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SCHULDEN/010: Eurokrise - Wie handlungsfähig sind die europäischen Staaten? (spw)


spw - Ausgabe 5/2011 - Heft 186
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Eurokrise - Wie handlungsfähig sind die europäischen Staaten?

Von Toralf Pusch


Die Finanzkrise hat quer durch Europa tiefe Spuren in den staatlichen Haushalten hinterlassen. Nicht nur sind die Schulden durch Banken-Rettungen und Konjunkturpakete deutlich gestiegen. Die Staaten selbst sind für ihre Politik ins Visier der Finanzmärkte geraten. Diese kennen kein Pardon und sprechen auch schon mal von "PIIGS" und "GIPSI-Ländern", oder etwas milder "Club Med"(1). Vielen Beobachtern scheint das Urteil der Finanzmärkte sogar gerecht; schließlich stehen "fleißige" und "sparsame" Nordeuropäer bzw. Deutsche besser da; gegen ihre Staaten wird bisher noch nicht spekuliert.

Wen mag es da noch wundern, dass die kurze Renaissance keynesianischer Krisenbekämpfung mittlerweile schon fast wieder vergessen scheint? Unmittelbar nach Ausbruch der Finanzkrise half aktive staatliche Ausgabenpolitik das Schlimmste zu verhindern. Inzwischen vertreten weite Bereiche der Wirtschaftspresse, aber auch Teile der politischen Elite in Deutschland eine ganz andere Meinung. Umgemünzt auf die aktuellen Probleme der Eurokrise wurde diese kürzlich durch den slowakischen Parlamentspräsidenten Richard Sulík folgendermaßen auf den Punkt gebracht: "Man kann Schulden nicht mit noch mehr Schulden bekämpfen." Was den Südeuropäern dann empfohlen wird, ist ein vor allem in Deutschland altbekanntes Rezept: sie sollten den Gürtel enger schnallen und kürzer treten. Das geht bei den Staatsausgaben los und endet bei den Löhnen, die zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit eher schnell als langsam sinken sollen. Deutschland hätte es schließlich nach 2000 vorgemacht.

Doch kann die Eurokrise damit schnell und effektiv eingedämmt werden? Einige Skepsis ist angebracht. Momentan hat die Eurozone mit einer Vielzahl unterschiedlicher Probleme gleichzeitig zu kämpfen. Dazu gehört auch das Auseinanderdriften der "schwächeren" und "stärkeren" Länder, beispielsweise gemessen an der preislichen Wettbewerbsfähigkeit und außenwirtschaftlichen Ungleichgewichten.(2) Trotzdem wäre es eine riskante Strategie, die Krise einseitig durch Spar- und Kürzungsrunden angehen zu wollen. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: In einigen Ländern muss es zu Anpassungen kommen. Dabei sollte aber das Wachstum nicht aus dem Blick geraten. Oder wie die bis vor kurzem amtierende französische Finanzministerin und jetzige IWF-Chefin Christine Lagarde einmal mit Blick auf Deutschland und den Rest der Eurozone treffend bemerkte: "It takes two to Tango." (Zum Tango tanzen gehören zwei.) Der Fokus in diesem Beitrag liegt auf dem Gegenpart, der in der aktuellen Debatte um die Eurokrise nur zu gern vergessen wird.


Wenn nicht die Märkte, wer soll es dann richten?

Die Bundesrepublik steht in der Eurokrise nach verbreiteter Sichtweise noch vergleichsweise gut da, obwohl auch hierzulande der staatliche Schuldenstand gemessen an der Wirtschaftsleistung um mehr als 25 Prozent nach oben geschnellt ist. Trotzdem kann sich Deutschland zur Zeit für ca. 2,3 Prozent Zinsen langfristig Geld an den Finanzmärkten leihen; verglichen mit den 4,3 Prozent noch unmittelbar vor der Finanzkrise erscheint das günstig. Hat Angela Merkel also erreicht, was sie im letzten Bundestagswahlkampf mit dem Leitspruch bewarb, Deutschland müsse "gestärkt aus der Krise hervorgehen"?

