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INTERVIEW/096: Linke Buchtage Berlin - Frankreichs Autonome erwachen ...    Sebastian Lotzer im Gespräch (SB)


Gespräch am 1. Juni 2018 in Berlin-Kreuzberg


In Frankreich waren Ende Oktober 2015 fast 3,6 Millionen Menschen arbeitslos, die Arbeitslosenquote betrug über 10 Prozent, unter Jugendlichen war die Erwerbslosigkeit um ein Vielfaches höher. Wirtschaftsverbände beklagten sinkende Profitraten und erodierende Investitionsbedingungen. Nach dem Muster der verheerenden Sozialstaatsreformen der rot-grünen Bundesregierung unter Schröder und Fischer setzte die Regierung von Staatspräsident Hollande und Ministerpräsident Valls zum brachialen Kahlschlag an. Anfang 2016 planten sie eine Arbeitsrechtsreform mit dem Ziel, die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu erleichtern und die Wirtschaft anzukurbeln. Dazu sollten unter anderem die Flächentarife von 750 auf 100 verringert, die Arbeitszeiten verlängert und der Kündigungsschutz bei Arbeitsverhältnissen verschlechtert werden.

Dagegen regte sich Widerstand. Frankreich erlebte im Frühjahr 2016 eine große Welle von Protesten und Streiks, die unter dem Namen "Nuit debout" (durchwachte Nächte) bekannt wurde. Nachdem sich in Paris und bald darauf auch in anderen Städten vor allem junge Menschen in rasch wachsender Zahl allnächtlich versammelten, um ihre Probleme, Anliegen und Ziele in freier Rede zum Ausdruck zu bringen, schlossen sich auch die Gewerkschaften dem Protest gegen die Pläne der Regierung an.

Zugleich brach wie aus dem Nichts vor allem aus den Vorstädten eine andere Protestbewegung hervor. Schüler, Studierende und prekär Beschäftigte, in der wirtschaftsliberalen Gesellschaft und unter den kapitalistischen Dogmen aufgewachsen, waren neben dem Arbeitsgesetz auch besonders häufig von rassistischer Polizeigewalt betroffen. Der Tod von Adama Traoré und die Mißhandlung von Théo Luhaka, die in die Fänge brutaler Polizisten geraten waren, wurden zum Fanal eines antagonistischen Blocks, der sich militant organisierte und zwischen März und Juli 2016 erstmals politischen Widerstand leistete.

Diese Kämpfe waren Thema eines Workshops im Rahmen der Linken Buchtage Berlin, die vom 1. bis 3. Juni im Mehringhof stattfanden. Ausgewählte Passagen aus einer umfangreichen Sammlung von Videomaterial über diese Aktionen und Auseinandersetzungen vermittelten auf anschauliche Weise, was sich damals im Zuge autonomen Protests in französischen Städten abgespielt hat. Sebastian Lotzer, der unter diversen Pseudonymen im Netz schreibt, stellte dabei sein neues Buch "Winter is coming. Soziale Kämpfe in Frankreich" [1] vor, das im Wiener Verlag Bahoe Books erschienen ist. Im Anschluß daran beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.


Buchcover 'Winter is coming. Soziale Kämpfe in Frankreich' - Foto: 2018 by Schattenblick

Foto: 2018 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Was hat dein Interesse geweckt, dich mit dem Thema der aktuellen autonomen Kämpfe in Frankreich zu beschäftigen und ein Buch darüber zu schreiben?

Sebastian Lotzer (SL): Ich komme aus der autonomen Hausbesetzerbewegung und habe das Buch "Begrabt mein Herz am Heinrichplatz" [2] geschrieben, das im vergangenen Jahr ebenfalls bei Bahoe Books erschienen ist. Darin geht es in Romanform um die Hausbesetzerbewegung Anfang der 80er und dann den ganzen Kampfabschnitt bis Mitte der 90er Jahre. Im Frühjahr 2016 tauchte dann die Geschichte mit Frankreich auf, zu der ich viel online recherchiert und veröffentlicht habe. Dabei entstand die Idee, mit meinen Verlegern darüber zu sprechen, auf dieser Grundlage einen Sammelband über diese Thematik herauszugeben. Mir war bekannt, daß verschiedene Leute Interviews mit Akteuren, die an den dortigen Kämpfen teilgenommen haben, übersetzt hatten, und so wurde das Konzept entwickelt und dieser Sammelband veröffentlicht. Ich sehe mich eher als Kommentator und Herausgeber, 60 Prozent der Texte sind Übersetzungen aus Frankreich, die das Herzstück des Buches darstellen. Ich versehe das mit einer Chronologie, damit es für Leute hier, die das nicht so mitbekommen haben, nachvollziehbar ist, und versuche zudem, den Bogen zur Situation in Deutschland zu schlagen.

