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INTERVIEW/109: Messe links - Gleichberechtigung noch auf dem Weg ...    Ingrid Artus im Gespräch (SB)


Interview am 3. November 2018 in Nürnberg

Prof. Dr. Ingrid Artus forscht und lehrt am Institut für Soziologie der FAU Erlangen-Nürnberg unter anderem zu Fragen der sozialen Ungleichheit und zu Geschlechterfragen im Kontext industrieller Arbeit. Auf der 23. Linken Literaturmesse in Nürnberg stellte sie das Buch Sisters in Arms - Militanter Feminismus in Westdeutschland seit 1968 der Autorin Katharina Karcher vor, über das der Schattenblick an anderer Stelle [1] berichtet hat. Im Anschluß beantwortete Ingrid Artus einige Fragen zum Stand der feministischen Bewegung.



Im Gespräch - Foto: © 2018 by Schattenblick

Ingrid Artus
Foto: © 2018 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Die Aussteigerin Franziska Schreiber hat in ihrem Buch "Inside AfD" [2] erklärt, daß es weniger der Islam als Geschlechterthemen wie die Forderung nach LGBTI-Rechten oder Feminismus sind, die die Parteimitglieder in Harnisch bringen. Was sind deiner Ansicht nach die Gründe für die Bedeutung, die der rechte Antifeminismus hat?

Ingrid Artus (IA): Der rechte Antifeminismus ist wirklich uralt, und manchmal denke ich, daß man ihn noch einmal mit sozialpsychologischen und psychoanalytischen Mitteln untersuchen müßte, aber dafür ist hier nicht der Raum. Da die Genderfrage jeden Menschen ganz unmittelbar in seinem Alltag betrifft, gilt das auch für Rechte. So bietet das Patriarchat jedem Mann, auch wenn er in noch so unterdrückten Verhältnissen lebt, die Möglichkeit, sich zumindest über Frauen zu erheben. Das ist ein ähnlicher Mechanismus wie der Rassismus. Egal, ob ich getreten werde oder nicht, er ermöglicht jedem weißen Mann, noch einmal ein Stück weit auf andere herabzuschauen und ein Herrschaftsverhältnis zu leben. In der persönlichen Beziehung, zu Hause in der Familie, kann der Mann noch den Anspruch haben, derjenige zu sein, der sagt, wo es langgeht. Insofern betrifft der Feminismus natürlich auch Linke in ihrem persönlichen Herrschaftsraum zu Hause, es ist quasi ein persönliches Thema. Seine Sprengkraft liegt, glaube ich, auch darin, daß der Feminismus nicht nur für die Rechten ein Reizthema ist, sondern auch in der Linken immer wieder für Spaltungen gesorgt hat.

Da die Neue Rechte zur Zeit mit dem Genderthema befaßt ist, muß man sich überlegen, woher dieser Rechtspopulismus oder der Auftrieb rassistischer Ideologien stammt. Ich würde im wesentlichen materialistisch argumentieren, denn das hat viel mit der Prekarisierung von Arbeitsbedingungen zu tun als auch generell mit dem, was Oliver Nachtwey die Abstiegsgesellschaft genannt hat. Das halte ich für eine richtige Beschreibung, da zumindest die untere Hälfte der Gesellschaft seit mindestens 20 Jahren Einbußen im Niveau der Lebensqualität erleidet, wie bei der Entwicklung der Löhne, der Arbeitsbedingungen, von Befristungen und Leiharbeit zu sehen ist. Weite Teile der Bevölkerung erleben sich in ihrer sozialen Position bedroht, und zwar materiell wie symbolisch, also auch was die Anerkennung von normalen Lohnarbeitenden oder atypisch Arbeitenden angeht. Sehr viele Menschen erleben Prozesse der Entwertung ihrer Person, und dann ist es natürlich nötiger denn je, nach unten zu treten oder irgendwo noch einen Bereich zu haben, wo man dann doch etwas zu sagen hat. Die Frauenfrage scheint mir für die Neue Rechte, die ohnehin eine Reaktion darstellt, insofern bedeutsam zu sein, weil sich auf diesem Feld Statusängste wie auch ganz materielle Verluste von Lebensqualität kompensieren lassen.

SB: Hältst du die historisch relativ jungen Fortschritte, die in der Bundesrepublik im Bereich der Emanzipation und rechtlichen Gleichstellung erzielt wurden, zumal vor dem Hintergrund eines gewissen Rollbacks im Abtreibungsrecht, wo Klage gegen eine Frauenärztin erhoben wurde, für unangreifbar?