Aus einer national verengten Sichtweise könnte man wohl zu diesem Schluss kommen und einige Koalitionspolitiker sehen das wohl auch so. Tatsächlich steht aber für Europa insgesamt momentan sehr viel auf dem Spiel, und damit auch für Deutschland. Es geht um nicht weniger als das Fortbestehen der Eurozone. Für die außenwirtschaftlich stark verflochtene Bundesrepublik wäre es deshalb kurzsichtig darauf zu beharren, dass die Dinge bei uns so weit in Ordnung sind und nur die Anderen sich anpassen müssen. Auch die Bundesregierung scheint zu dem Schluss gekommen zu sein, dass die Krise eine europäische Dimension erreicht hat. Merkel und Schäuble bemühen sich trotz aller Kritik an ihrem Krisenmanagement mittlerweile redlich um eine Lösung zur Stabilisierung der Eurozone.

Kompliziert wird die Lage unter anderem dadurch, dass die Mitgliedsstaaten der Eurozone über keine eigenständige Geldpolitik mehr verfügen. Die Europäische Zentralbank konnte zwar mit ihren Anleihekäufen kurzfristig den Druck auf einige Mitgliedsstaaten lindern. Wegen Zweifel an der Reichweite ihres vertraglichen Mandats scheint sie dabei aber mittlerweile am Ende ihrer Möglichkeiten angekommen zu sein. Deswegen und weil EU-Vertragsänderungen sehr schwierig sind, konzentriert sich die Debatte seit einiger Zeit auf die Finanzpolitik in den Mitgliedsstaaten und der EU. Als ein Ergebnis wurde auf europäischer Ebene die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) auf den Weg gebraucht, um bedrohte Staaten und Banken zu stützen. Neudeutsch ist auch vom Rettungsschirm die Rede. Hierfür stehen nach der jüngsten Aufstockung effektiv 440 Mrd. Euro an gemeinsam garantierten Mitteln zur Verfügung, wobei momentan noch über eine Verstärkung der "Feuerkraft" diskutiert wird. Die Mittel könnten vervielfacht (gehebelt) werden, wenn auf Mechanismen der Finanzmärkte zurückgegriffen würde. Gerade vor dem Entstehungs-Hintergrund der Finanzkrise wäre eine Entscheidung für Finanzmarkt-Hebel allerdings sicher sehr weit gehend und nicht ohne politisches Risiko. Zumindest erforderte sie eine gute Abwägung von Chancen und Risiken.

Nicht zuletzt sollte aber vor dem Einsatz finanzieller Hebel vor allem Eines stimmen: die richtige Krisendiagnose. Und daran hapert es momentan. Regierungen und europäische Institutionen sehen die Ursache der Eurokrise vor allem in der unsoliden Haushaltspolitik und weiteren politischen Versäumnissen der betroffenen Länder. Diese Einschätzung liegt den bisher beschlossenen Reformen der wirtschaftspolitischen Governance in der Eurozone zugrunde.(3) Sie stellt daher den Ausgangspunkt für politische Maßnahmen von Seiten der EU dar. Das betrifft sowohl die EFSF als auch ihren bisher noch nicht gesetzlich verankerten Nachfolger, den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Finanzpolitische Überbrückungshilfen aus diesen Töpfen sollen deshalb Gegenstand von Bedingungen sein, die auf Haushaltsdisziplin und "Strukturreformen" abzielen. Letztere sind eine ökonomische Chiffre für Einschnitte ins soziale Netz wie beispielsweise Arbeitsmarktflexibilisierung und sozialpolitische Kürzungen.

In die gleiche Richtung wie die Auflagen von EFSF und ESM geht übrigens der dieses Jahr beschlossene Europlus-Pakt, der den Anpassungsdruck zur Haushaltskonsolidierung und Strukturreformen auf die schwächeren Euroländer erhöhen soll. Daneben wurde auf den jüngsten EU-Gipfeln über den Export der deutschen Schuldenbremse in andere Mitgliedsländer der Eurozone diskutiert. Die nächsten Jahre scheinen also in Europa insgesamt unter dem Zeichen von Haushaltskürzungen und Strukturreformen zu stehen. Institutionell wird auf diese Weise ein rigideres Korsett für die europäische Wirtschaftspolitik geschneidert. Wirklichen politischen Handlungsspielraum werden unter den genannten Bedingungen voraussichtlich nur noch die stärkeren unter den Euroländern haben; und überzeugende Werkzeuge gegen eine mögliche nochmalige Verschärfung der Eurokrise fehlen in diesem Szenario.


