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GRENZEN/161: Das Erfolgsbarometer der EU (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 23. Januar 2019
german-foreign-policy.com

Das Erfolgsbarometer der EU


BERLIN/BRÜSSEL/TRIPOLIS - In einem flammenden Appell fordert die UN-Flüchtlingsagentur eine Wende in der EU-Flüchtlingsabwehr auf dem Mittelmeer. Es könne nicht angehen, dass es für Politiker "das einzige Erfolgsbarometer" sei, die Anzahl der in die EU gelangenden Flüchtlinge zu reduzieren, "wenn Menschen an Europas Türschwelle ertrinken", heißt es in einer Stellungnahme des UNHCR. Man müsse die desolate Situation auf dem Mittelmeer "als humanitäre Angelegenheit" behandeln und nicht als Anlass, "um politische Punktgewinne zu erzielen". Der UNHCR protestiert insbesondere dagegen, dass Zehntausende Flüchtlinge zurück nach Libyen gebracht werden, wo sie in Lagern dahinvegetieren müssen, in denen misshandelt und gefoltert wird. Die Situation in den Folterlagern hat im Dezember ein Bericht der UNO umfassend dokumentiert. Vertreter der Bundesregierung und der EU haben eingeräumt, über die Situation in den Lagern vollauf im Bilde zu sein. Dennoch setzt die Union ihre Unterstützung für die libysche Küstenwache fort, die Flüchtlinge in die Lager verschleppt.

"Mit wachsender Sorge"

In einem flammenden Appell fordert die UN-Flüchtlingsagentur UNHCR eine Wende in der EU-Flüchtlingsabwehr auf dem Mittelmeer. Man beobachte die Lage vor den nordafrikanischen Küsten "mit wachsender Sorge", heißt es in einer gestern verbreiteten Stellungnahme der Organisation. In den vergangenen Tagen seien fast 170 Menschen zu Tode gekommen, als ihre Schiffe gesunken seien; allein 117 hätten vor Libyen ihr Leben verloren. Schwere Bedenken rufe auch das Schicksal der 144 Flüchtlinge hervor, die von einem Frachtschiff gerettet, dann jedoch in der libyschen Küstenstadt Misrata an Land abgesetzt worden seien. Angesichts der "Ausbrüche von Gewalt" in Libyen und der "weitverbreiteten Menschenrechtsverletzungen" dürfe niemand dorthin zurückgebracht werden, verlangt der UNHCR. Mit Blick auf die in der EU verbreitete Weigerung, Flüchtlinge aufzunehmen, fordert ein Sprecher der Flüchtlingsagentur, Politiker dürften nicht weiterhin "Menschen nutzen, um politische Punktgewinne zu erzielen". Man müsse die Lage im Mittelmeer stattdessen endlich "als humanitäre Angelegenheit" behandeln und "der Rettung von Menschenleben Vorrang geben": Es könne nicht "das einzige Erfolgsbarometer sein", die Anzahl der ankommenden Flüchtlinge zu reduzieren, "wenn Menschen an Europas Türschwelle ertrinken".[1]

Europäische Werte

Ohne den UNHCR-Appell zu beachten, arbeiten die EU und ihre Mitgliedstaaten weiter an einer kontinuierlichen Reduzierung der Flüchtlingszahl. Italien hält seine Häfen für private Rettungsschiffe gesperrt. Der EU-Militärmission Sophia, die trotz aller Unzulänglichkeiten und trotz ihrer Fokussierung auf den Kampf gegen Schleuser seit 2015 immerhin fast 50.000 Menschen gerettet hatte, droht wegen der italienischen Hafenblockade und der mangelnden Aufnahmebereitschaft der 27 anderen EU-Mitglieder das Aus; Deutschland stellt, wie gestern bekannt wurde, die Beteiligung an ihr zumindest vorläufig ein. Die nach harten Auseinandersetzungen versprochene Umverteilung von Flüchtlingen aus Italien in andere Mitgliedstaaten stockt. Beispiele wurden vergangene Woche bekannt. So sollen etwa von den 447 Flüchtlingen, die am 16. Juli 2018 im sizilianischen Pozzallo angekommen sind, 270 von anderen EU-Staaten aufgenommen werden. Nach mehr als einem halben Jahr hat sich für nur 129 von ihnen ein Aufnahmeland gefunden; die Bundesrepublik hat nicht - wie versprochen - 50, sondern nur 23 Flüchtlinge einreisen lassen. Von den 177 Flüchtlingen, die am 26. August 2018 in Catania angekommen seien, hat lediglich Irland 16 zu sich geholt; sämtliche 161 anderen sind weiterhin in Italien.[2] Lediglich die Zahl der Flüchtlinge, die die Bundesrepublik laut Dublin-Verordnung in andere EU-Staaten abschieben darf, nimmt zu: Sie erreichte mit 9.209 vergangenes Jahr einen neuen Rekord.[3]