SB: Wie seid ihr dabei vorgegangen? Hattet ihr zunächst Kontakt mit den entsprechenden Leuten oder lagen die Texte bereits vor?

SL: Die Texte gab es schon. Es hatten andere Leute bereits dazu gearbeitet. Ich habe recherchiert, was es an Interviews gab, die aus dem französischen Original übertragen worden sind, und versucht, daraus eine heterogene Mischung hinzubekommen, die die radikalen Positionen dort angemessen abbildet.

SB: In der Diskussion nach der Buchvorstellung hieß es, daß man Vergleiche der heutigen Kämpfe mit den Verhältnissen des Mai 1968 in Frankreich besser nicht ziehen sollte. Wäre es auch aus deiner Sicht unangemessen, die damaligen Ereignisse mit den aktuellen Auseinandersetzungen zu vergleichen?

SL: Im Kontext der aktuellen Kämpfe in Frankreich war immer wieder von einem "neuen Mai 68" die Rede. Ich denke jedoch, daß der Mai 1968 ein ausgesprochen singuläres Ereignis war. Ein De Gaulle, der zur Rheinarmee flüchtet, und die Beteiligung von mehreren Millionen Proleten samt der Erwartung, daß dieses ganze Gesellschaftssystem in Frage gestellt werden und kippen könnte. Angesichts dessen, was wir heute gesellschaftspolitisch in Europa vorfinden, ist die Idee, daß das auch nur in die Nähe eines generellen Umsturzes oder einer grundlegenden Veränderung kommen könnte, absolut utopisch. Wenn wir die Entwicklung in Frankreich, wie sie sich heute darstellt, mit solchen Erwartung überfrachten, werden wir ihr in keiner Weise gerecht. Ich habe im Vorwort zu "Winter is coming" geschrieben, daß in Frankreich noch vor drei Jahren eine Situation geherrscht hat, in der die radikale Linke völlig am Boden lag. Nach den diversen islamistischen Anschlägen war der gesellschaftliche Diskurs durch den Ausnahmezustand bestimmt, durch die Hetze des Front National, durch diese damalige Bewegung gegen die Gleichstellung der Homosexuellen. Die Rechte hat es damals geschafft, in Paris eine halbe Million Menschen auf die Straße zu bringen. Es gab also eine reaktionäre Mobilisierung nach der anderen, und daß diese Entwicklung tendenziell gebrochen worden ist, halte ich für eine wesentliche Errungenschaft der radikalen Linken, die es zu würdigen gilt.

SB: Präsident Macron hat die Deutungsmacht in Frankreich weitgehend okkupiert. Dabei zeigt er zwei Gesichter: Zum einen der strahlende Staatschef, der zum Aufbruch ruft, zum anderen die reaktionären Arbeitsgesetze und andere repressive Maßnahmen unter dem Ausnahmezustand. Wie schätzt du diesen Widerspruch ein?

SL: Das ist Macrons großes Kunststück, das zwar auf die Dauer nicht funktionieren wird, aber dennoch vorerst eines ist. Auf der einen Seite hat er auch schon in der Sozialistischen Partei einem neoliberal orientierten Flügel angehört, der bei den sogenannten Linken in der Partei Widerstand auf den Plan rief. Das ist die eine Seite, und die zieht er mit seiner sogenannten Modernisierungspolitik gnadenlos durch. Auf der anderen Seite gelingt es ihm aber mit bestimmten Positionen wie zum Beispiel der Anerkennung der französischen Schuld in den Kolonialkriegen wie etwa dem in Algerien oder mit anderen Projekten, ein liberales, aufgeklärtes Bürgertum ideologisch an sich zu binden.