Änderungsbedarf bei der Krisendiagnose

Tatsächlich gibt es bei der europäischen Krisendiagnose einigen Änderungsbedarf, um EFSF und ESM zum Erfolg zu führen und die Eurozone zu stabilisieren. Nicht nur aus den Augen aufgeklärterer Vertreter des Finanzmarktes wie George Soros leidet Europa momentan unter einer massiven Krise des Vertrauens in die Problemlösungsfähigkeit seiner Mitgliedsländer und Institutionen. Sichtbarster Ausdruck dessen ist die Spekulation gegen die südlichen Mitglieder und Irland; es schließt aber ausdrücklich auch den gemeinsamen politischen Umgang mit diesen Entwicklungen ein.(4) Das entscheidende Problem dabei ist: Solange es die Mitgliedsstaaten öffentlich immer wieder an dem Willen fehlen lassen, problematische Entwicklungen im Bedarfsfall gemeinsam anzupacken, werden die Finanzmärkte weiter verunsichert reagieren und den schwächeren Ländern noch mehr Vertrauen entziehen. Kapitalabfluss und Wachstumseinbruch sind die Folge. Auf Dauer können die stärkeren Euroländer den Schwarzen Peter aber nicht weiterreichen. Denn von den negativen Ausstrahlungseffekten eines Vertrauensentzugs können mittelfristig auch sie getroffen werden.

Man muss gar nicht lange nach Beispielen für nationale Egoismen suchen, die einer Lösung der Eurokrise entgegenstehen. Das jüngste Ereignis gab es im Umfeld der EFSF-Verabschiedung in der Slowakei Mitte Oktober 2011. Dabei ist weniger das Verhalten der neoliberalen Partei rund um Richard Sulík hervorzuheben. Weit wichtiger für die Eurozone waren Nachrichten aus Berlin, dass das EFSF-Geld nur im Ausnahmefall und wenn wirklich gar nichts anderes mehr ginge zur Stabilisierung geschwächter Banken zur Verfügung stehe. Zunächst sollten sich die Banken selbst und in einem zweiten Schritt deren Heimatländer um mehr Kapital bemühen. Vordergründig erscheint das aus deutscher Sicht formidabel: Weitere große Bankenrettungen in anderen Mitgliedsländern sollen nach Möglichkeit zunächst dort verhandelt werden. Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, was für ein Risiko mit dieser Strategie verbunden ist. Denn das größte Manko, das in den vergangenen Monaten immer wieder von Kritikern des europäischen Krisenmanagements hervorgehoben wurde, ist dessen Langsamkeit. Und genau diese Langsamkeit soll nach dem (vorläufigen) Willen der Bundesregierung für die EFSF zementiert werden.

Eine zentrale Lektion der vergangen Monate wurde also scheinbar verpasst: Europa kann es sich nicht mehr leisten, weiter auf Zeit zu spielen. Langwierige nationale Versuche zur Stabilisierung der Banken werden die Risikoprämien für die davon betroffenen Länder aller Voraussicht nach weiter nach oben treiben (schaffen sie's? schaffen sie's nicht?). Während die Staatsverschuldung unter sonst gleichen Bedingungen so immer teurer wird, wartet Europa ab und lässt wertvolle Zeit verstreichen. Das damit verbundene Negativszenario ist eine Kettenreaktion von Länder-Herabstufungen der Rating-Agenturen, Kapitalberichtigungen der Banken quer durch Euroland und weiteren Vertrauensverlusten, bis schließlich selbst die stärkeren Euroländer von Rating-Abstufung und Spekulationsattacken getroffen werden. Das Risiko des politischen Taktierens ist der Zerfall der Eurozone.