IA: Unangreifbar ist da gar nichts, das gilt für alle fortschrittlichen Errungenschaften. Aber ich bin nicht pessimistisch und ängstlich, und das nicht nur, weil ich an der Uni lehre und es bei den Studierenden nicht mit einem Querschnitt der Bevölkerung zu tun habe. Ich habe schon das Gefühl, daß die Frauen in Deutschland und auch in Europa sich bewußt sind, was für Fortschritte gemacht wurden. Natürlich betrachten sie diese Fortschritte auch als selbstverständlich, was ein Problem sein könnte, weil vielen nicht bewußt ist, wie jung diese Situation ist und daß es eigentlich eines permanenten Engagements bedarf, um einen Rollback zu verhindern.

Dieses Bewußtsein ist vielleicht unterausgeprägt, aber ich habe schon das Gefühl, daß das Selbstbewußtsein der Frauen ungebrochen ist. Für sie ist die Forderung nach Gleichberechtigung eigentlich selbstverständlich, auch wenn es ein Bewußtsein dafür gibt, für den Erhalt dieses Status etwas tun zu müssen, daß er also noch viel selbstverständlicher sein könnte. Es mag auch ein paar Frauen geben, die wieder an Heim und Herd zurückwollen, aber das ist minoritär. Ich sehe jedenfalls im Moment keinen Rollback auf breiter Front, auch wenn es solche Versuche der Neuen Rechten gibt, der auch Widerhall etwa bei Männern auf dem Land findet und einen Resonanzboden in unserer Gesellschaft hat. Generell jedenfalls wäre ich optimistisch. Sobald die Frauen begreifen, daß eine echte Gefahr besteht, kommt es zu gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, wie man auch in Polen sieht. Das geht nicht so leicht, uns diese Errungenschaften wieder wegzunehmen.

SB: Die zweite, in den 60er Jahren entstandene Frauenbewegung war explizit antikapitalistisch. Ist es bei der Weiterentwicklung der Frauenbewegung in die queerfeministische Richtung, bei der identitätspolitische Themen in den Vordergrund traten, möglicherweise auch zu Verlusten inhaltlicher Art etwa im Rahmen grundlegender materialistischer Kritikfähigkeit gekommen?

IA: Wenn man es so zuspitzt, würde ich sogar vorsichtig ja sagen wollen. Ich glaube, daß die feministische Theorielandschaft unübersichtlicher geworden ist als früher, was ein Nachteil und ein Vorteil sein kann. In den 70er und 80er Jahren gab es für mich schon eine Dominanz von materialistischen Positionen im linken Feminismus, während heute der Konstruktivismus stärker vertreten ist. Damit sind idealistische Vorstellungen der Art verknüpft, daß die Welt nur über Bewußtseins- und Identitätspolitik zu verändern wäre. Das würde ich vielleicht schon als Verlust bezeichnen, aber ich bin mir auch nicht so sicher, weil es sich auch um eine Bereicherung handelt, während der Materialismus natürlich auch seine blinden Flecken hat. Und der Konstruktivismus oder die Queer Theory machen schon wichtige Dinge klar, nur wenn sie auf Identitätspolitik beschränkt bleiben, dann wird es steril und bringt nicht mehr viel. Gerade die Aufweichung des dichotomen Geschlechterbegriffs halte ich für ganz wichtig, das ist etwas Progessives, das ich jederzeit verteidigen würde. Was in den 80er Jahren so noch nicht gesehen wurde, die unterschiedlichen weiblichen Identitäten und der intersektionale Ansatz, sind sehr wichtig und stellen auch eine Bereicherung dar.

SB: "Es gibt so viele Geschlechter, wie es Menschen gibt", sagt zum Beispiel der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch [3]. Könnte es deiner Ansicht nach in einer möglichen Zukunft zu so etwas wie der Aufhebung jeglicher geschlechtlichen Zuschreibung kommen?

IA: Das wäre das Ziel, würde ich ganz klar sagen. Über die Irrelevanz der Kategorie Geschlecht bin ich, so glaube ich, mit sehr vielen modernen Feministinnen einer Meinung. Ich sage immer, wenn diese Kategorie irgendwann so etwas wie die Bedeutung meiner Haarfarbe oder Schuhgröße haben wird, wenn aus meiner geschlechtlichen Zuschreibung, wenn es sie überhaupt noch gibt, nichts mehr folgt, wenn der Begriff Geschlecht als antiquiert und aus grauer Vorzeit stammend gelten würde, das wäre toll und das Ziel.


Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0072.html

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar697.html

[3] https://www.zeit.de/campus/2018/01/sexualitaet-sexualmedizin-volkmar-sigusch-interview/komplettansicht

26. November 2018


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