SB: Du hast berichtet, daß Aktivistinnen und Aktivisten aus Deutschland nach Frankreich reisen und umgekehrt, um Aktionen zu unterstützen. Wie erlebst du die Solidarität zwischen deutschen und französischen autonomen Linken? Ist das eine dauerhafte Verbindung oder kommt es eher sporadisch dazu?

SL: Ich glaube, daß diese Begegnung leider auf sehr niedrigem Niveau stattfindet. Es gibt vor allem keine gemeinsam geführten Debatten. Zu bestimmten Ereignissen fahren Leute irgendwo hin, so sind AktivistInnen aus Frankreich zu der G20-Mobilisierung nach Hamburg gekommen. Mein Buch enthält auch den Text einer Gruppierung, die offenbar dem Unsichtbaren Komitee politisch nahesteht. Es gab auch umgekehrt Leute, die zu den großen Demonstrationen nach Paris gefahren sind oder sich jetzt in den Kämpfen um die besetzte Zone bei dem umstrittenen Flughafenprojekt nahe Nantes an der praktischen Unterstützung beteiligt haben. Aber eine gemeinsame Debatte, einen Austausch darüber, was antagonistische Politik sein könnte, gibt es leider gar nicht.

SB: Würdest du es auch so einschätzen, daß die Gegenseite einen konsistenteren Diskurs über ihre Interessen, Absichten und Strategien führt?

SL: Auf jeden Fall. Die sind uns absolut voraus. Ich glaube aber auch, daß die mangelnde Zusammenarbeit etwas damit zu tun hat, daß es in Deutschland keine Gruppen oder Zusammenhänge gibt, die überhaupt versuchen oder in der Lage sind, Vorstellungen dazu zu entwickeln, wie man antagonistische Politik heute gestalten könnte. G20 hat das für mich sehr deutlich gezeigt. Es ist auf einer praktischen Ebene sehr viel gelaufen, aber wenn man sich anschaut, was dazu Lesbares veröffentlicht worden ist, kommt es von Leuten, die gar nicht direkt auf der Straße aktiv waren. Karl-Heinz Dellwo hat zwei wichtige Texte dazu geschrieben oder die Interventionistische Linke hat auch zwei, drei halbwegs akzeptable Texte dazu beigesteuert. Sie war nicht Teil dieser militanten Mobilisierung, hat sich aber auch nicht distanziert und das ganze gesellschaftlich eingeordnet. Die Wurmfortsätze der Autonomen - nennen wir es einmal so - haben zwar die ganzen Aktionen durchgeführt, aber das, was an politischen Stellungnahmen hinterher kam, war doch in der Tiefe sehr armselig.

SB: Wie hast du deine Buchvorstellung erlebt? Hat die jüngere Generation eher andere Fragen und Probleme im Fokus oder war sie an diesem Thema interessiert?

SL: Es waren heute vorwiegend junge Leute da. Das finde ich gut, weil das Buch genau auf diese Generation abzielt. Ich selbst bin ja ein Dinosaurier, der überlebt hat. Es gibt hier in Deutschland beispielsweise im Gegensatz zu Frankreich oder Italien sehr wenige, die aus dieser Bewegungsgeschichte kommen und heutzutage noch aktiv sind. Das Buch ist genau für die jüngeren Leute gemacht - das ist jedenfalls der Anspruch des Verlages -, die heute versuchen, hier Widerstand zu organisieren und die vielleicht, wenn sie sich die Kämpfe in Frankreich zu Gemüte führen, bestimmte Dinge mitnehmen und Ideen entwickeln können, wie man auch hier anders vorgehen könnte. Insofern finde ich es gut, daß so viele Jüngere da waren.

SB: Sebastian, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] Sebastian Lotzer: Winter is coming. Soziale Kämpfe in Frankreich, Bahoe Books, Wien 2018, 144 Seiten, 14,00 Euro, ISBN 978-3-903022-79-9

[2] Sebastian Lotzer: Begrabt mein Herz am Heinrichplatz, Bahoe Books, Wien 2017, 176 Seiten, 14,00 Euro, ISBN 978-3-903022-62-1


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20. Juli 2018


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