Der Staat ist noch handlungsfähig, wenn Europa zusammensteht

Europa bindet sich also momentan die Hände, finanzpolitisch gesehen. Das wiegt umso schwerer, weil auch die beiden größten noch solventen Mitgliedsländer im Grunde ähnlich verfahren. Als finanzkräftigstes Mitgliedsland hat Deutschland beispielsweise zwar wie einige andere Länder ein gutes Rating (AAA) und ist nicht auf fremde Hilfe angewiesen, zögert aber dieses politische Kapital auch einzusetzen. Das Fatale dabei ist, dass die zögerliche deutsche Politik in einer sehr fragilen Situation nicht zur Risikobegrenzung beiträgt, sondern selbst zum Risiko wird. Natürlich ist die deutsche Langsamkeit nicht ohne Grund. Neben der oben beschriebenen theoretischen Fixierung, nach der die Probleme vor allem bei den Defizitländern zu suchen sind, folgt die deutsche Haushaltspolitik den Erfordernissen der Schuldenbremse, die seit Anfang 2009 im Grundgesetz steht. Frankreich als zweitgrößtes Euroland mit einem AAA-Rating muss angesichts seiner Bankenrisiken momentan um sein eigenes gutes Rating fürchten und sucht daher eine enge Abstimmung mit Deutschland. Von Frankreich sind deswegen im Fall des Falles kaum konjunkturpolitische Alleingänge zu erwarten.

Unter diesen Umständen droht Europa ein Negativszenario. Sollten sich die dunklen Wolken am europäischen Konjunkturhimmel weiter verdichten, und hierfür spricht momentan Einiges, könnte schnell ein Punkt erreicht werden an dem ein Abwärtstrend nur noch äußerst schwer zu kontrollieren ist. Bei sich verfestigenden negativen Erwartungen in der Wirtschaft könnten die Südländer konjunkturpolitisch nicht mehr gegensteuern. Auch die Europäische Zentralbank hat in der aktuellen Situation ihr Pulver weitgehend verschossen. Ihre Staatsanleihen-Käufe sind rechtlich umstritten und der verbleibende Zinssenkungs-Spielraum bis zur Nullgrenze beträgt nur 1,5 Prozentpunkte. Das wird kaum ausreichen, um in einer ernsthaften Krisensituation deutlich gegenzusteuern.

Ein drohendes Negativszenario in Europa heißt nun aber nicht, die Lage sei aussichtslos. Im Prinzip könnten beispielsweise die Euroländer bei einer starken Eintrübung der wirtschaftlichen Aussichten miteinander übereinkommen, einen gezielten finanzpolitischen Impuls zu setzen, wie das im Jahr 2009 nach der Lehman-Pleite geschah. In Deutschland wurde beispielsweise ein Konjunkturpaket aufgelegt, das unter anderem die Abwrackprämie und Infrastrukturinvestitionen umfasste. Auf diese Weise könnten Einkommen und Erwartungen stabilisiert und sogar wieder angeregt werden. Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang von einem positiven Multiplikator, denn jeder Euro an staatlichen Ausgaben schafft ein mehr an Wirtschaftsleistung. Der Multiplikator wird vor allem mit dem Namen Keynes in Verbindung gebracht, der diesen als einer der ersten ausformuliert hat. Von der Wirksamkeit des Multiplikators gehen die meisten Ökonomen aus; die Experten streiten im Wesentlichen über Dauer und Größe der Effekte. Dabei gilt in der Tendenz: je größer die Wirtschaftskraft eines Landes (je größer der Binnenmarkt), desto größer fällt der Multiplikator aus.(5)


Blaue Bonds und "ESBies"

Für einen finanzpolitischen Impuls zur Krisenbekämpfung gibt es im Grunde zwei mögliche Szenarien. Erstens könnten sich die Länder mit einem guten Rating dafür entscheiden (Deutschland, Frankreich, Österreich, die Niederlande, Finnland). Das entspricht in etwa der Lösung von 2009 und ist heute vermutlich weniger realistisch, weil von vornherein weniger Länder mitziehen könnten. Insgesamt wäre deswegen ein geringerer Multiplikator-Effekt zu erwarten, da die grenzüberschreitenden Auswirkungen staatlicher Güterkäufe geringer ausfielen. Beispielsweise könnte in Deutschland nicht mit einer verstärkten Güternachfrage aus Spanien gerechnet werden. Zwar käme ein Stimulus umgekehrt auch den schwächeren Euro-Ländern zugute, die stärkeren Länder könnten sich aber wegen eines aus ihrer Sicht zu geringen Nettoeffekts dagegen entscheiden. Auch steht dieser Lösung scheinbar die Erfahrung seit 2009 entgegen, nach der bis auf wenige Ausnahmen ein Land nach dem anderen in den Fokus der Rating-Agenturen geraten ist. Kritik an den Rating-Agenturen, diese würden sich widersprüchlich verhalten und hohe Schulden wie schlechtes Wachstum gleichermaßen abstrafen, nützt wenig. Bis auf Weiteres müssen die Mitgliedsländer wohl mit dieser Situation leben. Und da gerade Frankreich momentan um sein gutes Rating bangen muss, könnte das Risiko einer aktiven Finanzpolitik aus französischer Sicht zu hoch erscheinen.

