben zum einen erst einmal, und das war schon ein großer Schritt in Richtung der prekär Beschäftigten, unsere Interessenpolitik erweitert, indem wir für die Leiharbeitsbeschäftigten, für die Werkverträgler usw., unsere Politikkonzepte geöffnet und tarifvertragliche Formen abgeschlossen haben. Wir haben zweitens eine Tradition der gewerkschaftlichen Arbeitslosengruppen, mit denen wir versuchen, den Kolleginnen und Kollegen, die aus dem Erwerbsleben rausgedrängt worden sind, auch einen Ort in der Organisation anzubieten, wo sie ihre Interessen und ihre Lebenswelten einbringen können. Und wir haben die Gruppen der Senioren, der Frauen, die mitunter noch beschäftigt, mitunter auch nicht mehr beschäftigt sind, die zum Beispiel über ihr Engagement gegen den Rentenklau innerhalb der Gewerkschaften wichtige Impulse gegeben haben. Wir versuchen also, diesen unterschiedlichen Gruppen ein gemeinsames Dach in der IG Metall, aber auch in den anderen Gewerkschaften zu geben.

SB: Im Vortrag wurde auch die ökologische Frage angesprochen, Stichwort Postwachstumsgesellschaft. In welchem Maße ist eine Gesellschaft, die auf Produktivität, auf Wachstum, auf den klassischen ökonomischen Kriterien beruht, noch ein Zukunftsmodell?

HJU: Ich glaube, daß wir uns auf jeden Fall von diesem erzwungenen Wachstum verabschieden müssen. Wachstum, nur um Krisen zu vermeiden, kann nicht die Formel der Zukunft sein. Aber wir werden auch künftig Felder haben, auf denen wir Wachstum haben wollen. Wir wollen Wachstum haben im Bereich der sozialen Berufe, im Bereich der Technologien, mit denen wir Umweltschäden auch wieder reparieren können. Und wir wollen Wachstum haben im Bereich der Mobilität, des öffentlichen Personennahverkehrs und des Güterverkehrs. Es wird uns also nicht erspart bleiben, diese schwierige Debatte zu führen, was wachsen und was nicht wachsen soll, und wie wir das in eine Politik gießen, mit der wir auch die Widerstände überwinden können, die sicherlich dagegen vorhanden sind.

SB: Was bewegt junge Leute heutzutage, sich in der Gewerkschaft zu engagieren? Und gibt es dabei Verbindungen zu anderen Bewegungen wie jenen im Umweltbereich, die unter jüngeren Menschen sehr populär sind?

HJU: Die Themen der Jugend sind sehr unterschiedlich. Aber wir haben viele Kolleginnen und Kollegen in jüngerem Alter, die über die sozialen Bewegungen gekommen sind. Wir haben viele, die vorher bei Attac aktiv waren, wir haben viele, die bei Occupy und dann später bei Blockupy aktiv gewesen sind, wir haben viele, die aus dem Bereich kommen, den wir früher internationale Solidaritätsarbeit genannt haben. Da gibt es wichtige Impulse in die gewerkschaftliche Jugendarbeit hinein und das ist sehr wichtig, weil es Fragen der Qualität der Ausbildung, der Übernahme ergänzt, die eben genauso wichtig sind. Aus beiden Dingen wird dann ein Schuh, mit dem man gut laufen kann.

SB: Unter Linken war es früher selbstverständlich, im internationalistischen Sinne emanzipatorische Bewegungen und Kämpfe in anderen Ländern zu unterstützen. In welchem Maße ist dieser Weitblick heute noch in der Gewerkschaft ausgeprägt?

HJU: Wir sind sehr stark gefordert, und es ist auch wirklich das Bestreben und Ziel von vielen Kolleginnen und Kollegen gerade in den transnationalen Konzernen, daß wir Solidarität entlang der Wertschöpfungsketten organisieren, und das bedeutet dann eben auch, die Kolleginnen und Kollegen in den anderen Ländern zu unterstützen. Das ist allerdings wirklich eine sehr schwierige Aufgabe, weil nicht nur die politischen Kulturen in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich sind, sondern weil natürlich oft auch die Standorte gegeneinander ausgespielt werden, und es dann viel Diskussion, viele wechselseitige Informationen braucht, um gemeinsame Solidarität hervorzubringen und sich nicht gegeneinander ausspielen zu lassen. Das sind mitunter komplizierte Prozesse, bei denen man manchmal auch Rückschläge erleidet. Aber ich glaube, daß sich in der IG Metall und auch in anderen Gewerkschaften durchgesetzt hat, daß das die einzige Möglichkeit ist, solidarisch diesem globalisierten Kapitalismus begegnen zu können.

SB: Vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:


[1] www.dortmund.de/de/leben_in_dortmund/bildungwissenschaft/fritz_hueser_institut/nachrichten_46/detailseiten_75.jsp?n

[2] www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0071.html


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BERICHT/071: Richtige Literatur im Falschen - Besinnung auf den Klassenkampf ... (SB)


13. Juni 2018


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