Zurück nach Libyen

Gleichzeitig arbeitet die EU weiterhin systematisch daran, möglichst viele Flüchtlinge in Libyen festzusetzen bzw. sie von der libyschen Küstenwache dorthin zurückbringen zu lassen. Dies lässt sie sich hohe Summen kosten. So hatte sie bereits im vergangenen Januar mehr als eine Viertelmilliarde Euro - exakt 266 Millionen - für migrationsbezogene Programme verschiedenster Art in Libyen veranschlagt. Zudem hat sie im Oktober 2016 begonnen, Angehörige der libyschen Küstenwache auszubilden. Bis Juni 2018 hatten laut einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch von den insgesamt 3.385 Angehörigen der Küstenwache 213 Trainingsmaßnahmen der EU durchlaufen. Laut einem geheimen Bericht der EU Border Assistance Mission in Libya (EUBAM) entstammte eine nicht genau bekannte Zahl der libyschen Küstenwächter den Milizen, die im Jahr 2011 die Regierung unter Muammar al Gaddafi stürzten. Sie verfügten über keinerlei Ausbildung, hieß es in dem Bericht.[4] Damit konnten sie bei ihren Versuchen, Flüchtlinge am Ablegen mit Kurs auf Europa zu hindern oder sie von Schiffen auf dem Meer zurück an Land zu bringen, lediglich auf ihre Kampferfahrung aus den Schlachten des Bürgerkriegs zurückgreifen. Dieser Umstand wirft ein bezeichnendes Licht auf Vorfälle wie den Angriff libyscher Kräfte mit Tränengas und Gummigeschossen auf rund 80 Flüchtlinge, die auf einem Frachtschiff vom Meer zurück nach Misrata gebracht worden waren und sich weigerten, wieder an Land zu gehen. Bei dem Angriff wurden im November mindestens elf von ihnen verletzt, drei erlitten Schussverletzungen; 29 wurden wegen angeblicher Piraterie inhaftiert, 50 wurden in Internierungslager verschleppt.

Folterlager

Die Situation in den Internierungslagern ist im Dezember in einem Bericht der Vereinten Nationen umfassend und detailliert beschrieben worden. Demnach wird die Mehrzahl der Flüchtlinge willkürlich und ohne jede Rechtsgrundlage festgehalten. Die Lebensbedingungen sind katastrophal: Die Lager sind dramatisch überbelegt, haben keine ausreichende Lüftung und Beleuchtung; der Zugang zu sanitären Einrichtungen ist ebenso mangelhaft wie die Versorgung mit Nahrungsmitteln. Dies führt dazu, dass Krankheiten - insbesondere Hautinfektionen, Durchfall und Atemwegserkrankungen - grassieren, ohne dass die notwendige medizinische Hilfe verfügbar wäre. Kinder - auch solche, die ohne Begleitung auf dem Weg nach Europa waren - werden gemeinsam mit Erwachsenen unter denselben furchtbaren Bedingungen eingesperrt; sexualisierte Gewalt gegen Frauen bleibt ebenso folgenlos für die Täter wie Misshandlungen und Folter oder auch die Verpflichtung inhaftierter Flüchtlinge zu Zwangsarbeit. Eine 22-Jährige wurde, nachdem sie einem Besucher von den Verhältnissen in den Lagern berichtet hatte, von einem Lagerwächter gezwungen, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen; dann wurde sie an den Fußgelenken gefesselt, an einer Metallstange aufgehängt und mit Wasserschläuchen am ganzen Körper geschlagen. UN-Stellen haben zahlreiche derartige Fälle dokumentiert.[5]

Mitwisser und Schreibtischtäter

Über die Situation in den Folterlagern, in denen laut UN-Angaben zu jedem Zeitpunkt zwischen 4.000 und 7.000, zeitweise bis zu 20.000 Flüchtlinge interniert sind, liegen seit geraumer Zeit eine ganze Reihe ausführlicher Berichte von Menschenrechtsorganisationen vor (german-foreign-policy.com berichtete [6]). Human Rights Watch hat sich kürzlich unter anderem im Bundeskanzleramt und im Auswärtigen Amt bestätigen lassen, dass auch die Bundesregierung über die Situation in den Lagern vollauf im Bilde ist.[7] Wie die Organisation festhält, hat ein Sprecher des Europäischen Auswärtigen Diensts bereits im September 2017 bestätigt: "Wir sind uns der inakzeptablen, häufig skandalösen, sogar unmenschlichen Bedingungen in vollem Umfang bewusst, denen Migranten in Aufnahmelagern in Libyen ausgesetzt sind." Brüssel hat dennoch schwerpunktmäßig den Aufbau der libyschen Küstenwache unterstützt, die allein im vergangenen Jahr laut Angaben des UNHCR 15.235 Flüchtlinge auf dem Meer aufgegriffen und nach Libyen zurückgebracht hat; in aller Regel wurden sie anschließend in den Lagern interniert. Bereits im Vorjahr hatte die Küstenwache 15.358 Flüchtlinge aufgegriffen und in die Lager verschleppt. Die italienische Regierung, die in der EU die Führung beim Aufbau der Küstenwache übernommen hat, hat gestern angekündigt, sie werde schon in wenigen Wochen zwölf weitere Schiffe nach Libyen liefern, um die Zahl der Flüchtlinge, die nach Europa gelangen, weiter zu senken.[8] Damit werden allerdings auch noch mehr Flüchtlinge als bisher in den libyschen Folterlagern verschwinden.


Mehr zum Thema:

Libysche Lager
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7649/
und Europas Hilfspolizisten (II).
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7678/


Anmerkungen:

[1] UNHCR appeals for urgent action as new Mediterranean mid-winter deaths reported. unhcr.org 22.01.2019.

[2] Rom fordert mehr Unterstützung. Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.01.2019.

[3] Gregor Mayntz, Eva Quadbeck: Neuer Rekord: Deutschland schickt 9209 Flüchtlinge zurück. rp-online.de 21.01.2019.

[4] No Escape from Hell. EU Policies Contribute to Abuse of Migrants in Libya. hrw.org 21.01.2019.

[5] United Missions Support Mission in Libya, Office of the High Commissioner for Human Rights: Desperate and Dangerous: Report on the human rights situation of migrants and refugees in Libya. 18 December 2018.

[6] S. dazu Öl, Lager und Sklaven.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7453/

[7] No Escape from Hell. EU Policies Contribute to Abuse of Migrants in Libya. hrw.org 21.01.2019.

[8] Rom verspricht Libyen Unterstützung für Küstenwache. orf.at 22.01.2019.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Januar 2019

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