Die zweite Möglichkeit für eine erfolgreiche Krisen-Intervention besteht darin, dass sich die Euroländer insgesamt zu einem neuen Arrangement zusammenfinden und Teile Ihrer Schulden dauerhaft gemeinsam verbürgen. Als Ergebnis würden so genannte Eurobonds mit einem einheitlichen Zins herausgegeben. (So genannte Bonds sind langfristige Staatspapiere wie beispielsweise Bundesschatzbriefe und stellen eine übliche Finanzierungsform für die Staatsverschuldung dar.) Das ist zwar an sich noch kein fiskalpolitischer Impuls. Gelänge es aber, mittels Eurobonds oder vergleichbarer Neuerungen die Finanzierungskosten der Staaten effektiv zu drücken, könnte den Mitgliedsstaaten eine aktive Finanzpolitik im Krisenfall leichter fallen. Derartige Lösungen werden derzeit in den europäischen Institutionen und auch in der Wissenschaft diskutiert. Für Eurobonds gibt es verschiedene Modelle, von denen hier eines kurz vorgestellt werden soll. Der Vorschlag stammt von Delpla und Weizsäcker und sieht einen maximalen Anteil von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung an europäisch verbürgter Verschuldung für die Mitgliedsstaaten vor.(6)

Der Vorteil dieser so genannten "Blauen Bonds" wäre, dass sie einen attraktiven Anlagegegenstand für internationale Investoren bieten würden. Eine geeignete institutionelle Ausgestaltung vorausgesetzt, könnte so der Spekulation auf den Märkten effektiv der Wind aus den Segeln genommen werden. Die Eurostaaten würden den Vorteil eines vergleichsweise günstigen Zinses für große Teile ihrer Staatsschulden erlangen. Im Falle Deutschlands und Frankreichs würde dies gut 2/3 des Schuldenstands betreffen. Delpla und Weizsäcker haben außerdem eine Reihe institutioneller Regeln vorgeschlagen, um eine vorsichtige Haushaltspolitik in den Mitgliedsstaaten durch die Verfügbarkeit einer günstigen Verschuldungsmöglichkeit nicht zu unterminieren. Den wichtigsten Anreiz für eine Begrenzung der Staatsschuld stellen dabei übrigens die Finanzmärkte bereit, denn für den nicht europäisch garantierten national verbürgten Anteil der Schulden wären voraussichtlich deutlich höhere Zinsen zu erwarten als für die Blauen Bonds. Das ergibt sich allein schon aus dem größeren Ausfallrisiko und der geringeren Marktgröße für diese Papiere.

Ein weiterer Vorschlag wurde jüngst von einer Gruppe europäischer Ökonomen (Euronomics) in die Diskussion gebracht. Es handelt sich um so genannte Europäische Sichere Bonds (ESBies), die von einer Europäischen Schuldenagentur herausgegeben werden sollen.(7) Dabei handelt es sich zwar streng genommen nicht um Eurobonds, da die Schuldenagentur Schuldentitel der Mitgliedsstaaten auf dem Sekundärmarkt erwerben soll, um die daraus resultierenden Zahlungsverpflichtungen dann zu sicheren ESBies zu bündeln und an die Finanzmärkte weiter zu reichen. Der Vorschlag weist aber einige Ähnlichkeiten mit Eurobonds auf. Wie bei den oben beschriebenen Blauen Bonds basiert das Modell auf einer Aufteilung der europäischen Staatsverschuldung in eine vergleichsweise sichere Tranche, die ESBies, und einen Anteil der Staatsverschuldung, der im Falle des Zahlungsausfall nur einen Junior-Status hätte, also nachrangig bedient würde. Wie auch Eurobonds stellen ESBies an sich keinen finanzpolitischen Impuls dar. Man kann aber davon ausgehen, dass die Europäische Schuldenagentur als großer Nachfrager einzelstaatlicher Bonds die Zinsen tendenziell drücken und so eine aktive Finanzpolitik erleichtern würde.

Daneben umfasst der Euronomics-Vorschlag aber auch eine veränderte Regulierung in Bezug auf die Repo-Politik der Europäischen Zentralbank. Die EZB sollte in ihren Refinanzierungsgeschäften mit den Banken nur noch ESBies als abschlagsfreie Sicherheiten akzeptieren und so den Banken einen Anreiz zur Reduzierung ihrer Risikostruktur bieten. In der Tat würden so gleichsam zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, da die Bankenrisiken eine der Ursachen der Eurokrise darstellen. Allerdings ließe sich auch der erstgenannte Vorschlag in diese Richtung weiterentwickeln. Der große Vorteil der ESBies ist aber nach dem Dafürhalten ihrer Entwickler, dass die institutionelle Umsetzung im Gegensatz zu Eurobonds keine Änderung der europäischen Verträge erfordern würde.


Die EU verträgt keinen dauerhaften Krisenmodus

Mit oder ohne neue Möglichkeiten zur effektiven Krisenbekämpfung hat die Eurokrise sehr deutlich die mangelhaften politischen Steuerungsmöglichkeiten der Eurozone offenbart. Das europäische System der intergouvernementalen Entscheidungsfindung mit fallweisen Abstimmungen im EU-Rat und Ministerrat und vielfachen Vetomöglichkeiten wurde effektiv an seine Grenzen gebracht. Für die Zukunft wäre es zu wünschen, dass in Europa eine demokratisch legitimierte wirtschaftspolitische Governance verwirklicht wird. Es dürfte klar sein, dass die Entscheidungsfindung im Krisenmodus auf die Dauer in eine Sackgasse führt; die slowakische Abstimmung über den EFSF-Rettungsschirm ist Warnung genug. Die Möglichkeit zur Entwicklung einer europäischen Demokratie, die ihren Namen auch verdient und über zentrale Anliegen der wirtschaftlichen Entwicklungen in der Eurozone zu entscheiden hätte, sollte daher ernsthaft in Betracht gezogen werden. Dies könnte in der Tat in einer europäischen Regierung münden, die ähnlich wie in den Mitgliedsstaaten von EU-Bürgern gewählt wird.(8)

Dr. Toralf Pusch ist Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH).



ANMERKUNGEN

(1) Finanz-Journalisten schrieben bis vor Kurzem tatsächlich von "Schweine-Staaten".

(2) Siehe: "Ein neuer Stabilitätspakt für den Euro", Till van Treeck, spw 178

(3) Siehe: "Stichwort Wirtschaftspolitik: Wirtschaftspolitische Koordinierung in der EU", Arne Heise, spw 182.

(4) Siehe: "Europa auf gefährlichem Terrain", Beitrag von George Soros am 12. Oktober 2011, online einsehbar unter:
http://www.project-syndicate.org/ commentary/soros73/German.

(5) Für einen empirischen Überblick über finanzpolitische Multiplikatoren in der EU siehe: Pusch, Toralf; Rannenberg, A.: "Fiscal Spending Multiplier Calculations based on Input-Output Tables - with an Application to EU Members", IWH Diskussionspapier 1/2011.

(6) Siehe: J. Delpla, J. von Weizsäcker (2010): "The Blue Bond Proposal", Bruegel Policy Brief 03/2010, Brüssel.

(7) Dieser Vorschlag kann auf der Webseite http://euronomics.com/esbies/ in englischer Sprache abgerufen werden.

(8) Vorstellungen hierfür gibt es bereits: S. Collignon (2008), "Why Europe is not becoming the world's most competitive economy. The Lisbon Strategy, Macroeconomic Stability and the Dilemma of Governance without Governments", International Journal Of Public Policy, Vol. 3.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2011, Heft 186, Seite 38-43
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. November 2011